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Leseproben ausgewählter Bücher

»Lockruf Almanya« Heinz W. Bissinger,Christoph Kloft

 

 

1. Kapitel

 

Fröstelnd wacht er auf. Obwohl der Höhlenboden mit Schaffellen ausgelegt und der Eingang mit Kuhhaut verhangen ist, dringt die Herbstkälte der anatolischen Berge von Emir Dağları bis unter seine Decke. Nur unter seiner Wange fühlt es sich warm und behaglich an, weshalb Ali sich gleich noch tiefer in Aras Fell kuschelt. Ein besseres Kopfkissen als seine Kangalhündin kann der Hütejunge sich nicht wünschen.
Er blinzelt zur Feuerstelle und stellt enttäuscht fest, dass die Glut über Nacht erloschen ist. Sein morgendlicher Cay (Tee)muss also noch warten. Ali gibt sich einen Ruck und steht auf, tritt aus der Höhle heraus, wo seine Schafe friedlich grasen. Sofort springen die beiden Treiberhunde Köpek und Kurt auf und begrüßen ihren jungen Herrn freudig. Die Namen hat Ali ihnen gegeben – Köpek bedeutet Hund und Kurt Wolf. Letzterer ist ein Mischling aus Hund und Wolf. Die Schafherde besteht aus beinah 200 Schafen, die frei weiden dürfen. Ali ist stolz, dass man einem kleinen Jungen wie ihm die Tiere anvertraut hat. Er liebt jedes Einzelne von ihnen. Sein Lieblingstier aber ist die mutige Herdenschutzhündin. Wenn sie auf ihren Hinterbeinen steht, ist sie fast zwei Meter groß. Sogar die Bären und Wölfe, die hier in den Bergen leben, haben Respekt vor Ara, und auch der anatolische Leopard lässt sich auf keinen Kampf mit ihr ein.
Ali lässt den Blick über die Herde schweifen, er blickt über die saftigen Wiesen und die mächtigen Bergketten um ihn herum, deren Kämme majestätisch in den Himmel ragen. Aus den Tälern steigt dichter Nebel auf, nirgendwo auf der Welt könnte es schöner sein.
Die Einsamkeit in der imposanten Bergwelt prägt seine Kindheit, die Stille der Natur ruht in seinem Herzen.
Seine Mutter hat ihn gelehrt, dass Menschen, die in freier Natur leben, die Ruhe und Ausgeglichenheit in sich tragen und in ihren Mitmenschen Bruder und Schwester – Abi und Abla – sehen.
Bei dem Gedanken an seine geliebte Mutter, zu der er als türkischer Junge Anne sagt, entweicht ihm ein schweres Seufzen. Im Spätherbst wird der Abtrieb sein, dann ist er den Winter über wieder bei ihr zu Hause in der warmen Stube, wo sie ihm Gözleme mit Spinat zubereitet. Er liebt es, ihr dabei zuzusehen, wie sie in den Töpfen rührt und den Teig knetet. Sie tut das immer mit einer solchen Hingabe. Bis es aber soweit ist, wird im Bach ganz in der Nähe noch viel Wasser herunterlaufen.

