Literatur und Sachbuch
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»Norden« Hubertus Becker

 

4.1 San Francisco

 

Joey kam nicht zum Flughafen von Miami, um uns abzuholen, wenngleich er einen weißen Cadillac besaß, den er auf Handbetrieb hatte umrüsten lassen, das heißt, Gas und Bremse betätigte er von Hand, das Getriebe schaltete automatisch. Allerdings ist Autofahren für einen Rollstuhlfahrer immer mit einem Mehraufwand verbunden, sodass Joey zuweilen keine Lust verspürte, selbst zu fahren. Wenn er dennoch fuhr, rollte er neben die Tür und hievte sich auf den Fahrersitz, faltete dann mit der Linken den Stuhl zusammen und schob ihn hinter seine Rückenlehne. Das erforderte einige Kraftanstrengung, die er jedoch souverän meisterte. Seine Arme konnten es mit jedem Preisboxer aufnehmen, es war, als sei die Kraft aus den Beinen hinauf in die Arme gewandert. Aber heute kam er nicht zum Flughafen.
Nora und ich mieteten ein Cabrio und machten uns bei sonnigem Wetter auf den Weg nach Lauderdale. Der Kontakt zu Penny, der Indianerin, war abgerissen. Auf mehrere Ansichtskarten aus Asien und einen Brief aus Bali hatte sie nicht geantwortet. Sie gehörte offenbar zu denjenigen, die nur den direkten Kontakt zu ihren Mitmenschen pflegen, war man nicht anwesend, war man so gut wie nicht mehr existent. Nun ja, tröstete ich mich, Ansichtskarten gehörten schließlich nie zur Tradition der Indianer, wahrscheinlich ist das heute immer noch so. Ich habe Penny ihr Schweigen nicht verübelt, aber wenn Freunde schweigen, vergrößert sich zwangsläufig die Herzensdistanz. So beschloss ich, sie nicht zu besuchen, zumal ich nicht wusste, ob sie noch mit ihrem eifersüchtigen Outlaw Arnie zusammenlebte. Hangman war seit zwei Jahren tot und ich wusste nicht, wer jetzt in dessen Haus lebte. Zudem hatten Nora und ich nicht vor, lange in Florida zu bleiben. Ich hatte Lisa versprochen, bald zurück auf Hawaii zu sein.
Joey und Sunny empfingen uns mit Champagner und boten uns an, das Gästezimmer zu beziehen. Nichts kam mir mehr gelegen, denn ich fühlte, ihre Gastfreundschaft kam von Herzen. Nora erging es ähnlich, obwohl sie die beiden bis dahin noch nicht kannte, sah ich ihr an, dass sie sich im Haus der Bleichgesichter wohl fühlte. Das war kein Selbstläufer. Wenn weiße und schwarze Amerikaner sich kennenlernten, checkten sie zunächst ab, ob die Chemie stimmte, und zwar unter dem Gesichtspunkt rassistischer Vorbehalte. Von beiden, den Schwarzen wie den Weißen, erforderte es (besonders in den Südstaaten) eine gewisse Zivilcourage, den anderen bei sich daheim willkommen zu heißen. Wer sich sorgte, was die Nachbarn wohl dachten, der lebte stressfreier, wenn er keinen Gast anderer Hautfarbe zu sich nach Hause einlud. Aber Sunny und Joey spekulierten weder auf das Weißwollen ihrer Nachbarschaft noch hatten sie Vorbehalte gegen das Schwarzsein meiner Freundin Nora. Als Europäer, der in einer Jugendkultur aufwuchs, in der Rassismus kein Thema war, war mir soziales Belauern dieser Art fremd. Weder betrachtete ich das Freisein von rassistischem Eigendünkel als Charaktereigenschaft, noch erforderte es einen emotionalen Kraftakt, alle Menschen als gleichwertig zu betrachten, egal ob Juden, Chinesen, Zigeuner, Kaukasier oder Schwarze, ich vergab meine Sympathie- oder Antipathiepunkte aufgrund persönlicher Erfahrung mit dem einzelnen Menschen.
Als extrovertierter Vertreter einer aufgeklärten Zivilisation redete ich grundsätzlich mit jedem, hatte zugegebenermaßen ein Faible für gutartig Verrückte und bedrängte Minderheiten. Meine Zuneigung galt allen Rebellen, Schelmen und Spitzbuben. Schließlich zählte ich mich selbst dazu. Woher ich diese Mentalität hatte, kann ich nicht sagen, denn ich stamme aus einem bürgerlichen Elternhaus und hatte in meiner Jugend sieben Jahre katholische Internatserziehung erfahren. Jedenfalls erleichterte mir diese Einstellung anderen Menschen gegenüber, relativ konfliktfrei um die Welt zu reisen und mich der jeweiligen Kultur anzupassen. Mir schmeckte indonesisches Essen, ich schlief mit asiatischen Frauen, machte Geschäfte mit chinesischen, afrikanischen und amerikanischen Ganoven, und ich hörte Musik der verschiedensten Stilrichtungen, sofern sie nicht militaristisch, faschistoid oder schlicht schlecht gemacht war.
Im Hause Palmano wurde in erster Linie West-Coast aufgelegt, also Crosby, Stills, Nash & Young oder Jefferson Airplane oder Logins & Messina oder Fleetwood Mac oder Poco oder die Eagles. Zu der Zeit als ich viel in den Vereinigten Staaten unterwegs war, hörte ich bevorzugt Salsa, Latin-Jazz und Fusion à la Steely Dan, Weather Report, Pat Metheny oder Santana. Meine persönliche Hymne, in der ich mein Lebensgefühl auf den Punkt gebracht fühlte, war allerdings ein Song von Lee Clayton, der zu den Country-Sängern um Willie Nelson und Waylon Jennings gehörte. Das Lied, dem so gar nichts Provinzielles anhaftet, trägt den Titel »I Ride Alone«, und die erste Strophe lautet übersetzt in etwa so:

