Literatur und Sachbuch
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»Osten« Hubertus Becker

 

3.3 Indien

 

Zu Jahrckung mit und wir beschlossen, die beiden anzusprechen, sobald wir durch den Zoll wären. Bei der Gepäckausgabe hoben sie Trekkingrucksäcke

Im Hurricane-Reisebüro an der Leopoldstraße bestellte ich die Tickets. Weil Wacki Asien noch nicht kannte, buchte ich einen Flug, der touristische Aspekte berücksichtigte: Zürich – Bombay – Bangkok – Taipeh – Tokio – Honolulu – San Francisco. An jedem dieser Orte wollten wir Station machen und ein paar Tage bleiben. Wir nahmen den Zug nach Zürich und checkten dort bei der Swissair ein, die uns direkt nach Bombay brachte. Wir überflogen den Balkan, die Türkei und Syrien; über Kuweit und den Persischen Golf erreichten wir den Indischen Ozean und steuerten auf Bombay zu.
Über der Metropole hingen wie immer gewaltige Kumulus-Wolken, in die wir im Landeanflug eintauchten. Die riesige DC10, seinerzeit nach dem Jumbo das zweitgrößte Verkehrsflugzeug, rollte auf die angewiesene Parkposition und eine mobile Fluggasttreppe wurde angedockt, über die Passagiere damals an den meisten Flughäfen von Bord gingen. Als sich die Türen der Maschine öffneten, stand da wieder diese indische Wand aus sengend heißer Luft vor uns. Die wenigen Minuten zu Fuß vom Flugzeug zur Ankunftshalle genügten, um uns den Schweiß aus den Poren zu treiben.
»Ich hoffe, die haben eine Dusche im Hotel«, fasste mein Reisegefährte seinen ersten Eindruck zusammen.
»Keine Sorge. Wir steigen zwar nicht im Sheraton ab, aber Wasser gibt es auch in indischen Hotels.«
Wir ließen uns vom Taxifahrer zu einem Hotel bringen, welches mir auf der letzten Reise ein Amerikaner empfohlen hatte. Den Namen der Herberge habe ich vergessen, es handelte sich um eine zum Hotel umfunktionierte englische Kolonialvilla aus dem 19. Jahrhundert. Sobald das Taxi in die Einfahrt bog, strömten uns die Hotelangestellten entgegen, die im Schatten hoher Büsche auf Kundschaft harrten. Die jungen Männer nahmen uns das Gepäck ab und führten uns in die Lobby. Nachdem wir die Anmeldeformulare ausgefüllt hatten, geleiteten sie uns in den zweiten Stock, wo das Doppelzimmer mit Blick auf den Hafen lag, das man uns aufgeschwatzt hatte. Da der Aufzug nicht funktionierte, nahmen wir die Treppe. Unser »Doppelzimmer« bestand aus einem geräumigen ehemaligen Esszimmer, einem ebenso großzügigen Schlafzimmer mit zwei Doppelbetten und einem Bad, anderenorts hätte man gesagt eine Suite, wäre das alles nicht in einem so bedauernswerten Zustand gewesen. Alle Räume waren untermöbliert, aber immerhin hingen Ventilatoren unter den Decken, die einen angenehmen Luftzug erzeugten. Als Wacki ins Bad trat, stellte er fest, dass kein Wasser aus den Hähnen kam.
»Was ist das denn?«, beklagte er sich bei einem der Männer, die unsere Koffer hinaufgetragen hatten. »No water?«
»No water«, sagte der Mann lachend, indem er auf indische Weise mit dem Kopf wackelte. »No problem Sir, water coming later.«
Wir verstanden ihn zwar nicht, fügten uns zunächst aber in den Wassermangel. Bombay war eben nicht Frankfurt, da musste man zuweilen Abstriche hinnehmen. Oder, um es einmal mit dem Weltschriftsteller Altmann zu sagen: Niemand wird schneller bescheiden als ein Reisender.
»Hast du das gehört?«, fragte Wacki. »Der hat ›Sir‹ zu mir gesagt.«
»Was soll er denn sonst sagen? Indien war fast zweihundert Jahre von den Engländern unterdrückt, und die haben den Jungs hier beigebracht, den weißen Mann mit ›Sir‹ oder ›Sahib‹ anzusprechen.«
»Dass hier mal die Engländer waren, weiß ich selber«, maulte er beleidigt. »Aber die sind doch mittlerweile wieder fort. Da könnten die Inder doch langsam mit uns gleichziehen, ich meine, auf Augenhöhe kommen.«
»Wart’s ab. Die spielen schon noch ihre Rolle. Atombomben haben sie angeblich jetzt schon«, belehrte ich meinen Kumpel weiter. »Außerdem: Wer sagt denn, dass die Inder nicht längst mit uns Europäern mithalten können? Auf kulturellem und spirituellem Gebiet allemal.«
»Insbesondere was die Drogenkultur anbelangt«, grinste Wacki und würgte eine Lektion in indischer Kulturgeschichte ab, die er wohl von mir befürchtet hatte. Dabei kannte ich mich in der indischen Kultur ebenso wenig aus wie er. Was wusste ich damals schon über Indien, über seine Geschichte, seine Kultur, seine Gesellschaftsordnung? Nicht gerade viel, um nicht zu sagen nada. Und ich war mir auch nicht sicher, inwieweit ich mich auf das Land und die Leute einlassen wollte. Wir waren nach Indien gekommen, um ein paar Tage lang Opium zu rauchen, um Rashid und die Schwester meines Münchener Freundes Glenn zu besuchen, um Menschen und ihre Geschichten kennenzulernen. Falls uns darüber hinaus noch Zeit blieb, wollten wir die Stadt besichtigen und das damals in Europa noch weitgehend unbekannte indische Essen probieren. Rashids Einverständnis vorausgesetzt, wollte ich ein paar gute Fotos in der Opiumhöhle machen, ein Ort, zu dem nicht jeder Tourist und erst recht nicht jeder Reisejournalist Zugang fand. Außerdem hatten wir beschlossen, uns mit Rashid die Slums anzusehen, die zu den elendesten der Welt zählen sollten, falls er den Nerv dazu hatte.