Spät am Abend weht ein starker und eisiger Wind die Berghänge herauf. Es wird Zeit, die Herde aus der höheren Region weiter talwärts zu treiben, bevor der erste Schnee kommt, denkt Ali und schlägt seinen Hirtenmantel enger um sich. Weil die Tiere unruhig sind, zieht er sich noch nicht in die Höhle zurück, sondern kauert sich vor den Eingang, um der Herde nahe zu sein. Gemächlich bewegt Ara sich in Richtung der Schafe. Sie schnuppert hier und da, leckt ihren Rudelgenossen die Ohren, hebt dann und wann den Kopf leicht an und lauscht wachsam dem Heulen der Wölfe, das von der Ferne bis zu ihnen heraufdringt. Auch wenn er es in der Dunkelheit nicht genau erkennen kann, weiß Ali, dass sie das jetzt tut. Sie kennt jedes einzelne Schaf und weiß, wie sie den Tieren Sicherheit vermitteln kann.
Nach und nach kehrt wieder die gewohnte Ruhe in die Herde ein.
Im Mondlicht heben sich in schwarzen Konturen die Bergkämme vom Himmel ab. Wieder kommen Ali Fragen in den Sinn – in letzter Zeit kommt der Hütejunge einfach nicht von einem Gedanken los: Was mag wohl hinter diesen hohen Bergen liegen? Sind dort wieder Berge und Wiesen für seine große Herde? Gibt es dort noch andere Siedlungen? Vielleicht größere als die Kleinstadt Büjükkarabag, die rund 30 Kilometer entfernt liegen soll? Gibt es eine größere Schule? Sind dort sehr viele laute Menschen, die die scheuen und wildlebenden Tiere vertreiben? Wie so oft, wenn er sich mit diesen Fragen beschäftigt, hebt er ratlos die Schultern.
Unzählige Himmelskörper erleuchten die Nacht. Ali blickt nach oben, und ihm ist, als könnte er die Sterne mit den bloßen Händen greifen. In diesem Moment fühlt er sich Allah ganz nah. Er möchte ein gläubiger Muslim sein, aber manchmal vergisst er zu beten, was daheim bei seiner Anne niemals vorkommt. Dort geht es jeden Freitag in die kleine Moschee. Hier oben denkt er meist nur in solchen Augenblicken wie diesem daran. Schnell dreht er sich in Richtung Mekka und dankt Allah für die schöne Natur.
Auch seine Tiere schließt er in sein Gebet ein. Ihre Gesundheit liegt ihm sehr am Herzen. Er weiß, wie man kleinere Verletzungen der Schafe behandelt, und pflegt sie meistens wieder gesund. Manchmal kann er aber auch nicht helfen und er ist sehr traurig, wenn er ein Tier begraben muss. In solchen Momenten bekommt er es mit der Angst zu tun. Was soll er ohne Ara hier, wenn sie mal nicht mehr ist? Sie wird ihn nicht überleben. Und was wird sein, wenn seine Eltern eines Tages sterben? Mutter ist zwar viel jünger als Vater, aber auch sie wird es eines Tages nicht mehr geben.
Neun Monate im Jahr ist Ali mit seinen Tieren hier oben, und nur drei Monate in der Winterzeit lebt er bei seinen Eltern. Eine recht kurze Zeit, findet er. Er würde gerne länger bei seiner Anne sein. Wie gerne er ihr zusieht, wenn sie Fladenbrot backt! Was für ein herrlicher Moment, wenn sie es aus dem Ofen holt und ihm ein kleines Stück zum Probieren abbricht – nichts geht über den herrlichen Duft des warmen Brotes und diesen unbeschreiblichen Geschmack auf der Zunge.
Doch so schön es auch ist bei seiner Anne: Ali weiß auch, wie sehr es ihn in jedem Frühjahr drängt, wieder mit den Tieren in die Berge zu ziehen, wie er sich immer freut auf das frische Gras, das sich gerade erst seinen Weg durch den Boden gebahnt hat, den würzigen Geruch der Zypressen und den Tau, der am frühen Morgen über allem liegt.
Wenn er in den Wintermonaten zu Hause ist, kommt Ali gelegentlich mit den Dorfbewohnern zusammen, deren Schafe er ebenfalls hütet. Viele von ihnen sind laut und stören die Ruhe der Natur. Die Frauen und Mädchen sind verschleiert. Sie leben in ihrer eigenen Welt, arbeiten auf den Feldern und backen am häuslichen Herd Pide. Ali hält nichts von den Mädchen im Dorf, da ist ihm sogar seine Ara lieber. Die Mädchen würden doch vor jedem wilden Tier die Flucht ergreifen, schließlich sind sie von Natur aus ängstlich und feige, wie Vater immer wieder betont. Und was Vater sagt, ist Gesetz. Der hält auch die Ansichten seiner Frau Emine für blödes Weibergeschwätz. Als weibliches Wesen, sagt er, sei sie unrein und habe ihrem Herrn und Gebieter niemals zu widersprechen. Sie sei ihm zu absolutem Gehorsam verpflichtet. Das zeigt er ihr auch bei jeder Gelegenheit. Trotzdem hält Ali seine Mutter, und nur sie, für ein vernünftiges weibliches Wesen.
