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»Am Kornsand« Ute Bales

 

 

 

Rheinufer

 

Die Geschichte fängt an, lange bevor Helga geboren wird, und sie hat kein Ende. Sie fängt auch nicht mit Helgas Eltern an, eher mit den Großeltern, aber das ist ungewiss. Jedenfalls fußt die Geschichte auf einem ganzen Jahrhundert, aber wie Jahrhunderte so sind, verraten sie immer erst aus großer Entfernung, dass das, was passiert, mit allem verknüpft ist, was vorher war und sich mit allem verknüpft, was nachher kommt.

 

Der 21. März 1945 war ein kalter, aber sonniger Tag und er begann vielversprechend. Die Alliierten hatten die letzten von deutschen Truppen gehaltenen Teile des Westwalls durchbrochen und den Rhein erreicht. Der Brückenkopf Nierstein-Oppenheim war in der Nacht von deutschen Truppen geräumt worden. Weiter nördlich waren amerikanische Truppen von ihren Positionen in der Eifel zum Rhein vorgerückt. Zuvor hatten die sich zurückziehenden deutschen Truppen die Eisenbahnbrücke bei Mainz gesprengt, dann die Rheinbrücke in Gernsheim, von Nierstein aus gesehen ein Stück flussaufwärts. Bad Kreuznach war den US-Truppen kampflos übergeben worden. Kampfkommandanten, Stäbe und Ortsgruppenleiter hatten das linksrheinische Gebiet verlassen. Der Krieg war auf dieser Seite des Rheins beendet.
Was sich an diesem 21. März gegen 15 Uhr am Kornsand, der anderen Rheinseite, abspielte, geschah nur ein paar Stunden zu früh.
Etwas später, und es wäre gar nicht geschehen.
Nachdem es aber geschehen war, schlug man einem jungen Mann auf die Schulter.
Gut gemacht.
So jung und so tapfer.
Weiter so.
Danach war die Schnapsflasche herumgereicht worden.

 

In diesen Tagen nahm kaum jemand Notiz vom Geschehen am Kornsand. Denn in diesen Tagen trieben kleine Dosen mit Sardinen oder Blutwurst, ein Kanten Brot, etwas Mehl oder eine Handvoll Kartoffeln die Menschen zum Wahnsinn. Unzählige Häuser lagen zerstört, auch Straßen und Bahnlinien. Über allem der üble Geruch von Brand. Plünderer, Fremdarbeiter, Flüchtlinge, Kahlgeschorene, Zerlumpte, Schreiende, Hungernde, Obdachlose in Kellern und Erdlöchern, streunende Kinder zwischen Schuttbergen, Leichen und Ratten waren nicht zu zählen. Typhus, Fleckfieber, Ruhr, Krätze, Läuse plagten. Überall gab es Opfer von Gewalt, überall Täter. Es gab keine Schulen mehr, keine Schwimmbäder, keine Cafés, keine Parks mit Blumenbeeten, keine Kinos, keine Theater. Auch keine Banken, keine Verwaltungen, keine Läden. Wer etwas brauchte oder anzubieten hatte, hielt sich an dunklen Straßenecken oder in zweideutigen Kneipen auf. Das Radio funktionierte nur manchmal. Es fuhren keine Züge mehr, kaum Autos, man konnte nicht telefonieren, Briefe wurden nicht befördert. Fabriken produzierten nicht mehr, es gab kein Baumaterial und kein Werkzeug. Es gab kein Recht und keine Ordnung, auch keine Moral. Stattdessen Chaos und Verrohung. Gerechtigkeit war in diesen Tagen eine einseitige Angelegenheit. Der Stärkere hatte das
Sagen.
Alles das hatte mit dummen Sprüchen, mit Fingerzeigen, mit Drill und Gehorsamsübungen, dem Gebrüll von Machthabern und mit Verleumdungen angefangen. Als es endete, gab es niemanden, der nicht in irgendeiner Form beigetragen hatte, auch wenn er meinte, er hätte nichts getan.

