Literatur und Sachbuch
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»Blütenträume« Robert Krieg

 

Erster Teil

1
1990: Bankraub in Eisenhüttenstadt

 

Schulz zog nervös an der bis auf einen winzigen Rest aufgerauchten Zigarette und schnippte den Stummel aus dem halb geöffneten Autofenster. Er starrte nach oben auf das Flachdach des dreistöckigen Plattenbaus. Einen Moment lang kreuzte sich sein Blick mit dem des Gerüstbauers, der gerade eine schwere Bohle nach oben zog und sich dabei über den Dachvorsprung beugte.
»Verdammt«, durchfuhr es Schulz«, der könnte mich wiedererkennen. Mein Auto, das merkt der sich doch bestimmt!« Schulz drehte den Rückspiegel so, dass er die Toreinfahrt hinter ihm genau im Blick hatte.
»Wo bleiben die Scheißkerle«, fluchte er innerlich und verbot sich, eine weitere Zigarette aus dem Päckchen zu fingern.
Eine Gruppe Kinder zog Hand in Hand durch die stille Nebenstraße. Die Kindergärtnerin in ihrem Schlepptau blickte neugierig in den metallblauen Passat. Der Mann auf dem Fahrersitz war um die Fünfzig und sah aus wie der Typ, der ihr kürzlich eine Lebensversicherung angedreht hatte.
»Stehenbleiben!«, rief sie, »Jetzt überqueren wir die Straße. Alle warten! Erst nach links gucken, dann nach rechts und dann erst rüber laufen.«
Schulz beobachtete, wie sich die Kinder vor ihm auf dem Bürgersteig in Zweierreihen aufstellten und auf das Kommando zum Loslaufen warteten. Sein Puls schlug schneller. Jeden Augenblick konnten Heller und Glaser aus dem Torbogen gerannt kommen. Dann mussten sie losrasen. Es durfte keine Verzögerung geben. Er hatte ausgerechnet, dass sie höchstens sieben Minuten Vorsprung hätten. Das würde aber reichen, um über die Ausfallstraße aus der Stadt rauszukommen und die Landstraße an der Oder entlang nach Cottbus zu erreichen.
»Die Bullen gehen bestimmt davon aus, dass wir die Autobahn nach Berlin nehmen. Denkste!« Der Mann am Steuer lachte still in sich hinein.
»Schulzi ist wieder mal auf der Flucht.« Das schien das Motto seines Lebens zu sein.
Die Kindergärtnerin hatte ihre Schützlinge am Bürgersteig aufgebaut und übte jetzt mit ihnen nach links und nach rechts schauen.
»Diese blöde Kuh!« Schulz hätte am liebsten auf die Hupe gedrückt. Nach einem unendlich langen Moment setzte sich die kleine Schar in Bewegung. Schulz blickte ihnen versöhnt nach, als sie sich unter Gelächter und Geschubse auf der anderen Straßenseite davon machten.
Einer der Jungen trug eine selbstgestrickte Wollmütze. So eine hatte er auch getragen, als sie 1948 beim Kohlenklau in Königsberg von den Russen erwischt worden waren. Er sah wieder die endlosen offenen Waggons auf dem Königsberger Güterbahnhof vor sich. Eben noch hatte Erika, seine dreizehnjährige große Schwester, Kohlebrocken vom Waggon runter geworfen und gerade, als er sie in seinen löchrigen Jutesack einsammeln wollte, packte ihn ein russischer Soldat von hinten und befahl Erika mit unmissverständlichen Zeichen, vom Waggon herunterzuklettern. Vor dieses Bild schob sich der verstörende Anblick aus dem Innern des Schuppens. Seine Schwester lag entblößt rücklings mit gespreizten Beinen auf einem rohen Holztisch. Der kleine Schulz starrte auf den nackten Hintern des jungen Soldaten, der sich an seiner Schwester zu schaffen machte. Ein älterer Russe, ebenfalls in Uniform, flößte Erika etwas Wodka ein.
»Pʼyanstvo, devushki, pitʼ! Trink Mädchen, trink!«, grölte er und tätschelte ihren Arm.