Zu den Jungen im Dorf hat Ali kaum Kontakt, sie lungern meist nur herum. Die Männer sitzen tagsüber oft stundenlang im Teehaus und spielen Tavla. Dieses Brettspiel will auch Ali eines Tages lernen, doch jetzt fehlt ihm die Zeit dazu. Ebenso, um zur Schule zu gehen. Sein Vater ist froh darüber und glaubt, dass ein guter Hirte keine Schule von innen sehen muss, doch seine Mutter sieht das anders. Für sie ist ein Junge ohne Schulbildung kein richtiger Mensch, sondern kommt einem Tier gleich.
Ali nimmt sich die Einstellung seiner Mutter zu Herzen und möchte eines Tages sehr gerne zur Schule gehen. Manche Leute im Dorf, die sich für zivilisiert halten, finden es nicht gut, dass Ali so eine lange Zeit mit den Tieren in den Bergen verbringt. Angeblich bliebe da die geistige Tätigkeit auf der Strecke. Aber das muss falsch sein, denkt Ali, denn er schafft es schließlich, ganz alleine in der rauen Bergwelt für sich zu sorgen. Mit seiner Hände Arbeit schafft er so viel, wie es die meisten dieser Menschen nicht hinbekommen würden. Auf seinen Wanderungen mit den Tieren fällt es ihm inzwischen leicht, ein Nachtlager aufzubauen, das ihn vor Wind und Regen schützt. Nur bei der Verpflegung mit schnell verderblichen Lebensmitteln braucht er etwas Unterstützung. Hin und wieder kommt sein Vater zu ihm in die Berge, um ihn mit neuen Vorräten zu versorgen. In seinem großen Rucksack bringt er Brot, Dauerwurst, Zwiebeln, Tomaten, Käse, Paprika, Gurken, frischen Knoblauch und selbstgemachten Honig mit.
Ali möchte einmal so mächtig und stark wie sein Vater werden, der die meisten Tiere und die größten Felder von allen hat. Er ist der mächtige Großgrundbesitzer in dieser Region, und sein Wort lässt im nahegelegenen Dorf keine Widerrede zu. Manche im Ort fürchten sich sogar vor ihm. Ali hat vieles von seinem Vater gelernt, vor allem aber, dass das höchste Gut auf der Welt die Ehre ist. Und er empfindet es als besondere Auszeichnung, Ahmet Dogans einziger Sohn zu sein. Ihm gegenüber verhält er sich höflich und voller Respekt, wie es guter Brauch ist. Ebenso wird ein Sohn niemals an den Worten seines Vaters zweifeln und schon gar nicht wird er ihm widersprechen. Die Worte eines Vaters sind Gesetz, welches ein Sohn niemals brechen darf. Sein Leben lang will Ali der beste, dankbarste und treueste Sohn der Welt sein, die Ehre seiner Eltern niemals beschmutzen. Niemals wird ein Sohn sich bei seiner Mutter über den Vater beschweren, und diese wird nie ein böses Wort an den Ehemann richten.
Ali liebt seine Anne abgöttisch, so sehr, dass er für sie sterben würde. Die Ehre der Familie würde er notfalls bis aufs Blut verteidigen. Ebenso, wie er es mit der Herde hält: Er würde sie niemals den Raubtieren preisgeben, sondern sich gemeinsam mit Ara zum Kampf stellen. Das wäre ganz im Sinne seines tapferen Vaters, wenn er todesmutig gegen die Bestien kämpfen würde.
Ein wenig wundert ihn allerdings, dass der Vater nicht mit ihm spricht. Alle Begegnungen zwischen ihnen verlaufen stumm, nur ganz selten werden einige unbedeutende Worte gewechselt. Ali hat seinen Vater bisher niemals lachend, geschweige denn lustig gesehen. Er ist ein sehr ernster Mensch, der den Umgang mit anderen scheut. Wenn Baba ihn anschaut, hat Ali den Eindruck, dass er durch ihn hindurchsieht, ohne ihn wahrzunehmen. Nie hört er von ihm ein wohlwollendes oder gar lobendes Wort. Dafür wird er aber auch nicht getadelt. Hat er etwas falsch gemacht, schaut der Vater ihn nur strafend an und geht davon, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Ist eine Arbeit nicht richtig ausgeführt, flucht er leise vor sich hin und behebt den Fehler.
Es schmerzt Ali sehr, dass sein Baba ihm so fremd ist, und manchmal ist er erleichtert, wenn der Vater nach einem Besuch in den Bergen den Heimweg antritt. Wieder mit seiner Hündin allein bei der Herde zu sein, beruhigt ihn sogar. Manchmal laufen an solchen Tagen Tränen über sein gebräuntes Gesicht, die Ara aber sofort mit ihrer Zunge ableckt.

 

 

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