 

 

 

 

Hänschen, Ende der 1920er Jahre

 

Möglicherweise, aber sicher ist es nicht, beginnt die Geschichte mit Helgas Großvätern, die beide gesichtslos bleiben. Der eine ging als Freiwilliger in den Krieg und fiel am Ostermontag des Jahres 1915 in einem zerschossenen Waldstück namens Bois-le-Prêtre. Wenn von ihm die Rede war, seufzte die Großmutter und richtete ihren Blick in die Ferne, sprach den Ort Verdun sehr leise aus und auch den Satz, dass niemand wissen könne, wo genau der Otto begraben läge. Der Großvater hinterließ ein paar Erinnerungen, darunter einen Tabakbeutel, zwei Fotos, beide schwarz-weiß, von denen eines einen jungen Mann in einer Uniform zeigte, das andere die verschwommene Aufnahme eines Kindes neben einer schwarz gekleideten Frau, vermutlich seiner Mutter.
Der andere Großvater war aufgrund eines Augenleidens von Kriegsdiensten verschont geblieben. Er war Reichsbahnwagenmeister, besaß eine Uniform und eine Mütze mit einer goldblau durchwirkten Kordel und hieß Josef, weswegen der Josefstag im März hochgehalten wurde. Von den Großmüttern ist wenig zu berichten. Sie waren Hausfrauen und Ehefrauen, bescheiden und gefügig, die sämtliche Widrigkeiten, die ihnen das Leben bescherte, vertrauensvoll in Gottes Hände legten. Sie hießen Helene und Maria, hatten ein gutes Verhältnis zu ihren Namenspatroninnen, die sie im Falle eines Falles um Beistand bemühten.
Die Großmutter väterlicherseits verbrachte neben ihren Haushaltspflichten viel Zeit mit dem Häkeln von Stolen und Spitzendeckchen, die sie unter Blumenvasen, stehende, gerahmte Fotografien und sonstigen Nippes schob. Ihre Hände dufteten nach Herzwaffeln mit Kirschmarmelade, manchmal auch nach Reibekuchen, die nirgendwo sonst so knusprig waren. Sie war stolz darauf, mit einem Reichsbahnwagenmeister verheiratet zu sein, weil ihr das ein sicheres Leben versprach.
In diese Familie wurde 1926 Helgas Vater, Hans Kaiser, geboren. Es gab noch einen Bruder, der etwas jünger war als der Vater, Onkel Hein, mit dem sie sich früher gut verstanden hatten. Irgendwann verschwand Onkel Hein, aber davon später.

 

Nein, Hans Kaiser hatte nichts, wodurch er auffiel. Ein Dutzendgesicht, dem auf der Straße niemand hinterher sah. Glatte, leicht strähnige Haare von einem undefinierbaren Braun, wimpernlose Augen ohne Brauen, blass, mit schmalen Lippen, eher schmächtig, um nicht zu sagen klein. Sein Gang war schlaksig, leicht federnd. Die Klassenkameraden und auch die Lehrer nannten ihn Hänschen. Er hasste es, wenn sie ihn Hänschen nannten. Manchmal auch Hänselchen. Nur Herr Volk, der Mathelehrer, nannte ihn bei seinem richtigen Namen: Hans.
Später sagte niemand mehr Hänschen. Nicht einmal seine Frau.

 

Hans wuchs in einer Stadt auf, die berühmt war für ihr Gestein. Das Gestein war unverkennbar. Dunkelbraun, dunkelgrau, fast schwarz. Tuff, Basalt und Schiefer kamen aus den nahen Steinbrüchen und waren uralt. Seit Jahrhunderten dienten sie dem Bau von Häusern, Kirchen, Treppen, Mauern, Straßen, Brücken. Die Stadtmauern bestanden aus schweren Steinblöcken. Trottoirs waren mit Basalt gepflastert. Ganze Häuserzeilen trugen Fassaden aus Bruchstein. Schiefer bedeckte die Dächer. Er kam vom nahen Katzenberg und glänzte, wenn es regnete.
Die Steinbrüche lagen am nordöstlichen Stadtrand. Kiesklöpper, Fuhrunternehmen und Hufschmiede hatten zu tun. Ebenso Steinmetze. Ein Bahngleis umkreiste die Grubenfelder. Der Bahnhof befand sich in direkter Nähe. Hinter dem Bahnhof stapelten sich auf einer Verladerampe die Erzeugnisse, die aus den Steinen gemacht wurden: Pflastersteine, Bordsteine, Werksteine, Schleifsteine, Dachschindeln, Mühlsteine. Sie waren gesägt, geschliffen, poliert, geriffelt oder gebürstet.

