»Kriemhilds Rache« Holger Höcke
1. Kapitel
Kloster und Grab
Kriemhild lauschte.
Etwas summte und brummte um ihren Kopf herum, störte ihre Andacht. Gedankenverloren griff sie über sich in die Luft und berührte kurz etwas Vibrierendes, das sofort entwich. Sie schaute nach oben, und der feine schwarze Schleier, den sie über dem Kopf trug, rutschte nach hinten und blieb an dem festen Knoten hängen, zu dem sie ihr Haar im Nacken zusammengezwungen hatte. Das Insekt flog hastig davon in Richtung Klostermauer und kam gleich darauf zurück, um eine Armlänge vor Kriemhilds Gesicht in der Luft stehen zu bleiben, eine dünne, leuchtend blaue Nadel. So blau waren Siegfrieds Augen gewesen.
Die Libelle schien die Witwe neugierig anzuschauen, drehte dann endgültig ab und verschwand in Richtung eines kleinen Baches. Kriemhild bückte sich, streichelte, was da wuchs, spürte saftiges Gras und die fleischigen langen Blätter von Traubenhyazinthen. Sie berührte die schwere braune Erde darunter und dann raschelte altes, totes Laub unter ihren Händen. Die Fingernägel kratzten im harten Grund, die Kuppen bohrten sich ein.
Plötzlich waren andere, wohlklingende Geräusche in der Luft, aus der Klosterkirche kam hoher Gesang aus dreißig Mönchskehlen, friedlich und getragen, eine Ahnung nur, wie ein feines Band, das sich durch die Luft wand. Einer der Brüder musste die Kirchentür geöffnet haben, um die sanfte Frühlingsluft hereinzulassen. Kriemhild betrachtete ihre Hände, rieb die bröckelnde Erde ab und kratzte sie sich aus den Fingernägeln. Sie hob den Kopf. Nicht graben, dachte sie. Ich soll nicht graben, ich darf nicht graben. Der Abt hat es gesagt. Pater Johannes, er ist mir gut. Sie zog den Schleier wieder über Kopf und Augen und stand auf. Wenn ich weiter wühle, könnte ich auch die Wurzeln des Rosenstrauchs beschädigen.
»Wo ist er?«, sprach sie, zur Erde gewandt. »Wie oft habe ich dich schon gefragt, mein Gemahl? Könntest du mir doch antworten.«
Sie betrachtete das schlichte graue Kreuz aus hartem Odenwälder Granit, auf dem grüne und gelbe Flechten ein unregelmäßiges Fleckenmuster gebildet hatten.
»Ist er bei dir? Ist er noch am Leben?«
Sie lauschte erneut. Der Gesang hatte aufgehört, der Mittagsgottesdienst war zu Ende.
Plötzlich fiel ein Schatten auf das Grab. Kriemhild spürte eine Hand auf ihrer Schulter und erschrak.
»Auf ein Wort, Königin.«
»Pater Johannes, ich habe gar nicht … ich war …«
Der Abt schüttelte milde lächelnd den Kopf und schlug wortlos seinen rechten Arm um sie. Sein schwarzes Ordensgewand hatte die Wärme der Frühlingssonne gespeichert. Sein grauer, langer Bart kitzelte sie im Gesicht, sein Atem roch ein wenig säuerlich, nach Wein.
Der Abt hatte eine große Kanne mitgebracht. Er nahm ihre Hände und spülte die Erdreste mit einem sanften Guss ab. Den Rest des Wassers schüttete er an den Rosenstrauch.
»Schau«, sagte er freundlich, »das Leben. Wie es sich Bahn bricht, wie es überall blüht.« Er nahm eine kleine, noch geschlossene Rosenknospe in die Hand und lächelte Kriemhild an. »Wie mild es schon ist für diese Jahreszeit.«
Kriemhild spürte die Wärme in seiner Stimme. Und zugleich wusste sie, was nun kommen würde. Die Moralpredigt. Nicht in der Erde wühlen. Die Toten ruhen lassen. Doch es kam anders.
»Schau, Königin«, murmelte Johannes, sich mehrmals räuspernd, er strich sich umständlich den langen grauen Bart, »Trauer ist gut. An sich. Du kommst nun Woche für Woche her. Und das seit Jahren. Und solltest doch …«
»Was sollte ich, Pater Johannes?«
»Du solltest deinen Kummer zu Gott tragen. Mit ihm musst du reden, weniger mit deinem toten Mann. Zu Gott dem Vater kannst du all deinen Kummer tragen, er selbst hat …«
»Verzeih mir, Pater!«, unterbrach Kriemhild und ballte die Fäuste. »Gott? Dein Gott mit seinem Sohn Jesus Christus und dem Heiligen Geist – er hat meine Gebete nicht erhört. Manchmal denke ich tatsächlich, ich sollte mich wieder an die alten Götter wenden. Wenn ich an Donars Kraft denke, an Baldurs Schönheit …« Ihre Rede brach ab; sie merkte, was für eine Zumutung ihre Worte für einen Ordensmann waren.
