Literatur und Sachbuch
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Leseprobe »Escape oder schreib um dein Leben«

 

 

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Mittwoch, 19. April, abends

 

Das Internet. Welch eine grandiose Erfindung! Sophia liebte das Hin-und-Her-Geworfenwerden auf unerwartete Seiten. Wie von selbst boten sich überraschende Zusammenhänge an und weckten die Neugier, auch noch die nächste angezeigte Website aufzusuchen … wie Rotkäppchen, das immer dachte, weiter hinten im Wald blühe eine noch schönere Blume.
Mist! – das Referatthema hatte sie nach ein paar Klicks aus den Augen verloren … der Wolf würde also die Großmutter fressen. Herrje, Oma! Total vergessen. Sorry, Oma, see you tomorrow.
Die nächste halbe Stunde sollte ihr selbst gehören, schließlich musste sie sich auf den Abend vorbereiten.
Im Bad schaute Sophia ihr Spiegelbild kritisch an.
Hi, Sophia Rosenhaag. Sie mochte ihren Namen. Und gemessen an den Topmodels aus den TV-Serien war sie eigentlich doch recht zufrieden mit sich. Bis auf die Pickel, die Haarfarbe, die Hüfte, die Fingernägel, die Länge der Haare, die Haltung, das Zahnweiß, die Lippen, die Größe, den Po, die Bräune … Es war nicht einfach, 17  Jahre alt und in Johnny verknallt zu sein. Also los!
Sophia packte ihre geliebte Sammlung an Kosmetik und Haarspangen aus und stöpselte ihr Handy an die Boxen, die auf dem Regal neben dem Spiegel standen. Was sollte es heute werden? Smokey eyes? Nein, dadurch sah man bloß deutlicher, wie extrem blass sie war. Lippenstift? Würde nur Instrument und Gläser verschmieren. Also griff sie nach dem Concealer. Doch sogar mit einer doppelten Schicht würde sie diese verdammten Augenringe nicht überdecken können. Das Make-up verdunkelte Sophias Haut längst nicht so stark wie sich ihre Laune verdüsterte, als sie feststellte, dass ihr Lieblingskajal mal wieder fehlte. Dann also Eyeliner. Normalerweise funktionierte sie den Kajal für einen schmalen Lidstrich um, denn die schwarze Paste des Eyeliners, die an dem kleinen Pinsel klebte, war ihr öfter als einmal schmerzhaft ins Auge geraten. Sophia lehnte sich zum Spiegel hin und beobachtete interessiert, wie sich ihre Pupillen den neuen Lichtverhältnissen anpassten. Dann setzte sie den Eyeliner vorsichtig an der inneren Ecke des Augenlids an. Sie schaffte es bis zur Mitte, bevor sie von dem Puderstaub in der Luft niesen musste und mit dem Pinsel eine Art indianische Kriegsbemalung auf ihrer Wange hinterließ.
»For God‘s Sake!«, schimpfte sie und war kurzfristig gewillt dem erbärmlichen Leben des Eyeliners ein Ende zu setzen. Doch, nein, nein, heute sollte ein guter Abend werden. Sie entfernte die schwarzen Streifen und zwang sich zu einem Lächeln. Wenigstens sind meine Zähne schön gerade, stellte sie fest, während sie ein stilles Dankgebet an ihren Kieferorthopäden sandte.
»What doesn‘t kill you makes you stronger«, tönte es aus den Lautsprechern.
»Recht hast du«, nickte Sophia mit neuem Mut und schlich sich in geheimer Rettungsmission zum Zimmer ihrer Eltern, um den Kajal ihrer Mutter zu stibitzen.
Nachdem sie das Schönheitsprogramm durchlaufen hatte, wirkte sie gute zwei Jahre älter, war konform gestylt und fühlte sich der Begegnung der Woche gewachsen.

Zunächst stand ihr allerdings die Probe des Musikvereins bevor.
Sie spielte erstes Alt-Saxofon, worauf sie, nach einem Jahr Unterricht, ziemlich stolz war.
Wenn sie ehrlich war – und sie war meistens ehrlich zu sich – kam ihr die Unterstützung ihres Pult-Kollegen nicht ungelegen. Timo war zwar schüchtern und absolut nicht ihr Typ, aber enorm nützlich. Immer hatte er den Notenständer bereits aufgebaut, der Bleistift lag vorschriftsmäßig gespitzt in greifbarer Nähe und ein Magnet hielt den erforderlichen Radiergummi vom Verschwinden ab.