Ob seine Schwester noch daran dachte? Oder hatte sie es gänzlich verdrängt? Er hatte Erika schwören müssen, es nicht der Mutter zu erzählen. Danach hatten sie niemals mehr darüber gesprochen. Weder auf dem Flüchtlingstreck nach Deutschland noch danach in Leipzig. Seine Flucht in den Westen hatte sie endgültig voneinander getrennt. Vor einem halben Jahr, wenige Monate nach dem Mauerfall, hatte er sie nach Jahrzehnten wiedergesehen. Er hatte sie kaum wiedererkannt. Aus der sportlichen, selbstbewussten jungen Frau, wie er sie von damals, 1955, in Erinnerung hatte, war eine behäbige Matrone geworden, die vom Leben nichts mehr zu erwarten schien.
Wenn sie heute Nachmittag von der Schicht zurückkehrte, würde sie sich wahrscheinlich an ihren Couchtisch setzen, keine 200 Meter Luftlinie entfernt, und den Instant-Kaffee schlürfen, den er ihr mitgebracht hatte. Aus ihrem Wohnzimmerfenster konnte man direkt die Dresdner-Bank-Filiale sehen, die in einem provisorischen Container untergebracht war und in diesem Augenblick überfallen wurde.
Seine Schwester muss sich gewundert haben, dass er, nachdem er sie erst im Sommer besucht hatte, plötzlich wieder aufgetaucht war, dieses Mal in Begleitung von zwei Männern. Der eine glatt rasiert, voll falscher Freundlichkeit. Ein gutaussehender Typ, für sein Alter schon etwas verlebt, der seiner Schwester plumpe Komplimente machte, die sie tatsächlich noch zum Erröten brachten. Der andere eher ein Schweiger, in sich gekehrt, bulliges Äußeres, Alter schwer schätzbar. Aus den etwas kurzen Ärmeln seiner rissigen Lederjacke lugten großflächige Tätowierungen vor. Zwei Knastbrüder – aber Erika sagten diese Zeichen nichts. Angeblich suchten seine beiden Freunde Geschäftsräume für einen Elektronikfachhandel ganz in der Nähe, in Frankfurt an der Oder. Erika war froh, ihren kleinen Bruder, so nannte sie ihn immer noch, das wollte sie sich nicht mehr abgewöhnen, nach so kurzer Zeit wiederzusehen. Sie improvisierte Kohlrouladen, freute sich, dass sie den drei Männern schmeckten und stellte ihnen ihr Schlafzimmer zur Verfügung.
»Nein, nein«, wehrte sie ab, »ich kann hier auf der Couch im Wohnzimmer schlafen.«
Am nächsten Tag war sie früh zur Arbeit gegangen. Die Molkerei war übernommen worden, ihr Arbeitsplatz schien erst einmal krisensicher. Das war schon etwas Besonderes in Eisenhüttenstadt im Jahr nach der Wende. Während sie weg war, beobachteten die drei Männer mit einem Fernglas vom Wohnzimmerfenster aus den Eingang der Bank. Schulz zählte die Kunden, versuchte Stoßzeiten abzuschätzen. Am frühen Nachmittag war er hinuntergegangen, hatte einen neuen 200-DM-Schein gewechselt und sich dabei die Filiale von innen eingeprägt. Wieder zurück, fertigte er eine Skizze an. Von Anfang an hatte er darauf bestanden, nur als Fahrer mitzumachen. Er hatte noch nie eine Bank ausgeraubt und verabscheute es, Menschen mit einer Waffe zu bedrohen.
Glaser hörte kaum noch zu. Seit dem frühen Morgen hatte er sich eine Tüte nach der anderen gebaut und nebenbei eine halbe Flasche Wodka geleert. Sein Kompagnon spielte währenddessen mit einer Knarre und legte auf imaginäre Ziele an. Die ganze Vorbereitung war an Schulz hängen geblieben. Sie hatten es nicht geschafft, falsche Nummernschilder zu besorgen. Schulz blieb nichts anderes übrig, als seine eigenen mit weißem Heftpflaster, das er sich in einer Drogerie besorgt hatte, zu manipulieren. Er war aus der Stadt rausgefahren auf einen verlassenen Segelflugplatz. Dort klebte er das H für Hannover zu einem I um, das im Osten für Berlin stand. Aus den zwei Achten machte er zwei Dreien. Dann fuhr er mehrmals durch eine tiefe Pfütze, um