Der Abt sagte nichts, nahm ihre Hand und führte sie zu einer Bank, die im Schatten unter einer alten Ulme lag. Er nahm in der Mitte Platz, Kriemhild setzte sich ans linke Ende.
»Ich habe es dir schon oft gesagt: Du trägst noch Hass in dir. Hass ist nicht gut. Er zersetzt denjenigen, der ihn in sich trägt. Er ist wie Säure, in der sich Fleisch auflöst. – Vergebung! Das ist der Weg, den du beschreiten solltest. Bedenke doch: Nach so vielen Jahren! Du musst Abstand gewinnen, vielleicht kannst du bei Hof wieder am Leben teilnehmen und einen neuen Mann finden.«
»So viele Jahre?« Sie schüttelte den Kopf. »Sag mir: Wie lange ist es denn her?«
»Fast vier Jahre sind nun vergangen seit dem Tod deines Mannes. Vier Jahre sind eine lange Zeit.«
»Vier? Nein. Nein, niemals. Nicht länger als ein, zwei Jahre! Eigentlich kommt es mir so vor, als sei es erst ein paar Wochen her. Mein Gott, diese Endgültigkeit: Es ist, als sei die Sonne fort und ewige Nacht umgibt mich.«
»Die Trauer hat dich blind gemacht, Kriemhild. Blind und unempfindlich gegen den Lauf der Zeiten. Woche für Woche lässt du dich hier herüberbringen, an jedem Donnerstag, Sommer wie Winter. Du hättest damals nach Xanten gehen können mit deinem Schwiegervater. Doch du wolltest hierbleiben, um trauern zu können an Siegfrieds Grab. Ich sagte es schon: Trauer ist gut, aber im Übermaß ist sie schädlich. Vier Jahre ist es her. Du glaubst mir nicht? Schau dein Haar, wie es wieder gewachsen ist. Du hattest es abgeschnitten damals. Du hattest kurze rote Stoppeln wie ein abgeerntetes Getreidefeld. Mach dein Haar auf, löse den Knoten.«
Der Abt kam näher, Kriemhild rückte weiter nach außen, spürte plötzlich Leere unter sich, und hätte Johannes sie nicht rasch am Arm gepackt, wäre sie von der Bank gefallen. Erneut nahm er sie in den Arm, dann zog er behutsam die Nadeln heraus, die das Haar eingesperrt hielten wie in einem Käfig.
Das steht ihm nicht zu, dachte Kriemhild empört, er ist ein Mönch. Das letzte Mal, dass mir jemand ins Haar gegriffen hat, war es Siegfried. Sie wehrte sich aber nicht. Ein überraschender Augenblick des Begehrens flammte in ihr auf, der wahnsinnige Gedanke, wie es wäre, wenn der Abt sein altes Gesicht ihrem näherte, seinen Mund auf ihren presste und …
»Schau dein Haar«, wiederholte Johannes. Sie glaubte, Erregung in seiner Stimme zu hören. »Es hat keinen Glanz, es ist brüchig, aber es reicht dir wieder fast bis zur Brust!«
Kriemhild biss sich auf die Unterlippe. »Und wenn es so wäre – dann ist er schon zwei Jahre weg.«
»Du irrst dich. Vier. Vier Lenze, vier Sommer, vier …«
»Nein«, unterbrach Kriemhild und merkte, wie sich ihre Augen füllten. »Der andere.«
Der Abt schlug sich an die Stirn. »Du sprichst von Gunther, deinem Sohn.«
Sie nickte wortlos und ließ den Kopf hängen.
»Er müsste nun fünf Jahre alt sein, nicht wahr?«
»Ich weiß nicht. Zwei, vier, fünf? Was spielt das alles für eine Rolle? Die Zeiten sind durcheinander. Siegfried tot, mein Sohn fort, in Burgund regieren Schlangen, vorhin habe ich eine Libelle gesehen, und man sagt, Rom gibt es nicht mehr lange. Solange ich hierherkommen kann, geht es mir gut. Vielleicht sendet mir Siegfried doch einen Engel oder erscheint mir im Traum und sagt mir endlich, wo mein Kind ist. Von Gott erwarte ich nichts mehr, vergib mir, Pater Johannes.«
Kriemhild merkte selbst, wie wirr ihre Rede war, und brach abrupt ab. Sie griff unter ihr Gewand, wo sie als junges Mädchen ein silbernes Kreuz getragen hatte. Dort hing nun an einem Lederband ein Säckchen, in dem sie einen Kieselstein aus dem Rhein trug. Nach Siegfrieds Beerdigung hatte sie ihn damals am Ufer aufgesammelt.
Johannes sagte etwas über Maria, die Himmelskönigin, die … Leiden … ihren toten Sohn im Arm … die Mutter des Herrn, sie könne doch …
Die Burgundentochter hörte nicht mehr zu. Sie nahm den Stein heraus und drückte ihn fest.