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»Das Schwarz im Regenbogen« Margret Drees

 

 

Das Schwarz im Regenbogen

 

Dieser Weg wird sein bisheriges Leben völlig verändern. Doch ehe er aufbricht, möchte er sich noch einen Moment der Ruhe gönnen. Er setzt sich in der Stube auf die Holzbank hinter dem Tisch und wird alles noch einmal überdenken. Sein Plan ist zweifellos gut, aber er könnte einen Fehler bergen, der ihm bisher nicht aufgefallen ist. Er schließt die Augen und versucht, sich den Ablauf der nächsten Tage und Nächte so genau wie möglich vorzustellen. Er muss sich anstrengen, um sich zu konzentrieren. Während er an den Weg denkt, den er sich zwar als weit und recht beschwerlich ausmalt, nehmen die Nächte keine konkrete Vorstellung an, da er zum ersten Mal in seinem Leben womöglich im Freien übernachten wird und noch dazu allein, falls er nicht irgendwo einen Unterschlupf findet. Aber vielleicht, da lässt er sich überraschen, findet er irgendwo einen Schuppen oder eine Scheune, wo er sich unbemerkt ausruhen kann. Dennoch kommt er zu der Überzeugung, die optimale Lösung gefunden zu haben.
Erst als er die Augen wieder öffnet, fällt ihm auf, dass er eine ihm eigentlich fremde Haltung eingenommen hat. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, die Handflächen flach aufeinander gelegt, mit den Daumen das Kinn gestützt und mit den Zeigefingern die Nasenspitze. Er empfindet diese Geste als sonderbar und ihm selbst fremd, will sich aber auf keinen Fall damit beschäftigen, um sie einzuordnen. Schließlich gibt es jetzt Wichtigeres. Er muss sich so schnell wie möglich auf den Weg machen, wenn er, wie er es sich vorgenommen hat, bis zum Einbruch der Dunkelheit zumindest das erste Viertel der Strecke oder sogar noch mehr zurückgelegt haben will.
Jetzt gilt es erst einmal, das Schuhwerk zu richten. Das muss stimmen und darf ihm nicht zu schaffen machen. Er holt seine Stiefel herbei, setzt sich abermals und umwickelt sehr sorgsam zunächst seinen rechten Fuß mit einem weichen Tuch, legt es dort in Falten, wo sie ihn nicht drücken werden und schlüpft in den Stiefel. Danach verfährt er mit dem anderen Fuß auf die gleiche Weise.
Der Proviant für unterwegs. So wenig wie möglich. Er hat schon genug zu tragen. Also kein Gewicht zusätzlich. Er holt ein Stück geräucherten Speck aus der Kammer und den angeschnittenen Brotlaib. Beides wickelt er in ein Leinentuch und verstaut es in einem Lederbeutel, den er sich mit einem Lederband um den Leib schnallt. Ein Messer noch und einen Becher. Wasser wird er unterwegs genügend finden. So kann man zurechtkommen. Auf dem Rückweg wird er in Dorfgasthäusern einkehren.
Er zieht sein Wams an und den Rock, nestelt an dem Brotbeutel, der etwas stört unter den Kleidungsstücken, zieht den Rock wieder aus und legt ihn auf die Bank. Es könnte ihm zu warm werden. Die Sonne besitzt schließlich noch Kraft, jetzt, Ende September.
Als nächstes der Keller. Ein gewisses Unbehagen will sich bei ihm einschleichen. Das darf er auf keinen Fall zulassen. Er muss es verdrängen, wie er alles in den nächsten Tagen verdrängen muss, was nicht zu seinem Plan gehört. Das Wachslicht im Keller ist fast heruntergebrannt. In seinem spärlichen Licht vergewissert er sich noch einmal, ob alles in Ordnung ist, ob nichts mehr herumliegt oder -steht, was nicht dort hingehört. Dann nimmt er den bereits gepackten Rucksack, sein altes Felleisen, bläst das Wachslicht aus und schließt im Hinausgehen die Kellertür. Schwer wie ein menschlicher Körper, der ohne Halt zu Boden fällt, fällt die Tür in den groben Holzrahmen, der sich schräg an die Hauswand anlehnt, und lässt die Mauern des Hauses, die ihn halten, erschüttern.