Da ich darauf bestand, das Wasserproblem im Bad sofort zu beheben, organisierte der Oberkofferträger eine Kolonne von zehn Burschen, die sich daran machten, aus einem in der Nachbarschaft gelegenen Brunnen eimerweise Wasser herbeizuschleppen und damit die Wanne zu füllen. Das heißt, ehe sie gefüllt werden konnte, musste sie gereinigt und ein Stöpsel gefunden werden. Die Burschen schleppten also Eimer um Eimer die Treppe hoch, und weil sich vor dem Badezimmer ein kleiner Stau bildete, beschloss einer der Jungs, den schweren Wassereimer kurz auf dem Bett abzustellen. Das Unvermeidliche geschah, der Eimer kippte, und zehn Liter Wasser fluteten Laken und Matratze.
Ich war geneigt, mich aufzuregen, beließ es jedoch bei mildem Kopfschütteln, als ich die schuldbewusste Miene des jungen Mannes sah. Er hatte es gut gemeint, hatte den vollen Eimer die Treppe hoch geschleppt und dafür wahrscheinlich eine Münze erwartet oder wenigstens ein Lob. Ihm fehlte einfach das Alltagswissen, dass man einen Eimer Wasser nicht so ohne weiteres auf eine weiche Matratze stellen kann. Wahrscheinlich hatte er noch nie auf einer Matratze geschlafen, woher sollte er also wissen, wie Matratzen auf volle Wassereimer reagieren? Das Malheur war geschehen, der Schaden konnte aber behoben werden.
Lachend zogen die Boys das nasse Laken ab, schleppten eine andere Matratze herbei, und zehn Minuten später war alles erledigt: Die Badewanne war gefüllt, die Betten frisch bezogen, das Zimmer geputzt. Wacki gab ihnen ein paar Rupien, dann zogen sie ab, und wir richteten uns ein.
Ich erwähne diese kleine Geschichte deshalb, weil sie meines Erachtens typisch für das damalige Indien war. Gerade bei der praktischen Umsetzung von Dingen, die nicht zur alltäglichen Routine gehörten, hatten viele Inder ihre Probleme. Andererseits regte sich niemand über Missgeschicke auf, und es wäre ihnen nie eingefallen, sich darüber gar zu streiten. Wir hatten es einfach mit einer anderen Kultur zu tun, mit anderen sozialen Strukturen, anderen gedanklichen Zugängen und einer von der europäischen völlig verschiedenen Lebenserfahrung. Man konnte Indien nicht nach unseren Maßstäben beurteilen. Sollte der Begriff des Kulturschocks für uns Europäer je seine Berechtigung gehabt haben, dann hier, angesichts unserer Ratlosigkeit bei der Einordnung all der Verhaltensweisen und Phänomene, die man damals in Indien beobachten konnte.

