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Leseproben ausgewählter Bücher

»Eine Kindheit in der Eifel« von Inge Arenz

 

 

August 1958

 

Im August 1958 bekam ich noch einen Bruder. Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich, andere bekommen eine Schwester, wieso ich nicht? Ich hatte doch schon zwei von der Sorte und eine Schwester wäre soo schön gewesen. Da die Ernte in vollem Gange war, blieb meiner Mutter nichts anderes übrig als den kleinen Mann mir zu überlassen. Ich war acht Jahre alt und trug die Verantwortung. Für meine Mutter war es nicht einfach, aber mein Vater brauchte jede Hand bei der Getreideernte. Ja, nun hieß es für mich das Kind bei Laune zu halten. Mein kleiner Bruder war pflegeleicht, was bei den Möglichkeiten die man damals hatte, eine große Erleichterung war.
Da kaum jemand einen Elektroherd hatte, war die Versorgung nicht so einfach. Wenn man eine Flasche kochte, musste man den Ofen »anmachen«. Meine Mutter kochte morgens die Fläschchen vor und wenn mein Bruder brüllte, musste ich eine aufwärmen. Gesagt, getan. Ofen anmachen, Wasser kochen, Flasche ins heiße Wasser stellen und warten bis die Temperatur richtig war. Flasche an die Backe halten und kurz probieren. Alle Kinder bekamen zu der Zeit Haferflockenbrei, schön dick und sämig. War die Temperatur richtig konnte die Fütterung beginnen. Manchmal war die Schlupp verstopft und es kam nix heraus, das gab ein Geschrei. Aber man wusste sich zu helfen. Da das Feuer noch warm war, machte man einfach die Spitze einer Stricknadel heiß und schwupp hatte die Schlupp ein größeres Loch. Oweia, war das Loch zu groß hat sich das Kind verschluckt und brüllte schon wieder. Mit der Zeit hatte ich den Dreh heraus und es klappte ganz gut. Wenn das Kind satt war, musste es auch gewickelt werden. Damals gab es nur Windeln aus Stoff. Zuerst wurde die Mullwindel, dann das Moltontuch zu einem Dreieck gefaltet und um das Kind herum gewickelt. Geschafft, jetzt noch den Strampelanzug drüber, fertig.
Ja und da war noch die Sache mit dem Kinderwagen. Wir hatten einen niedrigen Korbwagen, der ja schon dreimal gebraucht war, mir aber überhaupt nicht gefiel. Ein anderes Mädchen hatte zum gleichen Zeitpunkt eine Schwester bekommen und fuhr sie in einem Kinderwagen mit hohen Rädern spazieren. Ich war ein bisschen neidisch, hatte sie doch Beides was ich gerne gehabt hätte. Man konnte ja nicht alles haben, aber mit diesem Gefährt zu fahren, kam mir nicht in den Sinn. Also fuhr ich den Kleinen nicht, sondern trug ihn. Scheinbar hat es meinem Bruder gefallen, sonst wäre unser Verhältnis bestimmt nachhaltig gestört worden.
Übrigens hätte ich heute gerne so einen Kinderwagen als Andenken.
Es war schon alles ziemlich mühsam ohne Badezimmer, ohne Elektroherd, ohne Flaschenwärmer, ohne Pampers, ohne Fertigbrei, ohne Waschmaschine, ohne Trockner, ohne Klo im Haus und … ohne Kinderwagen mit hohen Rädern.
Und das alles im heißen Sommer 1958. Wohlgemerkt, ich war acht Jahre alt.

 

 

Geheimnisvolle Weihnachtszeit

 