Den Rucksack stellt er vor der Haustür ab und geht noch einmal zurück in die Stube. Auch hier ist alles so, wie es sein soll. Wie es sein soll? Aber irgendwie nimmt er es anders wahr, als er es gewohnt ist. Die Einrichtungsgegenstände scheinen ihn anzustarren wie lebendige Wesen; sie wirken beredt trotz ihrer Starre, als wollten sie ihm etwas zurufen oder ihn etwas fragen. Sie schreien in der Stille des Raumes. Sie schreien einen Namen, einen wohlbekannten Namen, den er vorerst vergessen muss, sonst wird er nicht überleben, und er muss überleben, weiter leben, ohne diese starken Gefühle. Er muss sie verdrängen, weil sie ihn sonst zerreißen würden. – Er nimmt seinen Rock und hängt ihn lose über seinen Brotbeutel. Nachts wird er ihn brauchen. Dann verschließt er auch die Haustür. Das Schloss krächzt wie eine unsympathische schrille Weiberstimme. Es müsste geölt werden. Den Schlüssel hängt er, wie mit Marie vereinbart, im Hühnerstall an den Nagel hinter der Tür. Marie wird während seiner Abwesenheit die Kuh, die Katze und die Hühner füttern und die Eier ins Haus bringen.
Den Keller wird sie nicht betreten. Sie fürchtet sich vor Spinnen. Er hat ihr deswegen in der Vergangenheit so manchen Gang in den Keller abgenommen, ohne dass seine Frau es bemerkte. Sie hätte es nicht geduldet. Wieso nimmst du ihr die Arbeit ab? Sie wird als Magd bezahlt und soll ihre Arbeit machen. Das ist das einzige, was von ihr verlangt wird. So oder ähnlich hätte sie reagiert.
Dann wuchtet er sich das Felleisen auf den Rücken. Er hat sich vorgenommen, sich nicht von dem Gewicht beeindrucken zu lassen, sondern ihn eher leicht als schwer zu empfinden. Durch das, was und wie man denkt und fühlt, sagt er sich, kann man vieles beeinflussen.
Vorsichtig schaut er zum Kirchhof hinauf. Sonntags nachmittags gehen die Leute aus dem Dorf gern zu ihren Toten, treffen sich zwischen den Gräbern, um bei den Toten über die Lebenden zu tratschen. Aber es ist so still da oben, als wären auch die Lebenden alle selbst schon weggestorben.
Die Sonne verhakt sich in den Bäumen, ehe sie sich vorsichtig über die Kirchhofsmauer tastet, um sich unbemerkt davonzustehlen. Das Dorf hat sie ganz einfach übersprungen, als ob es gar nicht da wäre, und als ginge sie das alles nichts an, was dort geschieht. Stattdessen scheint sie auf den spärlich bewaldeten felsigen Hügel jenseits des Baches, als wenn der eher als das Dorf Licht und Wärme verdient hätte.
Er fühlt sich unbeobachtet, als er, um abzukürzen, die große Wiese, die dem Pfarrhaus gegenüber liegt, überquert, dann die Straße und die Brücke, die über den Bach führt, erreicht so den Wald und verschwindet zwischen den Bäumen. Doch es ist zu beschwerlich, quer durch den Wald zu gehen. Das schafft er nur ein kleines Stück. Dann muss er zurück auf den Weg. Dort geht es sich besser und leichter. Aber er ist ja noch jung, und diese kleine Anstrengung macht ihm nichts aus. Er ist nur ein wenig außer Atem gekommen.
Den Wald und die Umgebung kennt er gut von seinen Spaziergängen. Hier würde er sich im Dunkeln zurechtfinden. Nach ungefähr einer knappen Stunde kommt er zu der ihm wohlbekannten Wegkreuzung. Bis zu dieser Kreuzung ist er meistens gegangen und dann auf einem Umweg zurück zum Haus. Eigenartigerweise ist er nie einem der beiden anderen abzweigenden Wege gefolgt. Nun gilt es, sich ostwärts zu halten. Es wird des Öfteren vorkommen, dass der Weg einmal mehr nach Süden oder nach Norden abdriftet. Dann muss er bei der nächsten Gelegenheit die Richtung korrigieren, wenn der Weg es nach einer gewissen Strecke nicht selbst tut. Es ist gut, dass die Sonne noch scheint; sie gibt ihm die Richtung an, und später wird es der Mond sein. Das bringt ihm die Sicherheit, sich nicht zu verlaufen.
