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Leseproben ausgewählter Bücher

»ALASKA« Florian Johannes Grimm

 

 

1971

 

Die Wintersonne schien blass durch das Schaufenster des Café Kannengießer auf die Auslagen mit Kuchen, Torten und Pralinen. Draußen hasteten Reisende in Richtung Hauptbahnhof. Rita hatte sich einen Kakao und ein Croissant gekauft und senkte den Kopf über ihre Bravo, als sie vor sich eine Bewegung wahrnahm. Sie sah von dem Magazin auf. An den Tisch gegenüber hatte sich ein Mann gestellt. Er war vielleicht Anfang zwanzig, schlank und trug einen Schnurrbart. Er rückte die Hornbrille auf seiner kurzen, nach oben gerichteten Nase zurecht und strich sich durchs Haar, das auf den Kragen seines Ledermantels hing. Seine eisblauen Augen wanderten im Raum umher, schweiften über die Rücken der Kunden, die an der Verkaufstheke anstanden, und blieben dann an einer Verkäuferin hängen, die gerade einen Kuchen aus der Kühltheke holte. Es war ein verträumter und trotzdem merkwürdig kalter Blick. Ein Künstlertyp!, dachte Rita. Und dazu gutaussehend! Rita wollte sich gerade wieder in ihr Heft vertiefen, als der Künstler den Kopf drehte, zu ihr hinübersah und sie anlächelte. Rita schlug die Augen nieder, dabei streifte ihr Blick den Instrumentenkoffer, der neben ihm auf dem Boden stand. Ein Musiker also. Sie ärgerte sich, dass sie ihn so auffällig beobachtet hatte, und versuchte, sich wieder auf den Artikel über Peter Maffay zu konzentrieren, aber der Duft nach Tabak und Aftershave, der vom Nebentisch zu ihr herüberströmte, lenkte sie ab. In den Geruch mischte sich etwas Unbestimmtes. Irgendetwas Seltsames, Süßliches. Vielleicht war es der Geruch von Drogen. Der Geruch stieß sie ab und zog sie gleichzeitig an. Wie unter Zwang sah sie wieder zu dem Mann. In diesem Moment glitt sein Blick über ihre Brüste, die sich unter ihrem Rollkragenpulli wölbten. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und hob das Heft an, um sich wieder dahinter zu verstecken.
»Ach, der Maffay, der spielt den Rocker, dabei ist das doch Schlager, was der macht!« Seine Stimme klang spöttisch.
Rita erstarrte. Offenbar hatte der Musiker ihre Neugierde bemerkt. Langsam ließ sie das Heft sinken und sah schüchtern zu ihm hinüber. Ihr schoss das Blut in den Kopf und ihr Gesicht glühte. Am liebsten wäre sie geflohen oder hätte nicht geantwortet. Aber sie traute sich nicht, so unhöflich zu sein.
Sie machte ein gleichmütiges Gesicht. »Wie bitte?« Sie musste all ihren Mut zusammennehmen, um einigermaßen laut zu sprechen.
»Ich sage, der Maffay ist ein Schlager-Fuzzi! Der hat doch keine Ahnung von Rock’n’Roll!« Der Musiker lehnte den Ellbogen auf den Stehtisch, wobei die Ärmel seines Ledermantels knirschten, und nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse.
»Ich steh auch eigentlich mehr auf die Stones«, stellte Rita klar. Ihre Stimme klang jetzt etwas sicherer.
Der Musiker hob die Augenbrauen und bewegte den Kopf, so dass das Licht der Wintersonne in einem anderen Winkel auf sein Gesicht fiel. Seine Haut schien irgendwie wächsern und grau.
»Und auf amerikanischen Blues«, schob sie hinterher. Sie schlug das Heft zu, legte es ab und sah auf das Cover des Magazins. Maffay trug zum halblangen Haar Koteletten, hatte ein Hemd mit schnörkeligen Stickereien und großem Kragen an und hielt eine Westerngitarre in den Händen.
»Auf amerikanischen Blues?« Neugierde lag in seinem Blick. »Auf wen zum Beispiel?«
»Na ja«, entgegnete sie zögerlich. »Auf B. B. und Albert King zum Beispiel.«
»Aha.«
»Wobei ich Albert King noch besser finde als B. B. King.« Rita fühlte sich immer selbstsicherer.
Der Musiker lächelte sie herausfordernd an. Er packte seinen Instrumentenkoffer und seine Kaffeetasse und kam zu ihr herüber, wobei die Absätze seiner Stiefel auf dem Fliesenboden klackten.