 

Wieder eine Nacht in Los Angeles,
Mein Pass steckt unruhig in meinem Stiefel
Und meine Gedanken bekommen Flügel und raten mir:
Los Mann, sagen sie, verschwinde von hier!
Und ich muss an Paris zurückdenken:
Guter Wein, Frauen und edle Dinge.
Und ich denke an mein Leben auf den mitternächtlichen Landstraßen,
An das Leben eines Deserteurs.
Seit zwanzig Jahren nennen sie mich einen Halunken,
Seit zwanzig Jahren bin ich auf der Flucht …

 

Diesen Titel aus dem Jahr 1979 hörte ich bei Joey zum ersten Mal, und ich hatte das Gefühl, dieser Text habe etwas mit meinem eigenen Leben zu tun. Lee Clayton gehörte übrigens zu den aufrechten Lebenskünstlern, zu denen auch Sixto Rodriguez zählte, der zu der Zeit, als ich mit Jerry in Detroit Geschäfte machte, in der Stadt auf dem Bau arbeitete, weil ihn ein Musikproduzent um den Erfolg und um seine Tantiemen betrogen hatte. Ich kannte seine Musik (»Sugar Man«) seit Mitte der siebziger Jahre, hatte aber, wie fast alle seine Bewunderer keine Ahnung, woher ich seine Platten bekommen könnte oder gar, wo er lebte oder was aus ihm geworden war. Erst im Jahr 1998 wurde er von einem südafrikanischen Journalisten in Detroit aufgespürt, und es gelang Rodriguez eine Art Comeback, worüber der schwedische Filmemacher Malik Bendjelloul einen sehr berührenden Film mit ihm drehte. Eine erstaunliche Geschichte!
Wenn ich die Musik von Clayton und Rodriguez höre und deren Qualität mit dem bescheidenen Erfolg, den sie hatten, in Beziehung setze, frage ich mich ernsthaft, wieso Bands wie REM oder die E-Street-Band so viel Anerkennung fanden, obwohl sie, was Können und Aussagekraft ihrer Stücke angeht, Lee Clayton und Sixto Rodriguez das Wasser nicht reichen konnten … Gute Kunst allein verbürgt offensichtlich nicht automatisch den Erfolg. Inzwischen bin ich überzeugt, dass es sehr viele Künstler gibt, die in ihrer Kunst echte Anliegen zum Ausdruck bringen, die aber nie die Beachtung fanden, die sie verdient hätten. Hier die erste Strophe eines von Rodriguez’ besten Liedern:

