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»Der Prälat« von Marcel Bauer

 

Seit Menschengedenken lebte die Familie Lohse in Kummersdorf, einem Weiler unweit von Schmalhausen in der Eifel. Seit dem frühen Tod des Konrad Lohse bewirtschafteten die beiden Söhne Oswald und Joseph gemeinsam den Hof. Im März 1942 wurde Joseph Lohse zur Wehrmacht eingezogen. Er kam in Russland zum Einsatz. Sein jüngerer Bruder Oswald, Vater von fünf Kindern, blieb bis in die letzten Kriegstage vom Wehrdienst verschont.

Die Großfamilie Lohse lebte von der Milchwirtschaft und der Viehzucht. Seit Ausbruch des Krieges war man jedoch dazu übergegangen, Rüben, Raps, Klee und vor allem Kartoffeln anzubauen.
Die Familie besaß zwölf Kühe und einige Kälber. Nachdem eines Nachts eine Kuh auf der Weide gestohlen und eine andere auf offenem Feld geschlachtet worden war, trieben die Lohses in der Furcht vor Viehdieben ihre Tiere nachts in die Stallungen.
Regelmäßig besuchten Veterinäre des Reichsernährungsamtes den Hof, um sicherzustellen, dass dort keine Schwarzschlachtungen vorgenommen wurden. Nachdem das Reichsministerium für Ernährung 1943 angeordnet hatte, bei allen Bauern die Mastschweine zu requirieren, um die Front mit frischem Fleisch zu versorgen und den Schwarzmarkt zu unterbinden, wurde es in der Küche der Lohses knapp. Zum Glück hatte die Großmutter vorgesorgt und große Mengen Schweinefleisch, als dieses noch vorrätig war, eingemacht. An hohen Festtagen opferte die Bäuerin schon einmal ein Kaninchen oder ein Huhn.

In den Kriegsjahren kamen im Landkreis Schleiden, zu dem Schmalhausen gehörte, wegen der Einberufung aller wehrtüchtigen Männer zweitausendachthundert »Fremdarbeiter« zum Einsatz. Als Betreiber eines »kriegswichtigen Betriebes« wurden den Lohses vom Arbeitsamt zwei ukrainische Ostarbeiterinnen zugeteilt.
Oswald Lohse hatte den Frauen in der Scheune eine Kammer hergerichtet, wo sie sich nach getaner Arbeit im Stall oder auf den Feldern zurückziehen konnten. Ansonsten wurden sie wie Familienmitglieder behandelt: Sie aßen mittags und abends am selben Tisch und besuchten mit ihren »Gastgebern« am Sonntag unbekümmert die Messe im Dorf, obwohl ihnen das böse Bemerkungen von Seiten anderer Kirchgänger einbrachte.

Die Familie besaß sowieso einen zweifelhaften Ruf, weil Konrad Lohse zur Zeit der Weimarer Republik Mitglied der Deutschen Zentrumspartei gewesen war und aus seinen christlichen Überzeugungen und seiner Abneigung gegen die Nazis nie einen Hehl gemacht hatte. Dass seine Familie ähnlich kritisch eingestellt war, zeigte sich, als man seiner Schwiegertochter nach der Geburt ihres sechsten Kindes das Mutterkreuz in Silber verleihen wollte, was diese ablehnte, obwohl damit handfeste finanzielle Vergünstigungen verbunden waren.
Joseph Lohse und seine Frau Margarete hatten zwei Töchter: Während Erika, das ältere der beiden Mädchen, lebenslustig, aufgeweckt und ehrgeizig war, war die jüngere Schwester eher still und zurückhaltend. Im Herbst 1942 erreichte die Familie die Nachricht, dass Joseph Lohse für »Führer, Volk und Vaterland« in Russland gefallen war.