Diese Zeit war für uns Kinder sehr aufregend und geheimnisvoll.
Aus Erzählungen kannten wir den Nikolaus und das Christkind. Wir wussten, der Nikolaus ist ein armer Mann, der nicht viel geben kann. Wir waren trotzdem gespannt, hatte man uns doch gesagt: Der Nikolaus sieht alles und wenn die Kinder nicht brav sind, bringt er seinen Gefährten, den Belzebub mit. Der Belzebub war der »Schwarze Mann«, der die Kinder in einen Sack steckt und sie mitholt. Oh, was hatten wir Angst. Meine Brüder malten sich das alles aus. Der eine meinte, ich hol mal eine Schere mit, damit kann ich ein Loch in den Sack schneiden. Der andere hatte vorsichtshalber ein Messer in der Hosentasche. Ich hatte mir vorgenommen sehr brav zu sein, damit ich nicht in diese missliche Lage geriet.
Wir saßen stundenlang auf der Bank hinter dem Tisch und unterhielten uns ganz leise und beteten, dass der Nikolaus gnädig mit uns umgehe und den schwarzen Mann draußen lassen würde. Gott sein Dank ließ mein Vater nicht zu, dass er uns mitnahm, wir hörten ihn nur mit den schweren Ketten rasseln. Der Nikolaus gab jedem einen Teller mit Plätzchen und einen Dutzeweck, verneigte sich huldvoll und ging leise davon. Nach dieser anstrengenden Episode konnten wir uns ganz auf das »liebe Christkind« konzentrieren. Wieder malten wir uns aus, wie es sein würde und was für Geschenke es dieses mal für uns geben würde. Schon wieder waren wir brav und machten alles, was Mutter und Vater uns auftrugen.
Dann war es so weit, die Stube war schön warm und wir festlich gekleidet. Wieder saßen wir ganz still auf der Bank und waren aufgeregt. Plötzlich hörten wir ein Glöckchen läuten. Dann ging die Tür auf und das Christkind kam, begleitet von zwei Engeln, durch die Tür. Unsere Augen wurden ganz groß und wir staunten über so ein schönes Bild. Später meinte ich, meine ältere Cousine hinter dem Schleier (einer Gardine) erkannt zu haben. Dann gab es die Geschenke. Der eine Bruder bekam ein Lastauto aus Holz, der andere einen Holztraktor. Ich bekam eine Puppe mit einem lila Taftkleid und einer Perlenkette. Für jeden gab es einen Teller voll mit Nüssen und selbst gebackenen Plätzchen. Dann kam der Höhepunkt, das Christkind ging hinaus und kam mit einem wunderschön geschmückten Weihnachtsbaum herein. Kerzen, Kugeln und Lametta, ich wusste nicht, was schöner war. Mein Vater stellte den Baum auf ein dafür extra aufgestelltes Nachtschränkchen. Das Christkind verneigte sich, gab jedem die Hand und ging wortlos davon.
Dann war es ganz still. Wir mussten uns erst einmal von diesem Ereignis erholen. Nie im Leben werde ich diesen Abend, dem noch viele folgen sollten, vergessen.
Am ersten Weihnachtstag durften wir die Verwandtschaft besuchen und »Frohe Weihnachten« wünschen. Es gab für jeden von uns eine Tafel Schokolade (meistens Novesia Goldnuss) und eine Apfelsine. Hatten wir ein Glück, wir hatten viele Verwandte und somit viele Apfelsinen und viele Tafeln Schokolade. Sorgfältig wurden sie unter dem Weihnachtsbaum im Schränkchen gestapelt. Kaum trauten wir uns eine zu essen, lieber zählten wir andächtig jeden Abend unsere Schätze.
In diesen Jahren gab es immer wieder viel Schnee. Kamen wir abends vom Schlittenfahren pitschnass, mit roten Gesichtern und durchgefroren nach Hause, strahlten wir. Es war so schön. Unsere Kleidung war natürlich nicht schneetauglich. Die Jungen hatten selbstgenähte lange Hosen und hohe Schuhe an. Wir Mädchen hatten es nicht so gut, kein Mädchen trug Hosen und die Strumpfhose war noch nicht erfunden. Dafür die Strümpfe, die am Läifje an de Strombbännele anje­friemelt waren (heute nennt man die Dinger »Strapse«). Aber es gab dicke Pullover und Westen. Waren unsere Füße trotzdem kalt, wurde die Backofentür aufgemacht und wir hatten die schönste Wärmequelle der Welt. Wenn das noch nicht reichte, jagte uns mein Vater barfuß in den Schnee. Schreiend liefen wir kreuz und quer herum und die Füße wurden wunderbar warm. Im Bett lag dann noch die Baachkatz, die Mama den ganzen Tag im Backofen aufgeheizt hatte. Mit einem Handtuch umwickelt, lag sie unter der Bettdecke. So hatten wir es kuschelig, und eng aneinander geschmiegt schliefen wir wunderbar. Morgens, wenn ich aufwachte, war das Zimmer ausgekühlt und Eisblumen verzierten das Fenster. Mich hat das immer fasziniert, so wunderschöne Muster im saukalten Zimmer.
Für mich waren der Herbst und die Wintermonate immer die schönste Zeit. Wenn abends das Vieh gefüttert und die Milch gedreht war, war Ruhe. Zum Abendessen gab es jebrodene Krombere un Läwe- un Blotwuscht. Dazu eine Tasse frische Milch oder Kakao. Der Geruch ist mir heute noch in der Nase und die Geborgenheit in meinem Elternhaus spüre ich heute noch.
Und ganz, ganz lange gab es noch für jeden ein Stückchen Schokolade.

 

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