»Darf ich?«, murmelte er und stellte, ohne ihre Antwort abzuwarten, seine Tasse auf ihren Tisch. »Ich finde Albert King auch besser.« In seiner tiefen Stimme schwang Anerkennung. »Albert King hat viel mehr Drive und Power als B. B. King. Klar, B. B. King ist noch berühmter! Natürlich ist er auch spitze, aber ich glaube, dass Leute wie Albert King oder John Lee Hooker langfristig eine stärkere Wirkung auf die europäische Musik haben. Letztlich stehen doch Soulmusiker wie James Brown oder Rockgitarristen wie Chuck Berry für die neue Richtung. Gehst du öfter auf Konzerte?«, fragte er unvermittelt.
Rita schüttelte den Kopf. Vorsichtig biss sie in ihr Croissant und nahm einen Schluck Kakao.
»Schade.« Er machte eine kurze Pause und fuhr fort: »Die Engländer haben ja alles von den schwarzen Bluesmusikern übernommen und dann bisschen auf Rock getrimmt. An den Stones finde ich krass, dass die noch nicht mal den Takt halten können!« Er lachte auf. »Wobei … es stört ja offenbar keinen! Klar, Charlie Watts gibt das Tempo korrekt vor, aber keiner hört auf ihn, das ist echt schräg!« Während er weitersprach, nahm er ein Silberfläschchen aus der Innentasche seines Mantels, schraubte es auf und goss eine goldbraune Flüssigkeit in seine Kaffeetasse, vielleicht Cognac. Erstaunt sah Rita auf die Uhr, die hinter ihm an der Wand hing. 7 Uhr 29. Unfassbar, dass er um diese Uhrzeit schon Alkohol trinkt, fuhr es ihr durch den Kopf. Der Musiker bemerkte ihren Blick und drehte sich zu der Uhr um. Offenbar hatte er ihre Gedanken erraten, denn er wandte sich ihr wieder zu, zwinkerte verschwörerisch und raunte beschwichtigend: »Ich fahr ja mit dem Zug!« Er rieb sein Kinn und musterte ihren Körper von oben bis unten. Kurz darauf wanderten seine Augen zu einer Kundin in einem engen Rock. Rita sah verlegen auf die Tischplatte und beäugte insgeheim ihre Brüste. Sie waren rund und größer als die ihrer Freundinnen. Manchmal schämte sie sich dafür. Zum Glück habe ich mich heute Morgen geschminkt, dachte sie sich.
»Wie heißt du?«, fragte er.
»Rita.«
»Und wie mit Nachnamen?«
»Goldschmidt.«
»Was machst du beruflich?«
»Ich mache eine Ausbildung in einem Altersheim.« Sie wischte einen imaginären Krümel von der Tischplatte. Der Typ war ganz schön neugierig.
»Hast du Geschwister?«
»Sechs.«
»Oh, das ist ne Menge! Wie alt bist du?«
»Neunzehn.«
»Bist du für die BRAVO dann nicht schon bisschen alt?«
Wieder glühten ihre Wangen. Sie zuckte mit den Achseln und lächelte verlegen.
Er lachte und macht eine wegwerfende Handbewegung. »Na ja, steht wenigstens ab und zu was über Musik drin, wenn auch meistens über solche Typen wie den Maffay. Schöner Pulli übrigens.«
Wieder lächelte sie und murmelte: »Danke! Den hab ich mit meiner Schwester auf der Zeil gekauft.«
Während er sich mit einem Streichholz eine Zigarette ansteckte, wies sie mit dem Kopf in Richtung seines Koffers und fragte: »Was spielst du für ein Instrument?«
»Meistens Saxophon.« Er wiegte ernst den Kopf und rieb seine Nase. »Manchmal auch Klarinette oder Rhythmusgitarre. Eventuell würde ich gern ganz auf Gitarre umsteigen. Keyboard find ich aber auch super … In letzter Zeit haben wir viel Blues, Soul und Rock gespielt. Aber auch eigene Sachen. Am Wochenende proben wir wieder und demnächst wollen wir auch mal wieder ein Konzert geben in einem der Clubs hier in der Nähe von Frankfurt. Ab und zu kriegen wir sogar ein paar Mark. Oft versuchen die Clubbesitzer aber auch uns zu verscheißern.«
Er sagte verscheißern, nicht verarschen. Das klang merkwürdig. Seine Augen funkelten wütend.
»So nach dem Motto: Ihr könnt ja froh sein, dass ihr hier n bisschen Werbung für euch machen könnt. Manche von denen sind echte Arschlöcher, am liebsten würde ich die …!« Er ballte die Faust und sein Gesicht wurde rot. Dann beruhigte er sich offenbar wieder. »Manche von den Clubs auf dem Land sind gar nicht schlecht. Dort sind die Leute oft netter und die Mädchen manchmal sogar schöner.« Jetzt sah er Rita tief in die Augen und sie blickte sofort zu Boden.
