Leseproben ausgewählter Bücher

»Sie war eine von uns« Christoph Kloft

 

 

Fürchterlich! Sie musste weg. Weg vom Schreibtisch, von den Aktenbergen, von der bedrückenden Stimmung in ihrem engen Arbeitszimmer. Draußen strahlte die Sonne und Katharina rannte so schnell sie konnte. Völlig außer Atem stützte sie sich an einem Baum ab und ließ ihren Blick über die Wiesen streifen. Das Manuskript wollte einfach nicht wachsen, und sie quälte sich mühsam Zeile um Zeile voran. Es gab Momente, da fühlte sie sich von ihrer Aufgabe schlichtweg überfordert. Sie, die Kriegsenkelin, sollte ein Buch schreiben über eine Jüdin, die vor über siebzig Jahren gequält, gefoltert worden und am Ende nur knapp dem Tod entgangen war. Die Akten türmten sich auf ihrem Schreibtisch: Alte Briefe, Fotos, Zeitungsausschnitte. Manchmal machte ihr der riesige Berg nur noch Angst, und die Zweifel wurden übermächtig: Sie gehörte zum Volk der Täter. Irmgard Schaumburger war sie nie begegnet, denn die war Anfang der neunziger Jahre gestorben, und Katharina war sich nicht einmal sicher, ob sie viel miteinander hätten anfangen können, wenn sie sich denn einmal getroffen hätten.
Irmgard schrieb in ihren Briefen so altmodisch, so hausbacken, war immer auf Ausgleich und Versöhnung bedacht, und das war alles andere als Katharinas Ding. In ihrem Geschichtsverein machte sie sich dafür stark, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten schonungslos aufgearbeitet wurden, Gnade für die Familien der Täter kannte sie nicht, und in ihren Veröffentlichungen nannte sie stets Ross und Reiter.
Dann dieser fast harmonische Ton von Irmgard. »Die Zeiten waren für uns alle schwer«, schrieb sie an Freundinnen in Deutschland, und allein schon dieser Satz machte Katharina wütend: Nein, die Leiden der Juden waren doch nicht vergleichbar mit denen der anderen Deutschen!
Und jetzt sollte sie ein Buch über diese jüdische Frau ­schreiben, die durch Glück, Zufall und vielleicht etwas Hilfe von außen der Deportation nach Auschwitz dreimal entkommen war.
Sie sollte das Buch schreiben – selbst das entsprach nicht der Wahrheit. Sie wollte es schreiben. Sollen sagte man gern, das klang wichtig – wenn man schon darum gebeten wurde, ein Buch zu schreiben, wie wichtig war man dann erst selbst? Die reine Koketterie, was sie da manchmal von sich gab. Oder war es vielleicht gar eine Rechtfertigung? Entschuldigte sie sich am Ende etwa dafür, dass sie sich schon wieder mit der unseligen Vergangenheit beschäftigte, die man – wie von so vielen gefordert – doch endlich einmal ruhen lassen sollte?
Bisweilen verunsicherten sie ihre Selbstzweifel so sehr, dass sie nicht in der Lage war, auch nur ein Wort in ihren Computer zu tippen. Dabei gab es doch durchaus den ein oder andern, der es gerne gesehen hätte, wenn Irmgards Geschichte nach all der Zeit endlich einmal festgehalten wurde, aber wirklich gedrängt dazu hatte sie niemand.
Aus freien Stücken hatte Katharina begonnen, sich mit dem Schicksal der jungen Jüdin aus der benachbarten Kleinstadt zu beschäftigen.
Anfangs hatte sie sich nicht gefragt, ob sie das konnte, sondern nur, ob sie es überhaupt durfte. Und je tiefer sie in Irmgards Leben eingedrungen war, umso mehr wuchsen die Zweifel. In ihren schlaflosen Nächten stand sie auf und setzte sich an den Schreibtisch. Es ging nicht anders, sie musste es niederschreiben. Tief sank sie dann ein in Irmgards Geschichte, so tief, dass sie sich manchmal dabei ertappte, wie sie mit dem Stoff zu hadern begann und schließlich laut mit Irmgard redete: »Unsere Väter und Großväter waren es doch, die dir all das angetan haben. Warum sollte also gerade ich dazu berufen sein, dein Schicksal aufzuschreiben? Das kannst du doch unmöglich gut finden!« Sie wusste, dass sie die Antwort selbst finden musste. Sie, Heimatforscherin mit recht überschaubarer Reputation, die vor vielen Jahren einmal Geschichte studiert hatte und heute für eine Tageszeitung über Lokalpolitik und Kulturveranstaltungen schrieb. Sie brachte für eine solche Aufgabe höchstens ein ehrliches Interesse an der Wahrheit mit und konnte mit Blick auf die eigene Familie allenfalls wie so viele andere sagen: »Meine Großeltern waren zwar nicht im Widerstand, aber mit den Nazis hatten sie dennoch nichts am Hut.«
Vom Holocaust erfahren hatte Katharina erst spät. In ihrer Jugend war das Thema tabu gewesen. In der Schule genauso wie zu Hause. Mutter und Vater waren wie alle anderen Eltern immerzu fleißig gewesen. Ob hinter dem Herd oder in der Fabrik. Heute wusste Katharina, warum sie so viel gearbeitet hatten: Um zu vergessen, um nicht erinnert zu werden. Heute konnte sie die Eltern nicht mehr fragen – Vater war tot, Mutter hochgradig dement.
Und auch wenn sie selbst aus dem Tal der Ahnungslosen kam, wollte Katharina den Versuch wagen, Irmgards Geschichte festzuhalten. Dieses Schicksal durfte nicht einfach untergehen. Ob sie jemals damit an die Öffentlichkeit gehen würde, stand noch in den Sternen.

 

 

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