»Da, wo du bist ...« Marion Bischoff
Prolog
Oktober 1937
»Nein! Nicht auch noch du. Du bist doch erst einundzwanzig. Und wir brauchen dich so nötig hier.« Susanna Bischoff streichelte kopfschüttelnd über die Wange ihres Sohnes. Trotz seiner Bartstoppeln spürte er ihre von der Feldarbeit rauen Hände.
»Mütterchen, du machst dir zu viele Sorgen«, antwortete Walter und nahm sie beruhigend in den Arm. »Was soll denn schon passieren?« Er drückte sie fest an sich, damit sie ihm nicht ins Gesicht schauen konnte.
Schluchzend lag sie an seiner Brust. »Warum muss ich bloß all meine Buben hergeben? Warum?«
»Du gibst uns nicht her. Du leihst uns nur aus«, antwortete er zuversichtlicher, als ihm zumute war.
»Ich wünschte, es würde verboten.«
»Was?«
»Der Wehrdienst.«
Walter lachte auf. »Ich bin doch nur in Pirmasens. Das ist nicht weit. Da kann ich mit dem Zug heimkommen, wenn ich frei habe.«
»Ich will aber nicht, dass meine Buben Uniform tragen müssen.« Die schrille Stimme seiner Mutter bohrte sich in Walters Magengrube. »Soldatenuniformen haben noch immer Krieg bedeutet.«
»Wer spricht denn von Krieg? Ich bin jedenfalls stolz darauf, dass ich die Uniform tragen darf.« Er schob seine Mutter ein wenig von sich und richtete sich auf. »Und du kannst auch stolz sein. Ihr beide. Ihr habt uns so gut erzogen, dass man jetzt fürs Vaterland nicht auf uns verzichten will. Das kannst du allen und überall erzählen.«
»Ach, Junge.«
Die rot geweinten Augen seiner Mutter schmerzten ihn, doch trotz seiner leise aufkommenden Zweifel fühlte er sich auch sehr zufrieden. Es war schließlich nicht leicht für ihn gewesen in den letzten Jahren. Die Geschwister waren allesamt älter als er und gingen eigene Wege. So blieb ihm nichts anderes übrig, als dem Vater in der Landwirtschaft zu helfen, nachdem die übrigen Söhne ausgeflogen waren. Dabei hätte er so gern eine Schreinerlehre gemacht. Oder im Büro gearbeitet. Möglichkeiten konnte er sich einige vorstellen.
»Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst.«
Walter nickte, strich der Mutter tröstend über den Rücken und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. Ja, sie tat ihm leid. Sie war eine alte, gebeugte Frau mit grauem Haarknoten, die in ihrem langen Leben so einiges hatte mitmachen müssen. Und wenn er nun zum Wehrdienst einrückte, war noch eine Arbeitskraft weniger auf dem Hof. Trotz seiner Vorfreude auf das Kommende fiel ihm der Abschied nicht leicht.
Sie schüttelte schweigend den Kopf, kehrte ihm den Rücken zu und verschwand hinter der schweren hölzernen Eingangstür des elterlichen Bauernhauses.
Mit ausladenden Schritten lief er hinaus zu den nahen Feldern. Zwischen den reifen Ähren ließ er sich auf die Erde fallen und zerrte den Brief hervor, den ihm der Postler vorhin zugestellt hatte. »Soldat. In Pirmasens. M10 Bataillon. Winzler Straße. Westwall«, murmelte er und legte sich rücklings auf den Boden. Das hörte sich alles sehr zukunftsträchtig an. Aber so genau konnte er sich nicht vorstellen, was da auf ihn zukam. Gedanklich versuchte er sich zu orientieren. Die Winzler Straße war ihm bekannt, da war er schon einmal durchgefahren. Dort gab es dieses Barackenlager. Ob er dort mit den anderen Soldaten einziehen würde? Walter lächelte. Eigentlich war es egal, wo sie nächtigten. Hauptsache, es gab etwas zu tun.