Sugar man
Won’t ya hurry
Coz I’m tired of these scenes
For a blue coin
Won’t ya bring back
All those colours to my dreams

Silver magic ships, you carry
Jumpers, coke, sweet Mary Jane …

 

Zurück zu Joey, Sunny und Nora, mit denen ich einen unvergessenen Abend verbrachte. Wir ließen uns aus einem »Yellow Deli« Futter in Styropor-Boxen bringen, Joey sang und spielte eine Stunde lang Lieder auf der Gitarre, und anschließend spielten wir Schach, während die Frauen Marihuana rauchend in der Küche saßen und über Dinge sprachen, die Frauen interessieren.
In der Nacht schlief ich zwar bei Nora, aber nicht mit ihr. Wir kannten uns schon so lange, dass ich sie eher als Schwester denn als Frau betrachtete. Nora sah das zwar anders, aber es sollte noch ein paar Wochen dauern, ehe sie es mir eingestand.
Als ich am nächsten Morgen erwachte, beschloss ich, den Tag mit einem Sprung in den Pool zu beginnen, der gleich an das Haus angrenzte. Neben einer Linie Kokain ist ein Sprung ins kalte Wasser die effizienteste Methode, um wach zu werden. Diese Erkenntnis nahm ich damals mit. Anschließend betrat ich die Küche, wo Sunny dabei war, Kaffee zu kochen. Das heißt, in Amerika kochen die Leute keinen Kaffee, sondern Wasser, in welches dann das Kaffeepulver gerührt wird. Das Ergebnis ist allerdings eine dermaßen schlappe Brühe, dass man in Italien oder Österreich mit Beschimpfungen zu rechnen hätte. Andererseits: In den Vereinigten Staaten ist der Kaffee in Fastfood-Restaurants kostenlos, was die Gastronomen davor bewahrt, wegen Betruges angezeigt zu werden. Sunny lud mich also auf eine Tasse Kaffee ein, und indem ich mich freundlich bedankte und die Einladung annahm, hatte ich zum ersten Mal an diesem Tag gelogen. Wenn man es genau nimmt, ist ja jede nicht ehrlich gemeinte Höflichkeit eine Form der Lüge, und unter diesem Gesichtspunkt lügt jeder Mensch im Durchschnitt dutzende Male am Tag (hab ich mal irgendwo gelesen). Einen interessanten Gedanken zur Funktion der Lüge in unserem Leben schrieb der französische Dichter Anatole France einmal nieder: Die Ungewissheit ist die Grundbedingung irdischen Glückes. Von uns selber wissen wir fast nichts, von den anderen gar nichts. Die Unwissenheit gibt uns Ruhe, die Lüge Glück.
Ich wartete ab, bis Sunny hinausging, um Joey zu wecken, und kippte mir unbeobachtet noch einen Löffel Instant-Maxwell-House in die Tasse. Dann ging ich zurück ins Zimmer, um mich anzukleiden und um Nora guten Morgen zu wünschen. Während sie meinem Rat folgte, den Tag im Wasser zu beginnen (gegen neun Uhr früh zeigte das Thermometer im Pool bereits 25 Grad Celsius!), holte ich Tage- und Adressbuch aus der Reisetasche und setzte mich an den Küchentisch, um die Notizen zu machen, die mich heute in die Lage versetzen, diese Geschichte niederzuschreiben. Dabei fiel mein Blick auf einen in fremder Handschrift verfassten Eintrag in dem Schulheft, in welches ich Visitenkarten einklebte, sowie Telefonnummern und Anschriften notierte. Ich las: Toni, Miami, und eine Nummer. Doch so sehr ich auch nachdachte, mir wollte partout nicht einfallen, wo und wann ich diesem Toni begegnet war. Die Neugier ließ mir keine Ruhe, also nahm ich Joeys Telefon und wählte.
»Filitti. Was kann ich für Sie tun?«, erkundigte sich eine Dame am anderen Ende der Leitung.
»Ich würde gerne mit Toni sprechen«, sagte ich.
»Wer sind Sie denn?«, fragte die Frau, und ich glaubte eine Spur von Misstrauen zu hören.
»Mein Name ist Harry.«

 

 

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