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Lesetipp

zu Ute Bales‘ neuem Roman „Am Kornsand“

Von Sylvia Schmieder

 

In dem Roman „Am Kornsand“ schildert Ute Bales unbestechlich und einfühlsam die Auswirkungen von Erziehung und Gesellschaft auf nachfolgende Generationen.
„Die Geschichte fängt an, lange bevor Helga geboren wird, und sie hat kein Ende. Sie fängt auch nicht mit Helgas Eltern an, eher mit den Großeltern, aber das ist ungewiss. Jedenfalls fußt die Geschichte auf einem ganzen Jahrhundert (…)“
Der Einstieg, eine Art Prolog, hat mich gleich für diesen Roman gewonnen. Sensibel und mit geschicktem Spannungsaufbau wird die Hauptfigur Helga beim Namen genannt und doch noch nicht wirklich eingeführt. Dafür klingt schon das Hauptthema des Romans an: die Auswirkungen von Erziehung und Gesellschaft allgemein, von Kriegstraumata im Besonderen auf nachfolgende Generationen. Der Roman basiert auf genau recherchierten, wahren Ereignissen, wenn die Figur Helgas und ihre Erfahrungen wohl auch frei gestaltet wurden.
In den folgenden Abschnitten des Prologs zeichnet Ute Bales mit kräftigen, präzisen Strichen das Panorama des gerade endenden Zweiten Weltkriegs, und zwar von einem ganz bestimmten Ort aus: ein Stück Rheinufer bei Nierstein, genannt „Am Kornsand“. Hier wurden im März 1945, wenige Stunden vor dem Eintreffen der Amerikaner, sechs wehrlose Zivilisten auf Befehl von zwei Vorgesetzten der Wehrmacht durch Genickschuss getötet – ohne jede Untersuchung, nur weil sie ihnen irgendwie suspekt waren. Der Mörder war ein Achtzehnjähriger: Helgas Vater Hans. Er hätte sich weigern können, mehrere Kameraden haben das getan. Er aber hielt die Liquidierung für logisch und moralisch richtig.
Hans wurde nach dem Krieg zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt und nach sechs Jahren vorzeitig entlassen. Helga, seine Tochter, erfährt von alldem lange nichts – und bekommt doch zu spüren, dass mit dem Vater, der Familie, ja im Grunde der ganzen Umgebung etwas nicht stimmt. Sie hat Albträume. Wegen eines unheilbaren Hautausschlags kommt sie in ein „Verschickungsheim“, das in seinen sinnlosen, kalten Regeln noch ganz in den alten Erziehungsmethoden erstarrt ist. Endlich wieder zuhause, darf sie nichts Negatives erzählen, sich nicht beklagen. Dass ihr Hautausschlag noch immer nicht verheilt, wird als bösartiger Trotz gedeutet. Sie nehme sich zu wichtig, heißt es.
Parallel zu Helgas Geschichte wird die Jugend ihres Vaters Hans geschildert. Er lässt sich von den Nationalsozialisten faszinieren, weil sie seinen Tagen Struktur und Ziel geben, ihm über pubertäre Selbstzweifel hinweghelfen. Der absolute Befehlsgehorsam wird zu einer Art Ersatzreligion. Ute Bales ist eine unbestechliche Erzählerin. Sie hat den Mut, harte Realitäten, auch die Schwächen und unsympathischen Züge ihrer Charaktere schonungslos darzustellen, ohne sie zu dämonisieren. Wirklich warm bin ich mit Hans deshalb lange nicht geworden. Gegen Romanende aber, in der Schilderung von Prozess und Haft, taucht die Erzählung in tiefe Schichten der Einfühlung. Der noch immer sehr junge Mann ist ganz und gar verunsichert. Seine Einsamkeit, die hilflosen Sehnsuchtsbilder, viel innere Leere, Scham und Angst werden unmittelbar geschildert, und plötzlich ist klar, warum er all diese Erfahrungen später nicht mitteilen konnte. So wird sich Helga aus eigener Kraft von all dem Unsagbaren ihrer Jugend befreien müssen.

 

 

 

 


 


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