Leseproben ausgewählter Bücher

»Das Geheimnis der klingenden Messer« Regine Brühl

 

 

Kapitel 1
Inga

 

Ein kalter Wind weht, obwohl das Frühjahr naht. Wie jedes Jahr, findet am Sonntag nach Aschermittwoch in der Vulkaneifel das Radscheewen statt, ein Brauchtum zum Vertreiben des Winters. Diese uralte Tradition aus heidnischer Zeit besagt, dass die Art und Weise, wie ein angezündetes Strohrad den Berg herabläuft, Aufschluss darüber gibt, ob es ein gutes oder ein weniger gutes Jahr werden wird.
Dieses Schauspiel wollen Max und ich uns nicht entgehen lassen. Wir bringen unsere dreijährige Tochter Anna bei meiner Freundin Babs vorbei, die gerne auf sie aufpasst, und machen uns auf den Weg in die Vulkaneifel. Am Feuerwehrhaus des kleinen Dorfes in der Nähe von Hillesheim parken wir. Es ist ein typisches Eifelörtchen: Ein paar Häuser, eine Kirche mit angrenzendem Friedhof und eine Wirtschaft.
Vereinzelt sind Menschen unterwegs. Wanderer, Einheimische, die Feuerwehrjugend, einige Bewohner aus anderen Orten sind gekommen, um von einem günstigen Platz aus zuzusehen, wie bei Anbruch der Dunkelheit der alte Brauch mit Hilfe der Feuerwehr durchgeführt wird. Etwas desorientiert laufen wir die Hauptstraße entlang und warten auf die Dämmerung.
Drei Jungs in Uniformen kommen uns entgegen.
»Von welcher Stelle aus hat man den besten Platz?«, möchte Max wissen.
»Kommt mit, wir zeigen es euch«, antwortet der Älteste und führt uns zu einer Hofeinfahrt mit freiem Blick auf den Berg hinter dem Dorf.
»Wir gehen jetzt da rauf und zünden dann die Ballen an.«
Gespannt blicken wir den jungen Männern nach, die mit Taschenlampen in den Händen den Berg hochkraxeln. Mir ist kalt, Max legt seinen Arm um mich.
»Lass uns besser dort unten zum Fuße des Berges gehen!«, schlage ich vor. »Dann werden meine Zehen beim Gehen wieder warm und außerdem können wir dann das Ausrollen der brennenden Ballen gut beobachten.«
Wir gehen die Dorfstraße entlang und kurz darauf bemerken wir, wie oben am Hang mit Feuer hantiert wird.
Als Männer ein mit Stroh ausgestopftes stählernes Rad anzünden, lodert das Feuer hell auf. Der erste brennende Ballen rollt mit beachtlichem Tempo den Berg herab und versprüht Funken. Irgendwie ein schauriger Anblick, denke ich und erlebe ein kurzes Déjà-vu: Ich sehe, wie ein Feuer auflodert und ich große Angst verspüre – da wird bereits der zweite brennende Strohballen angestoßen. Doch ich weiß: Die Feuerräder sollen die Frühlingssonne symbolisieren, die Wärme und Licht bringt.
Bereits das dritte brennende Rad rollt nun den Berg hinab ins Tal. »Je ruhiger es sich bewegt, umso besser wird das Jahr!«, erklärt uns ein Dorfbewohner, der neben uns steht. Mir fällt auf, dass der Strohballen ordentlich eiert. – Hoffentlich kein schlimmes Omen.
Die Feuerwehrmänner singen laut und kommen mit Fackeln den Berg herab.
Eines der Räder gelangt fast bis zu der Stelle, an der wir stehen und bleibt schließlich in einer Kuhle liegen. Es riecht merkwürdig. Nach verbranntem Fleisch. Aber das kann doch nicht sein? Das Licht ist hell, es brennen immer noch Strohreste. Als sie langsam verglimmen, fällt mein Blick auf etwas unförmig Verkohltes. Ich schreie auf, doch der Laut bleibt mir im Halse stecken. Ich erkenne die Umrisse eines verkohlten menschlichen Körpers im abgebrannten Rad! Voller Ekel wende ich meinen Blick ab, ich will schreien, doch kein Laut dringt aus meinem Mund. Dann wird mir schwarz vor Augen.
Auf einer Trage werde ich wieder wach. Zwei Männer vom Roten Kreuz sind dabei, meine Pulsfrequenz zu messen, meine Beine haben sie hochgelegt. Ich liege in einem Krankenwagen, die Türen sind geöffnet. Obwohl mir noch recht schwummrig zumute ist, schrecke ich hoch. »Was ist passiert?«
»Entspannen Sie sich erst einmal. Die Polizei wurde alarmiert und ist bereits vor Ort.« Ich schaue über meine Füße hinaus und sehe, dass ein Streifenwagen auf den Platz einfährt. Ein Polizeibeamter steigt aus und kommt auf mich zu.
»War diese Dame Augenzeugin?« Dann folgt ein irritierter Ausruf: »Inga!«
An seiner Stimme erkenne ich ihn. Es ist Christopher. Christopher Lepert. »Ja, um Himmels willen, Inga!«
»Was machst du denn hier, Christopher?« Ich habe ihn Jahre nicht gesehen. Früher arbeitete er in Bad Münstereifel. Damals war er an der Aufklärung eines Falles beteiligt, der unser Fachwerkhaus in Bad Münstereifel betraf. Die Haare an seinen Schläfen sind leicht angegraut, aber sonst hat er sich überhaupt nicht verändert.
»Vor gut zwei Jahren habe ich mich nach Daun versetzen lassen. Seitdem wohne ich hier im Nachbarort. Fühlst du dich gut genug, um mir ein paar Fragen zu beantworten?«
Der Sanitäter bittet Christopher, das auf später zu verschieben. Ich bin jedoch froh, dass er hier ist. »Es ist schon in Ordnung.«
Ich höre im Hintergrund, wie weiter entfernt Max mit einem Polizisten und einem Feuerwehrmann spricht.
»Was ist hier los? Wie kommt ein Mensch in so ein Rad? Wer tut sowas?«
Christopher setzt sich zu mir auf die Trage im Krankenwagen. »Wir werden jetzt erst einmal die Zeugen des … äh, Vorfalls befragen. Die Feuerwehrleute, die anwesend waren, als die Strohballen hergerichtet wurden, sagen, die Reifen wären am Nachmittag hier im Feuerwehrhaus mit Stroh befüllt und dann hinauf auf den Berg gebracht worden. Dort lagen sie bis zum Anbruch der Dunkelheit. Erst danach ist die Löschgruppe den Hang hinauf und hat die Ballen mit ihren Fackeln angezündet, natürlich ohne sie vorher noch einmal näher zu untersuchen. Wir vermuten, dass jemand in der Zwischenzeit dort gewesen sein muss, der die Person inmitten des Strohrades versteckt hat.«
Inga überlegt einen Moment. »Das ist sehr merkwürdig. Wie konnte denn jemand mit Gewalt festgehalten werden?«
»Es müssen alle Eventualitäten bedacht und noch einige Untersuchungen durchgeführt werden, bevor wir Näheres sagen können. Die Person könnte bereits tot gewesen sein, als sie in das Rad gesteckt wurde. Nun versuche dich mal ein wenig zu beruhigen, Inga, du zitterst ja am ganzen Körper.«
»Wie soll ich mich denn beruhigen? Ich habe einen verkohlten Menschen gesehen! Dieses Bild werde ich nie vergessen, nie!«
Der junge Sanitäter bereitet eine Spritze vor und sagt ganz behutsam zu mir: »Dann können Sie jetzt erst einmal etwas ausruhen.« Ich hebe abwehrend die Hand. »Halt! Christopher, wo finde ich dich?«
»Ich melde mich in Kürze bei dir. Ich habe ja noch deine Nummer.«
Nach der Injektion falle ich in einen tiefen Schlaf.