»Zum Beispiel in Kelkheim und Schwalbach gibt es ’n paar gute Läden. Königstein kannste vergessen. Einfach zu versnobt! In der Wetterau sind komischerweise die besten Clubs. Da wohnen lauter nette Jungs und die Mädchen sehen da super aus! Ich frag mich manchmal, woran das liegt. In der Wetterau haben ja schon die Römer Weizen angebaut wegen dem guten Klima dort. Vielleicht haben die ’n paar vernünftige Gene mitgebracht.« Er lachte, drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich gleich die nächste an. Geistesabwesend nahm er ein Bündel Streichhölzer aus der Schachtel, zerbrach sie in der Mitte und warf sie in den Aschenbecher. Dann griff er sich das nächste Bündel und zerbrach auch das, bis die Schachtel leer war. Rita sah ihm zu und schüttelte kaum merklich den Kopf. Womit wollte er sich jetzt seine Zigaretten anzünden?
»Ich arbeite in ’ner Druckerei hier um die Ecke. Ich hab ’ne Lehre zum Klischeeätzer gemacht. Da haben der Maffay und ich noch was gemeinsam!« Wieder lachte der Musiker. Sein Lachen klang rau.
Rita blickte interessiert zu ihm auf. Wenn er in der Nähe arbeitete, würde sie ihn vielleicht öfter treffen.
»Aber eigentlich will ich mich demnächst für Kunst und Sozialgeschichte einschreiben«, fügte er mit gewichtiger Miene hinzu. »Deswegen mache ich momentan an der Abendschule mein Abi nach.« Er nahm seine Hornbrille ab und putzte die Gläser an seinem Flanellhemd. »Ich bin in Königstein und Kronberg aufgewachsen, wohne jetzt aber in Frankfurt. Bestimmt laufen wir uns hier in der Nähe vom Hauptbahnhof ab und zu über den Weg.«
»Wie heißt eure Band?«, fragte Rita.
»Big City Soul Brothers. Ich wollte sie Greenland Rock nennen, aber die Jungs waren dagegen. Möchtest du vielleicht mal zu einem unserer Konzerte kommen?«
»Vielleicht.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wo wohnst du in Frankfurt?« Rita sah den Musiker aufmerksam an.
»In Rödelheim.«
»Ach, ich auch!«
Der Rauch seiner Zigarette zog in einem bläulichen Band durch den Raum. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und beugte sich nach vorne. Amüsiert sah er ihr in die Augen. Sonnenlicht spiegelte sich in seiner Iris wie im Eis eines Gletschers. Einen Moment lang war Rita wie hypnotisiert. Dann stieg ihr wieder der eigenartige Geruch in die Nase, den der Musiker verströmte, und sie wandte ihren Blick ab. Es war ein Geruch nach Kräutern, aromatisch und süß. Vielleicht Marihuana? Ihr Bruder rauchte ab und zu irgendein merkwürdiges Zeug und roch danach ähnlich.
Im nächsten Moment drehte der Musiker sich wieder zur Uhr um und rief: »Oh, ich komme schon wieder zu spät!« Er wischte mit der Hand durch die Luft und sagte: »Egal!« Er drückte seine Zigarette aus, schnappte sich seinen Instrumentenkoffer und riss die Tür auf. In diesem Augenblick betrat eine Frau die Bäckerei. Sie war groß, schlank und rothaarig. Oh nein, Hilde! Der Musiker hielt ihr die Tür auf, drehte sich nochmal zu Rita um, rief: »Tschüss, mach’s gut bis bald!«, und stürmte dann nach draußen. Durch das Schaufenster sah Rita, wie sein Ledermantel im Wind schaukelte. Die rothaarige Hilde stand nun am Tresen an. Sie war eine Freundin ihrer Mutter, die sie nicht besonders mochte. Sie versteckte sich wieder hinter ihrer BRAVO, hatte aber das Gefühl, dass Hilde sie schon bemerkt hatte.
Nachdem Hilde den Laden wieder verlassen hatte, aß Rita ihr Croissant auf. Eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie klemmte sie hinters Ohr und zog nachdenklich ihre Cordhose hoch. In letzter Zeit hatte sie abgenommen. Sie gähnte, wobei sie ihre Fäuste hochwarf und die Arme anspannte, bis ihre Gelenke knackten. Auch sie würde heute zu spät zur Arbeit kommen, aber es war ihr egal. Was für ein merkwürdiger Typ, dachte sie. Aber attraktiv. Und so ungeheuer selbstbewusst! Offenbar hatte er noch nie im Leben an sich selbst gezweifelt – ganz im Gegensatz zu ihr. Außerdem mochte sie musische Männer. Sie stand nicht auf diese Karrieretypen, die immer nur über ihre Arbeit sprachen und mit ihren Autos angaben.
Insgesamt war Rita zufrieden mit sich. Zum Glück hatte sie ihre Unsicherheit verborgen. Sie konnte nicht ewig den paar Männern, die sie beachteten, aus dem Weg gehen. Sie war es leid, sich von ihren Freundinnen, die teilweise jünger waren als sie, als alte Jungfer verspotten zu lassen.
Da fiel ihr ein: Sie hatte den Musiker gar nicht nach seinem Namen gefragt.