Angesichts der Rückschläge an der Front bemühten sich die Nationalsozialisten, die Heimat auf den Kurs des totalen Krieges, den sie ausgerufen hatten, einzuschwören. Dazu gehörte eine verstärkte Indoktrination. Schon zu Beginn des Dritten Reiches waren der Religionsunterricht und die christlichen Kreuze aus den Schulen verbannt, das Singen religiöser Lieder vor Beginn des Unterrichts untersagt worden. Das Alte Testament und der Katechismus wurden vom Lehrplan gestrichen. Im Kampf gegen die sogenannte Priesterherrschaft wurde ab 1937 die Erteilung des Religionsunterrichts in den Schulen grundsätzlich verboten.
Von da an versammelte Arnold Huscheid, der Pfarrer von Schmalhausen, sonntags nach dem Hochamt eine kleine Gruppe Kinder um sich, um mit ihnen im Pfarrhaus den Katechismus durchzunehmen. Zu den wenigen, die die Courage aufbrachten, sich öffentlich zur katholischen Kirche zu bekennen und ihre Sprösslinge in die Sonntagsschule zu schicken, gehörten auch die Lohses.
Huscheid war ein Mann der alten Schule: die Kinder hatten die Glaubenssätze nicht zu hinterfragen, sondern anzunehmen. Die einzelnen Artikel mussten auswendig gelernt und fehlerlos heruntergeleiert werden. Wer seine Lektion nicht oder schlecht gelernt hatte, wurde zu saftigen Strafen verdonnert, die meist darin bestanden, seitenlang Glaubensartikel abzuschreiben.
Während Erika problemlos alle wichtigen Artikel des Glaubensbekenntnisses heruntersagen konnte, tat sich ihre jüngere Schwester beim Abfragen schwer. Dafür wurde sie wiederholt vom Pfarrer gemaßregelt. Einmal bekam sie sogar den Rohrstock zu spüren.

Bis zur vierten Klasse besuchten beide Mädchen die Grundschule in Schmalhausen, danach wechselten sie an die Oberschule in Schleiden. Während Erika Klassenbeste war und bei Mitschülern und Lehrern beliebt war, blieben die Schulleistungen ihrer Schwester mäßig. Nach der Mittleren Reife musste sie die Schule abbrechen, um der Mutter und der kinderreichen Schwägerin im Haushalt zu helfen.
Als Erika im Sommer 1942 ihr Abitur machte, stellte sich ihr die Frage, welchen Berufsweg sie einschlagen sollte. Sie verspürte wenig Lust – ähnlich wie die meisten Mädchen ihres Jahrgangs – irgendwelche Büroarbeit in einem Rüstungsbetrieb zu übernehmen. Als sie in der Tageszeitung, die ihre Mutter und ihr Onkel gemeinsam bezogen, eine Anzeige las, dass der Eifelbote für seine Zentralredaktion in Düren einen Journalisten mit Abitur suche – wobei ausdrücklich erwähnt wurde, dass auch weibliche Bewerbungen willkommen seien – bewarb sie sich, ohne ihre Mutter um Erlaubnis zu fragen.
Schon wenige Tage später erhielt Erika eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Die Mutter war darüber sehr erbost, weil sie meinte, für ein Mädchen aus einem guten katholischen Haus schicke es sich nicht, in einem Betrieb zu arbeiten, der damit befasst sei, NS-Lügen zu verbreiten. Erika erwiderte, in der Lokalredaktion des Eifelboten bleibe sie von der großen Politik verschont: ihre Aufgabe sei es, die örtlichen Vereine zu betreuen und Lokalnachrichten zu verfassen.
Das Vorstellungsgespräch endete mit einer Anstellung als Volontärin. Man hatte der Bewerberin zwar mitgeteilt, dass man es vorgezogen hätte, einen jungen Mann zu engagieren, aber wegen des Krieges sei das derzeit unmöglich.

Die Redaktion des Eifelboten bestand aus sieben älteren Männern. Neben Erika Lohse gab es noch eine weitere weibliche Journalistin: Lisbeth Grote, zu deren Hauptaufgaben das Kaffeekochen und die Gestaltung der Todesanzeigen auf den hinteren Seiten des Blattes gehörten.
Auf Empfehlung von Pfarrer Huscheid, der ihr ein vorteilhaftes Führungszeugnis ausgestellt hatte, bezog Erika Lohse ein Zimmer im Dürener Kolpinghaus, das über einige Gästezimmer verfügte.
In der Redaktion fühlte sie sich gut aufgehoben. Es gefiel ihr, mit erfahrenen Kollegen, von denen einige eine lange Erfahrung in der Publizistik besaßen, über die Weltlage zu philosophieren und sich deren Geschichten anzuhören, wie es gewesen war, als man noch Journalismus betreiben konnte, ohne von der Partei ständig beaufsichtigt und gemaßregelt zu werden.
Erika drängte ständig darauf, aus dem engen Raster, den man ihr auferlegt hatte, auszubrechen und »richtigen« Journalismus zu praktizieren, aber der Schriftleiter Dr. Mattar, der früher Lehrer an einem Gymnasium gewesen war, bevor er in den Ruhestand trat und in die Redaktion wechselte, wusste das zu verhindern. Er wolle keine unnötigen Scherereien mit dem Kreisleiter der NSDAP, lautete seine Erklärung, die er gebetsmühlenartig wiederholte.

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