Nun gilt es, sich einzulaufen, in einen gleichmäßigen, fließenden Rhythmus zu kommen, so dass er seine Schritte nicht mehr wahrnimmt. Weder die Schritte, noch seine Füße, noch seinen Körper und auch nicht das Gewicht auf seinem Rücken. Alles muss in ein unbewusstes Fließen und Gleiten übergehen, damit er nur noch sein Ziel vor Augen hat und alles andere vergisst. Vergisst, was nicht mehr in sein Leben gehört. Gehen und sich ablenken lassen durch die Dinge am Wegrand. Gehen und nichts denken, soweit das möglich ist. Oder gehen und an schöne Dinge denken. Doch dazu wird es eines kleinen Anstoßes bedürfen, um den Gedanken und dem Unterbewusstsein die richtigen Bahnen vorzugeben. Eines kleinen Impulses. Vielleicht nur eines Wortes. Vielleicht des Wortes Freiheit.
Ja, Freiheit!
Er denkt es mehrmals und spricht es aus, erschrickt über seine eigene Stimme, schweigt, flüstert es, flüstert es mit Nachdruck. Immer und immer wieder, bis er glaubt, es begriffen zu haben, das eine Wort, das ihm golden entgegenleuchtet, so golden wie das Herbstlaub. Ein Wort, das sich atmen lässt wie die von der Sonne durchtränkte Luft, leicht und unbeschwert. Freiheit! Das verheißungsvoll raschelt wie das trockene Laub auf dem Weg unter seinen Füßen. Das seine Flügel ausspannt und die Vergangenheit wie leichte weiße Wölkchen davonträgt. Gehen. Davontragen. Gehen. Davontragen lassen. Gehen. Gehen. Bis die Füße eins werden mit dem Weg.
Nach einer gewissen Zeit erreicht er diesen Zustand des Schwebens, einen Zustand fast von Schwerelosigkeit. Er bewegt sich, als habe sein Körper sich verwandelt und als hafte seinen Gliedern nicht mehr die Schwere der Materie an. Auf diese Weise kommt er gut voran. Nur ab und zu kommen Gedanken. Wie aus dem Nichts. Gedanken, die er nicht denken will. Er schiebt sie von sich und ist selbst darüber erstaunt, wenn es ihm gelingt. Und manchmal der Gedanke an Marie. Was wird sie sagen, wenn er zurückkommt? An Marie will und darf er nicht denken. Jetzt nicht. Noch nicht. Noch lange nicht. Marie, die gute, einfache, ehrliche Marie. Er weiß, dass sie ihn verehrt, zu ihm aufschaut, vielleicht sogar bewundert. Ja, er könnte sich mit ihr ein einfaches, glückliches Leben vorstellen. Das vielleicht gerade deshalb glücklich wäre, weil es einfach ist. Die Zeit wird es bringen. Nur jetzt nicht daran denken. Sich auf den Flügeln der Freiheit tragen lassen.
Er wird heute schon ein großes Stück des Wegs zurücklegen, wenn er das Tempo beibehält. Das geradewegs vor ihm liegende Dorf muss er allerdings umgehen, denn hier könnte er jemandem begegnen, der ihn kennt. Und das will er auf jeden Fall vermeiden und blödsinnigen Fragen aus dem Weg gehen. Bloß – diese Umwege kosten Zeit. Geradewegs durch das Dörfchen könnte er es sehr schnell passieren. Stattdessen nimmt er jetzt den abzweigenden Feldweg, der schon weit außerhalb des Dorfes um das Dorf selbst herum und durch die Felder führt. Dann durch ein Wiesental. Es geht leicht bergab und wieder bergauf. Auf einer Wiese stehen alte, verkrüppelte Zwetschenbäume. Vereinzelt hängen noch Früchte daran, verhutzelte Früchte, die er sich pflückt, so weit er daran reicht. Sie schmecken köstlich. Das Fruchtfleisch ist goldgelb und süß. Viele von Wespen angefressene Zwetschen liegen auf dem Boden und faulen vor sich hin.