 

Die Stadt lag direkt an der Römerstraße nach Trier und war überschaubar.
Das Viertel am Obertor, in dem Hans aufwuchs, schloss an die Altstadt an. Die Gassen waren eng, die Häuser aneinandergebaut. Kopfsteinpflaster mit Beulen von Wurzeln. Morsche Zäune und jede Menge Kinder. Ständig lag Geschrei in der Luft; dazu der Geruch nach Kohlsuppe und Reibekuchen.
Ein Fluss, die Nette, gesäumt von Schwarzerlen und Eschen, wand sich entlang der Stadt, floss unter Holzbrücken hindurch, passierte Papiermühlen, beheimatete an ihren Ufern Wasseramseln, Eisvögel, Uhus.
In der Altstadt gab es allerhand Läden, eine Likörfabrik, Eisenwarengeschäfte, die Kolonialwarenhandlung Schweitzer, das Weinhaus Andries, das Fotoatelier Pieroth und etliche feine Bäckereien, darunter eine im Entenpfuhl, wo auch Eier und Käse im Angebot waren. Hotels von Rang, wie das Hotel Kohlhaas, warben um Gäste, Kneipen und Gasthäuser waren gut besucht, auch die Kirchen. Über allem, auf einer Anhöhe und kaum übersehbar, erhob sich die Genovevaburg mit ihrer langen steinernen Bogenbrücke, dem Goloturm und dem unterirdischen Stollenlabyrinth, das tief unter den Grundmauern verlief.
Auf dem zentralen Platz der Stadt, dem Marktplatz, wurde dienstags und samstags Wochenmarkt abgehalten. Vierteljährlich fand ein Krammarkt statt und im Oktober der Lukasmarkt, mit Karussells und Schiffschaukeln und einem Stand, an dem eine alte Frau in Männerkleidern zu Fäden gesponnenen Zucker feilbot, riesige Wattebäusche in unterschiedlichen Farben, die, nebeneinander auf ein Brett gesteckt, aussahen wie ein bunter Himmel.
Die Bewohner der Stadt waren sich damals ähnlicher als die, die heute dort leben. Die meisten von ihnen waren Arbeiter.
Die Kinder trugen die Namen von Heiligen. Sie belärmten die Gassen, schnippten Münzen, spielten Fangen und Verstecken, liefen auf Stelzen, tauschten bunte Bilder, fuhren Rennen mit zusammengenagelten Holzkisten. Mittags, nach der Schule, trödelten sie um die Straßenecken und verzogen sich erst nach Hause, wenn es läutete oder ihre Mütter sie riefen.
Eines dieser Kinder war Hans.

 

Zu den ersten vagen und dunkel gefärbten Erinnerungen des Hans Kaiser gehörte die Eröffnung des Kaufhauses Tietz an einem verregneten Apriltag des Jahres 1929. An der Hand seiner Mutter befand er sich in einem Pulk von Leuten, die sich vor dem Eingang versammelt hatten. Schirme waren aufgespannt. Girlanden schmückten die Tür, ein Clown verteilte Luftballons an Kinder. Eine Musikkapelle spielte. Ein Sänger stand auf einem Podest und schwenkte einen Federhut: »Da geh’ ich zu Maxim, dort bin ich sehr intim, ich duze alle Damen, ruf’ sie beim Kosenamen: Lolo, Dodo, Joujou, Cloclo, Margot, Froufrou! Sie lassen mich vergessen das teure Vaterland!« Ein Fotograf baute einen schwarzen Kasten auf, sprang herum, während eine lächelnde Frau in einem blauen, sehr engen Kostüm und hochhackigen Schuhen mit einer Schere ein rotes Band durchtrennte, das vor dem Eingang gespannt war. Die Kapelle spielte einen Tusch, alle klatschten, klappten die Schirme zusammen, drängelten und schoben, strömten ins Innere des Kaufhauses. Der Clown bückte sich zu Hans hinab und wollte ihm einen Luftballon schenken, da hielt jemand ein Transparent in die Luft und schrie: »Kauft in Spezialgeschäften, nicht in solchen Kaufhäusern! Denkt an das hiesige Handwerk! Vergesst den hiesigen Handel nicht!« Hans konnte den Luftballon gerade noch greifen, da riss ihn die Mutter fort und sagte: »Ist uns doch egal, ob Tietz ein Jude ist oder nicht. Wenn er nur billige Sachen hat.«

 

 

 

 

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Aktuelles von und für die Presse

 
 
Ute Bales erhält den Publikumspreis der Gruppe 48 für ihre Kurzgeschichte »Überleben«, nachzulesen in »Keiner mehr da« >>

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