Timo saß längst spielbereit hinter seinem Pult, als Sophia gut gelaunt den großen Saal in der Bürgerhalle betrat und einige der Musiker begrüßte. Der erste Posaunist drückte ihr gleich einen Zettel in die Hand: »Die kommenden Auftrittstermine!« Die Blechbläser waren einen Schritt weiter und organisierten schon ihre Fahrgemeinschaften zu den einzelnen Events. Ein Durcheinander aus lebhaften Gesprächsfetzen und einigen Tonleiterpassagen erfüllte den Probensaal. Bald erklangen die unvermeidlich quäkenden Anblasversuche noch trockener Klarinettenmundstücke. Zeit für den Dirigenten, in die Hände zu klatschen – das Startsignal für alle.
»Hi, Timo«, grüßte Sophia lässig und nestelte betont konzentriert ihr Mundstück zurecht. So musste sie auf Timos Lächeln nicht reagieren. »Schon wieder Stevie-Wonder-Medley?«
Timo räusperte sich verlegen. »Ja, ich habe den letzten Teil schon vier Stunden geübt und die Stelle immer noch nicht in den Fingern!«
Gott sei Dank! Gut so! Dann würde es also nicht auffallen, dass sie die Noten seit dem letzten Mal nicht angeguckt hatte.
Während der Probe wuchs Sophias Anspannung.
Vor ihrem inneren Auge tauchte Johnnys schlaksige Gestalt auf, seine schnellen Bewegungen hinter der Theke, wenn er die Gläser füllte, der wachsame Blick der grau-blauen Augen, der grau-blauen Augen, der grau… – »Gis«, flüsterte Timo.
»Was?« Sophia kehrte für einen Moment in die Gegenwart zurück, doch der Achtellauf in ihren Noten verlangte volle Aufmerksamkeit und verhinderte eine Antwort. Heute Abend würde sie sich keine Apfelsaftschorle best- »Gis!«, wiederholte Timo eindringlich.
Nervensäge! Wen interessierte denn schon, ob – »Gi-his! Wir sind in A-Dur!«
Dieser Nerd nahm tatsächlich den Bleistift und kritzelte das übersehene Vorzeichen in die Noten. Sophia steigerte sich in einen Hustenanfall und verließ eilig den Probenraum, um Timos scharfem Gehör zu entkommen.
Heute Abend sollte sich entscheiden, ob Johnny sie überhaupt wahrnahm, ob sie eine Chance bei ihm hatte – ja, ob das Leben in diesem verlorenen Nest einen Sinn hatte.
Sie lehnte sich an die Wand im Flur und versank aufs Neue in ihrem Tagtraum.
»Geht es wieder besser?«, hörte sie plötzlich Timos besorgte Stimme hinter sich. Dass er ihr gefolgt war, hatte sie nicht bemerkt. Sie stöhnte heimlich, nickte und schickte ihn mit einem genuschelten »Komme gleich« in den Probenraum zurück. Nur nicht gemeinsam mit Timo wieder dort aufkreuzen.
Dann riss sie sich zusammen und folgte Timo nach ein, zwei Minuten, einem angemessenen Sicherheitsabstand.
Endlich war die Probe zu Ende und damit ihre Qual. Beim Einpacken zog Sophia den Wischer nur flüchtig durch das Instrument. Sie wollte unbedingt als eine der Ersten im Pub ankommen, um noch einen Platz an der Theke zu ergattern. Sonst würde es sich nicht vermeiden lassen, sich an den Tisch mit den anderen Jugendlichen aus dem Verein – also mit Timo und Co – zu setzen, Apfelsaftschorle zu schlürfen und Schulgespräche mit anhören zu müssen.
Nein danke, kein Bedarf. Sophia wollte mehr.

Johnny sah umwerfend aus. Er hatte die Ärmel seines weißen, locker über die Hose hängenden Hemds aufgekrempelt und beherrschte die Zapfhähne und Regale wie das Spiel auf einer Orgel, ohne hinzuschauen. Während er mit traumwandlerischer Sicherheit nach den richtigen Flaschen und Gläsern griff, ließ er trockene Bemerkungen zu den nach und nach eintreffenden Gästen fallen. Johnny war der unangefochtene Star seines Pubs, der Anziehungspunkt für alle im Dorf, die sich abends noch die Stunde außer Haus gönnten.
Für Johnny selbst war die Kneipe ein Hobby. Ansonsten arbeitete er in der Bankfiliale des Ortes.
Keiner charakterisierte die Dorfbewohner so treffend, keiner kommentierte diese übersichtliche Welt so spannend – und deshalb wollte niemand Johnnys Sprüche versäumen.