Er hätte, als er sich nach den Früchten reckte, den Rucksack ablegen sollen. Nun ist er verrutscht und lässt sich nur schwer wieder in die richtige Position bringen. Die Trageriemen schneiden ein, ganz gleich wie er sie auch schiebt. Und irgendwie hat er das Gefühl, dass überall dort, wo das Felleisen auf seinem Rücken aufliegt, sich seine Kleidungsstücke feucht anfüh-
len.
Aber natürlich!, beruhigt er sich selbst. Schließlich ist er schnell gegangen, bergauf, bergab, bergauf, bergab ein großes Stück Weg. Da schwitzt ein normaler Mensch. – Er ist ein normaler Mensch. Ein ganz normaler Mensch. Er, Friedrich Wilhelm Esenburg. Manchmal muss man sich sagen, wer man ist. Und zwar dann, wenn einem ist, als habe man es vergessen. Wenn das Leben oder das Schicksal oder wie man es auch nennen mag stärker ist als man selbst.
Inzwischen gelangt er wieder auf seinen Weg. Von hier aus kann er das Dorf mit seinen Wiesen und Feldern überblicken. Friedlich liegt es da. Nur ein paar leise Geräusche dringen zu ihm herüber. Geräusche, die ihr Gesicht nicht zeigen und sich nicht zu erkennen geben und schnell wieder vergehen. Eins werden mit der Landschaft, als ob sie nie da gewesen wären.
Überall Krähen auf den Feldern und auf den Wiesen. Groß wie schwarze Hühner. Schlau und scheu zugleich halten sie Abstand zu den Menschen und sogar untereinander. Trauervögel. Totenvögel. Schweigend stolzieren sie durch die Wiesen. Immer das Wissen um den Tod im Blick und jederzeit Totenlieder parat. Bei keinem anderen Dorf halten sich so viele Krähen auf. Er muss unwillkürlich an die Hochgerichtsstätte denken. Nicht weit von hier, in nördlicher Richtung. Der Wasen dort immer niedergetreten von Neugierigen. Es ist, als ob die Krähen die Nähe dieses schaurigen Ortes suchten.
Es dauert eine Weile, bis er seinen Rhythmus wieder findet. Aber dann kommt er gut voran, denn der Weg bleibt jetzt auf der Höhe.
Er geht, ohne an die Zeit zu denken, ohne den Weg zu messen. Es ist wunderbar! Auf diese Weise geht er Stunde um Stunde, versucht, nichts Zusammenhängendes zu denken, wenngleich seine Gedanken sich ständig verselbstständigen wollen.
Drei kleine Siedlungen liegen abseits des Weges, so dass er jetzt keine Umwege gehen muss. Ein Hund zerbellt die Stille, und in einem Stall brüllen Kühe. Als er in die Nähe des Stalles kommt, hört er sogar gedämpft das Klirren der eisernen Ketten, an die die Tiere vermutlich angebunden sind. Die Gegend hier kommt ihm nicht mehr bekannt vor. Wenn auch der Wald, der Weg, das dürre Laub überall gleich zu sein scheinen. Hier wie dort, überall auf der Welt.
Da erblickt er in der Ferne plötzlich eine Gestalt, die auf ihn zukommt. Als sie näher kommt, erkennt er, es ist ein Mann mit einer Fidel. Ausweichen kann er nun nicht mehr. Also, so unauffällig wie möglich verhalten. Das bedeutet: grüßen und weitergehen. Nur im Notfall ein paar belanglose Worte wechseln. Eine Frage stellen und das Interesse auf den anderen lenken. Ehe es dazu kommt, will der Fremde von ihm wissen, wohin er wolle. Er reagiert nicht auf dessen Frage und bringt seinerseits die Rede auf die Fidel.
»Du bist nicht von hier, sonst wüsstest du auch, wo ich heute zum Tanz aufspiele. In dieser Jahreszeit spiele ich oft sonntags in irgendeinem Dorf zum Tanz. – Ich merke es an deiner Sprache, du bist nicht von hier.«
Nein, nein, er ist nicht von hier. Er besucht entfernte Verwandte. Eine schöne Landschaft ist das hier. Viel abwechslungsreicher als im Norden. Da, wo er herkommt. Der letzte Satz schon im Weitergehen gesprochen.
Man winkt sich zum Abschied zu.
Der andere pfeift ein Liedchen vor sich hin. Ein Musikant muss gut gelaunt sein.

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