Der erste Weg in Bombay führte uns in die Opiumhöhle. Rashid, der mich längst zu den Stammgästen zählte, hieß meinen Kumpel willkommen und bot uns den Platz vor dem Balkon an. Wacki, der zuvor noch nie Opium geraucht hatte, empfand den Rausch noch besser als den der strengen Schwester Heroin. Wir hätten in ­Rashids Etablissement übernachtet, hätte der uns gegen vier Uhr in der Früh nicht sanft hinauskomplimentiert. Bloß um am Nachmittag wieder unter den ersten Gästen zu sein. Von der Stadt sahen wir nicht viel, denn die meiste Zeit lagen wir bei Rashid auf dem Teppich und ließen uns Pfeifen stopfen, bis wir in unseren Träumen versanken.
Nachdem Rashid herausgefunden hatte, dass es für meinen Freund die erste Indienreise war, fühlte er sich verpflichtet, ihm ein wenig über sein Land zu erzählen, als Moslem, der er war, natürlich durch die mohammedanische Brille. Hindus und Moslems hatten nicht die besten Beziehungen damals, irgendwer hetzte sie gegeneinander auf.
Rashid versuchte, uns das Kastenwesen zu erklären, welches die Menschen in vier Kategorien einteilt: in Priester und Lehrer, in Krieger und Soldaten, in Händler und Bauern, in Arbeiter und Tagelöhner. Die sogenannten Parias, die Unberührbaren stehen an unterster Stelle. Deren einzige Pflicht ist es, zu gehorchen und zu dienen. Mahatma Gandhi nannte sie liebevoll Harijan (Kinder Gottes).
Wie passte das alles mit den Menschenrechten zusammen, an die wir glaubten? Wie mit Demokratie, mit dem Streben des Menschen nach Freiheit, sozialer Anerkennung und Glück? Hier fängt es für einen Westler an, kompliziert zu werden. Was hat man unter Unberührbarkeit zu verstehen? Handelt es sich um eine Art Apartheid? Eine religiöse Diskriminierung, die uns aus der katholischen Kirche nicht unbekannt war?
Auch wenn Rashid, der als Moslem keiner Kaste angehörte, sich Mühe gab, uns diesen Wahnsinn zu erklären – nachvollziehen konnten wir dieses System nicht. Gewiss waren die Hippies, die in Indien eine Nische für ihre libertäre Lebensweise gefunden hatten, blauäugig, wenn sie nach der Rückkehr von dem Land schwärmten und jeden auf Ibiza oder in München mit »Namaste« begrüßten, ganz so, als seien sie persönliche Emissäre des verstorbenen Mahatma Ghandi und dazu bestimmt, der westlichen Kultur den Weg zu weisen. Es gab sicher viel Bewundernswertes in Indien, aber auch ebenso viel Wahnsinn, wie eben dieses Kastenwesen, das Millionen von Menschen von vorneherein keine ­Chance einräumte. Zumal jeder Inder (und jede Inderin) durch Namen und Hautfarbe verraten, welcher jeweiligen Kaste sie angehören. Jeder Hindu lebt mit dieser Fessel in einer klar definierten Ordnung festgelegter Normen und Tabus, was im Einzelnen so weit geht, dass es Vorschriften darüber gibt, was man essen und nicht essen, was man anziehen und nicht anziehen darf, mit wem man seine Zeit verbringen, ein Lokal besuchen und wen man lieben oder nicht lieben darf, all diese persönlichen Angelegenheiten sind genau geregelt. Und weil die Hindus unter den Indern, bei weitem die größte Bevölkerungsgruppe, sich schicksalhaft in diese Vorgaben fügen, die letztlich wie bei den meisten Religionen, ein ausgeklügeltes System der Machtausübung darstellen, hat es die aufgeklärte Mittelschicht so schwer, Änderungen einzuleiten. Die Kaste bestimmt das Schicksal eines jeden Hindu von Geburt an, so war es die letzten 3.000 Jahre. Der Hindu glaubt, es hänge vom jetzigen Leben ab, in welche Kaste er bei der Wiedergeburt zur Welt kommen wird. Je besser und gottgefälliger man lebt, desto höher ist die Kaste, in die er im nächsten Leben hineingeboren wird. Womit wir beim nächsten Irrglauben angekommen wären, was mir den eleganten Ausstieg aus diesem Exkurs ermöglicht. Rashid versprach, uns mit einem Mann bekannt zu machen, der uns mehr zu Indien und seiner Gesellschaft erzählen könne.

 

 

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