 

 

Kapitel 2
Inga

 

Etwa drei Wochen nach dem Vorfall geht es mir etwas besser. Doch der Anblick des verkohlten Menschen hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Der Schock sitzt mir tief im Nacken. Ich habe Verständnis dafür, dass Max durch seine Arbeit als Lehrer im St. Angela-Gymnasium zu beschäftigt ist, um über das Erlebte nachzugrübeln. Jedenfalls spricht er nicht mit mir darüber. Aber er hat den Toten nicht so direkt angesehen wie ich. Als das noch glimmende Rad ein paar Meter vor meinen Füßen zum Stillstand kam und sich mir dieser grauenhafte Anblick bot, stand er etwas weiter abseits. Bereits zu Anfang, als die Feuerräder im Dunkel der Nacht losrollten, überkam mich eine tiefe Furcht, die mir unerklärlich ist. Ob diese durch die lodernden Flammen bei mir ausgelöst wurde oder durch etwas anderes, kann ich nicht so recht einordnen.
Anna ist im Kindergarten, ich bin allein in meinem Buchladen und starre die Wände an. Ab und zu schaue ich raus auf den Markt, ein paar Schneeflocken fallen auf die Straße. Gerade kommen nur wenige Kunden, so dass mein Job mir wenig Zerstreuung bietet. In meinem Handy suche ich die Mobilnummer von Christopher und hoffe, dass er sie nicht gewechselt hat. Ich wähle …
»Lepert?«
»Christopher, bin ich froh, dich zu erreichen. Hier ist Inga.« Die große Erleichterung in meiner Stimme kann ich nur mit Mühe unterdrücken.
Christophers Stimme wechselt von beruflich korrekt zu kumpelhaft freundlich. »Hi Inga! Schön, dass du dich meldest, du kannst dir ja sicher denken, was hier in den letzten Tagen los war.«
»Habt ihr schon etwas herausgefunden?«
»Das kann ich dir jetzt nicht am Telefon erzählen, bin noch im Dienst. Können wir uns sehen?«
»Ja, doch, ich denke schon …« Fieberhaft überlege ich, wie … Doch Christopher kommt mir zuvor. »Was hältst du von einem Kurztrip zu mir in die Vulkaneifel?«
»Ja, sehr gerne. Wann denn?«
»Morgen?« Durch die Leitung hindurch höre ich lautes Gebrüll. Im Hintergrund scheint eine Rauferei stattzufinden.
»Was ist denn da bei euch los?«
»Ein Betrunkener randaliert, warte …« Christopher scheint sich von der Lärmquelle zu entfernen.
»So, nun verstehe ich dich wieder. Möchtest du morgen vorbeikommen? Lass uns zu den Maaren gehen und eine kleine Runde drehen, ja?«
»Au ja. Wo treffen wir uns?«
»Am Parkplatz beim Weinfelder Maar? Um 11 Uhr?«
»Perfekt, das passt. Bin gespannt, was du zu erzählen hast.«
Christopher lacht. »Jede Menge … verlass dich drauf.«

 

 

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