»Hallo Häkchen!« Er grinste Sophia entgegen, die die Weite ihres Minirocks unterschätzt hatte und sich etwas umständlich auf den Barhocker hievte. Nur nicht einschüchtern lassen – war die Devise. Immerhin hatte er sie begrüßt. Wenn sie das ›Häkchen‹, zu dem er ihren Nachnamen verunstaltet hatte, auch eher mit zusammengebissenen Zähnen schluckte.
Während sie überlegte, wie sie möglichst souverän ihr Bier bestellen sollte, schob ihr Johnny ein bereits gefülltes Glas zu.
»Bisschen wenig Schaum«, imitierte Sophia die typische Beschwerde der Musiker nach der Probe über ein zu früh Gezapftes.
»Geht auch nicht mit Apfelsaftschorle«, gab Johnny amüsiert zurück, »sieht aber besser aus! So an der Bar!«
Sophia schoss die Röte ins Gesicht, ohne dass sie dagegen etwas hätte tun können. Um Johnny nicht anschauen zu müssen, wollte sie aus dem Glas trinken und verschluckte sich dabei elendiglich. Sie prustete das Getränk durch Mund und Nase wieder aus, zurück ins Glas und über die Theke, bis ihr die Tränen in den Augen standen. Der Husten schüttelte sie und nahm ihr fast den Atem. Röchelnd versuchte sie, die Luftröhre freizubekommen, ihr Brustkorb schien platzen zu wollen und der Hustenreiz wollte kein Ende nehmen.
Sie nahm ihre Umgebung kaum noch wahr, hörte nur Johnnys kühle Stimme: »Na ja, aller Anfang is halt schwer«, als sie Timo bemerkte, der sie am Arm fasste und nach draußen führte.
»Vielleicht hast du dich erkältet«, meinte Timo mitfühlend. »Das ist heute schon der zweite Anfall …«
»Kümmer’ dich um deinen eigenen Kram«, zischte Sophia und riss sich los.
Die Verzweiflung erfasste sie mit voller Wucht. Was für eine Blamage! Wie sollte sie Johnny je wieder unter die Augen treten? Sie hörte bereits seine bissigen Bemerkungen, die sie so liebte, wenn sie andere betrafen: Vielleicht hilft dir ja ein Strohhalm beim ersten Bier! Aus dem Glas trinken will gelernt sein, bevor man sich von der Mutterbrust löst. Das lernt man nicht in der Schule …
Zu allem Überfluss erschien nun auch noch Linda!
»Johnny meinte, ich sollte mal nach dir schauen. Ob alles okay ist und so.«
Sophia hätte sich am liebsten in Luft aufgelöst. Morgen würde das ganze Dorf über ihren peinlichen Auftritt Bescheid wissen. Linda-Liebling, die zurzeit Johnnys besondere Aufmerksamkeit genoss, würde diese Szene Johnny und allen anderen ausmalen, wie es ihr in den Kram passte.
Sophia konnte die Fassung nicht länger wahren. Sie ließ ihr Instrument im Stich und rannte ohne Jacke und Tasche nach Hause, wo sie sich in ihr Zimmer einschloss, aufs Bett warf und den Tränen hemmungslos freien Lauf ließ.
»Verdammte Scheiße!«, fluchte sie in ihr Kissen. Am liebsten hätte sie sich gleich unter dem Berg aus unaufgeschütteltem Plumeau, Kissen und Decken vergraben. Wieso passierte immer ihr so etwas? Warum konnte sich nicht ein einziges Mal alles nach ihren Wünschen fügen?
Sie schleuderte die hohen Schuhe in die Ecke und den unbequemen Minirock gleich hinterher. Nicht einmal die Energie, ins Bad zu gehen, brachte sie mehr auf. Ich werde sowieso niemals eine so schöne Haut wie diese dämliche Linda haben, dachte Sophia zerknirscht. Warum also Zeit verschwenden mit Peeling, Cremes und Lotionen?
Sie zog sich ihr Schlafshirt über und kroch ins Bett. Erschöpft tastete sie nach dem Lichtschalter und wartete auf den Schlaf, der die Schande des Abends wenigstens bis zum Morgen ungeschehen machen würde.

Durch ihre geschlossenen Lider blinkte ein Licht aus nächster Nähe vor ihrem Bett. Unregelmäßig. Grün. Rot. Entnervend! Mit einem grimmigen Knurren raffte sich Sophia wieder auf. Sie hatte vergessen, den Laptop herunterzufahren und jetzt blinkten sowohl die Internet-Kontroll-Leuchte als auch der Akku-Status. Gähnend und fröstelnd wartete sie darauf, dass das Gerät aus dem Stand-By-Modus hochfuhr. Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie kramte schnell aus dem Kleiderschrank einen Bademantel hervor.
Gedankenverloren betrachtete Sophia ihr Bild im Spiegel der Schranktür …
Der Fingerabdruck-Scanner blinkte auf. Sie meldete sich an.
Als Letztes war sie auf der Website eines Mädchens hängen geblieben, das alle seine Probleme in einen Blog schrieb.
Mein Gott, warum benutzt nur jeder Facebook oder seine Website als Tagebuch?, ging ihr durch den Kopf. Sicher, es half, seine Gedanken aufzuschreiben. Diese Erfahrung hatte sie auch gemacht. Doch sie würde niemals so weit gehen, ihre innersten Gefühle für alle Welt zu veröffentlichen.
Sie wollte gerade eines der ständigen Werbe-Pop-Ups wegklicken, da hielt ihre Hand über der Maus inne.

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