die Nummernschilder ordentlich mit Schlamm zu bespritzen. Jetzt fiel das Heftpflaster nicht mehr auf. Noch nicht einmal an ihre Maskierung hatten die Kerle gedacht. Nach einigem Suchen hatte er in einem Sportgeschäft zwei wollene Motorrad-Mützen gefunden. In Schulz stieg die Wut hoch. Nicht nur auf die beiden, sondern auch auf sich selbst. Wie hatte er sich nur auf diesen Wahnsinn einlassen können. Jetzt war es zu spät. Er konnte nicht mehr zurück. Das hätte seinem Ehrenkodex widersprochen: ein einmal gegebenes Wort durfte man nicht brechen. Außerdem brauchte er dringend das Geld, um endlich den ganz großen Coup landen zu können, der ihn bis ans Ende seiner Tage von allen Geldsorgen befreien würde. Sie hatten sich für die Mittagszeit entschieden. Kurz vor der Mittagspause war in der Filiale am wenigsten los gewesen.
Im Rückspiegel sah Schulz Glaser und Heller aus der Toreinfahrt herausgerannt kommen.,die über einen Innenhof die stille Straße mit dem belebten Platz vor der Bank verband. Er hatte den beiden mühsam klar gemacht, dass die Wahl dieses Ortes zu seinem strategischen Fluchtplan gehörte. Niemand durfte ihn und den Wagen vor der Bank warten sehen, vor allem seine Schwester nicht, wenn sie zufällig außerplanmäßig früher nach Hause kommen sollte. So ein Zufall hatte ihn schon einmal in den Knast gebracht.
»Fahr schon los«, schnaufte Heller und zerrte sich die Motorradmütze vom Kopf.
»Denen habʼ ichʼs gezeigt«, kicherte Glaser, der immer noch den Magnum Revolver Kaliber 357 in der Hand hielt, während Schulz den Passat durch die stille Nebenstraße jagte und der Gerüstbauer, vom Aufheulen des Motors überrascht, angestrengt dem Wagen hinterher blickte.
»Was hast du denen gezeigt?«, fragte Schulz in den Rückspiegel.
»Der Kassierer wollte uns nicht glauben. Ich hab erst in die Decke geschossen und dann …«
»Du warst noch von gestern besoffen«, brummte Heller, »und hast dich doch erst mal auf die Fresse gelegt, als du über den Tresen gesprungen bist. Und dann musst du aus Frust auf den Kassierer schießen, du Penner!«
Schulz wurde bleich.
»Ich habʼ ihn doch nur am Bein getroffen«, gluckste Glaser, »hat er aber verdient.«
In Schulz stieg eine heiße Welle des Ärgers hoch. Er spürte, dass ihm die Kontrolle über die Situation aus den Händen glitt. Während sie die letzten Außenbezirke von Eisenhüttenstadt hinter sich ließen und der Wagen allmählich beschleunigte, dachte Schulz fieberhaft darüber nach, wie er die beiden Kerle so schnell wie möglich wieder loswerden konnte. Aber alles Grübeln half nichts. Ausgemacht war, das erbeutete Geld in Hannover zu teilen, dann würden sie sich hoffentlich nie wieder in ihrem Leben begegnen.

Glaser hatte den Schraubverschluss einer frischen Wodkaflasche aufgedreht und setzte zum Trinken an.
»Trink nicht so viel!«, herrschte ihn Schulz an.
»Leck mich!«, schnauzte Glaser zurück. »Fahr weiter und haltʼ dich raus.«
Die dicke Pranke von Heller drückte die Flasche runter.
»Es reicht jetzt!«
Glaser gehorchte. Vor Hellers physischer Präsenz hatte er Respekt.
Auf einem stillen Parkplatz riss Schulz das Heftpflaster von den Nummernschildern ab. In Cottbus angekommen, kämpfte er sich während eines Platzregens, den die Scheibenwischer kaum noch bewältigten, durch die Innenstadt. Obwohl er die Heizung voll aufgedreht hatte, beschlugen die Scheiben immer mehr und der verwirrende Schilderwald setzte ihn zusätzlich unter Druck. Dauernd ging es nach Leipzig, aber das war die falsche Richtung.

 

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