Vor seinen Augen tanzten die Weizenhalme, die in der Sonne golden schimmerten, und eigentlich war alles wie an den Tagen zuvor. Eigentlich …
Als er zurück ins Haus kam, stand die Mutter in der Küche, hielt das zusammengeknüllte Taschentuch in der Hand und wischte sich immer wieder über die Wangen.
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin sicher bald wieder wohlbehalten bei euch.« Dann machte er auf dem Absatz kehrt, lief in den Pferdestall und verabschiedete sich vom Vater.
»Pass auf dich auf, Bub! Man kann keinem trauen. Und ihr seid so nah an den Franzosen. Die sind hinterlistig«, mahnte sein alter Herr, und der musste es wissen.
Nun war es so weit. Mit dem Rucksack auf dem Rücken schwang Walter sich auf das klapprige Herrenrad, das der Großvater ihm vermacht hatte und ließ es an dem steilen Berg vor seinem Elternhaus anrollen. Mit einer Hand winkte er den Eltern zu, drehte sich jedoch nicht mehr zu ihnen um. »Bis bald!«, rief er, ehe er um die Ecke bog. Er wischte sich schnell die Tränen weg und trat kräftiger in die Pedale. So jagte er über die holprige Landstraße, grüßte im Vorbeifahren den Ecker-Bauern, der gerade auf seinem Fuhrwerk vom Feld kam und ließ den Blick schweifen über die Äcker und den Wald. Der Bach glitzerte, als seien in der Nacht die Sterne vom Himmel gefallen. Das alles werde ich vermissen, dachte er.
Es war nicht weit nach Hornbach und mit dem Rad war der Bahnhof schnell zu erreichen. Er versuchte, das Rumoren in seinem Bauch zu ignorieren, das zusehends stärker wurde. Was wird mich erwarten?, fragte er sich immer und immer wieder.
Am Bahnhof angekommen, schob er sein Fahrrad in die Hecke hinter den Gleisen. Er klopfte mit der flachen Hand auf den Sattel. »Mach’s gut, mein alter Drahtesel.«
Lydia, die nur zwei Jahre älter war als er, würde das Rad in den nächsten Tagen abholen. Das hatte er mit seiner Lieblingsschwester vereinbart.
Noch einmal sah er sich um, atmete tief ein und blies die Luft hörbar aus. »Los gehts, Soldat Bischoff«, feuerte er sich selbst an.
Beim Einsteigen hielt er dem Schaffner seine Einberufung entgegen. Der betagte Herr musterte ihn. Als sich ihre Blicke trafen, nickte der Grauhaarige. »Alles Gute, mein Junge.«
Walter lächelte. »Danke.« Und nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Eigentlich hätte mich der Vater gebraucht.«
»Wie so viele Väter«, gab der Schaffner zurück und wandte sich dem nächsten Fahrgast zu.
Im Zug saßen etliche junge Männer. Ein paar von ihnen trugen Uniformen. Walter freute sich, bei Dienstantritt auch eine zu bekommen. Manche redeten mit einem eigenwilligen Dialekt, bei anderen glaubte er, sie schon einmal gesehen zu haben. Er schob sich auf einen der letzten freien Sitze im Abteil. Neben ihm am Fenster schlief einer. Die Mütze ins Gesicht gezogen, den Kopf nach hinten gelegt. Gleichmäßig hob und senkte sich sein Brustkorb. Unwillkürlich musste Walter grinsen. Den bringt scheinbar nichts aus der Ruhe.
Ein lauter Pfiff ertönte und der dunkle Qualm der Lok hüllte die Fenster ein. Wieder ein Pfiff und schon setzte sich der Zug in Bewegung. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Draußen lichteten sich die Rauchschwaden und die Landschaft zog vorbei. Da regte sich auch sein Sitznachbar. Mit einer Hand schob er sich die Kappe aus dem Gesicht und schlug die Augen auf. »Servus, ich bin der Kurt.«
»Walter«, antwortete er und reichte dem fremden Kameraden die Hand.
Kurt setzte sich aufrecht, schlug sich mit flachen Händen auf die Oberschenkel. »Und, wohin führt dein Weg?«