 

Jetzt, Mitte Januar, erschien Rödelheim noch schäbiger als sonst. Die Gründerzeithäuser links und rechts der engen Straßen wirkten, als kippten sie nach innen wie auf einem expressionistischen Gemälde. Die Sonne stand tief über der Stadt. Durch ein Loch in der Wolkendecke schien sie auf die verschachtelten Dächer und warf lange Schatten, in denen die Menschen verschwanden. Auf einem Plakat, das an einer Straßenlaterne befestigt war, warb die SPD mit dem Gesicht von Willy Brandt.
Trotz der Kälte setzte er sich auf eine Bank in eine Ecke des Bahnhofsvorplatzes. Dann rückte er seine Hornbrille zurecht, zog die Schiebermütze tief ins Gesicht und band den Schal fester um den Hals. Nachdenklich zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck Cognac. Diese Rita war genau das, was er suchte: ein Mauerblümchen. Ihre Haut und ihre Lippen waren etwas blass, sie redete leise und bewegte sich vorsichtig. Ihre Ponyfrisur wirkte kindlich und bieder. Eine Frau, die von den meisten Männern übersehen wurde, weil sie zu zurückhaltend war. Ein typisches Aschenputtel. Aber natürlich war sie jung, schlank und schön. Mit diesem Typ Frau hatte er schon gute Erfahrungen gemacht. Klar, er war nicht der Hübscheste, er sah eher markant aus, aber das war okay bei einem Mann. Als Musiker kam man auch nicht bei allen Frauen gut an. Aber Rita gehörte nicht zu dem Typ Frau, dem es wichtig war, wie viel ein Mann verdiente. Das hatte er sofort erkannt. In der Bäckerei hatte er sich geschickt in ihrem Blickfeld positioniert, so dass sie ihn erstmal mustern konnte. Er strahlte Selbstbewusstsein aus. Das war das Wichtigste, das kam an bei den Frauen. Sie hatte ihm Blicke zugeworfen, also konnte er sie ansprechen. Er hatte sie ganz schön zugelabert, das war ihm klar. Ein bisschen Angeberei musste sein! Aber er hatte auch nicht zu dick aufgetragen.
Unter der Bank krabbelte trotz der winterlichen Kälte ein Käfer zwischen seine Füße. Er beobachtete ihn eine Weile, dann zertrat er ihn. Fasziniert studierte er den Matsch aus Beinen und Flügeln.
Die Begegnung in dem Café vor zwei Wochen war kein Zufall gewesen. Er hatte sie schon öfter gesehen und heimlich beobachtet. Zum ersten Mal, als sie an einem düsteren Freitagabend gedankenverloren aus dem Bahnhof Rödelheim geschlendert kam. Da war er ihr bis nach Hause gefolgt. Die Art, wie sie ging, der verträumte Gesichtsausdruck, ihre Schüchternheit, ihr Gesicht, das dunkle Haar, die Figur, biegsam und graziös wie eine Ballerina. Das passte alles! Damals hatte sie eine Freundin getroffen und kurz mit ihr geplaudert. Die Freundin sah auch nicht schlecht aus. Groß und irgendwie exotisch mit dunklem Teint. Eine sehr selbstbewusste Frau. An diesem Freitagabend hatte er am Bahnhof herumgelungert, um ein Bier zu trinken und ein bisschen nach den Frauen zu gucken. Er war nicht gut drauf, denn bei der Arbeit war wieder mal einiges schiefgegangen, aber Ritas Anblick hatte ihm wieder Auftrieb gegeben und er war ihr spontan gefolgt. Nach ihrer Begegnung im Café Kannengießer hatte er sie immer mal wieder im Zug von Rödelheim zum Hauptbahnhof gesehen – und jedes Mal unauffällig beobachtet.

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