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»Katharina oder Das verschlossene Herz« von Heidemarie Schumacher

 

1

Als Katharina Lorette Lovisa von Hirschbach-Mayenfeld das Dunkel der mütterlichen Kemenate erblickte, ging ein Gewitter über die Burg. Es donnerte ungeheuerlich und Blitz auf Blitz fuhr am nördlichen Himmel nieder.
Die Wächter auf den Wehrgängen zuckten zurück als seien Feinde im Ansturm, die Mägde, vor allem die jungen, sanken auf die Knie und beteten laut heulend zum heiligen Chrysostomus, dem Schutzpatron gegen Brand, Eiterbeulen und faules Stroh. Der Wind spielte den Eichen am Burgberg übel mit, so dass sie sich mit ihren Wurzeln ächzend in die Hänge krallten. Und kein Tropfen Regen fiel.
Die ersten Schreie des Kindes gingen unter in Getöse und Durcheinander. Nach einer Phase unheilvoller Ruhe hatten Blitze die Szene grell erleuchtet, und einer von ihnen war im Ostteil der Burg eingeschlagen. Mit ohrenbetäubendem Krach ging der Donner über den Wehrturm hinweg, hallte im Burghof wider und grollte noch lange nach.
An allen Ecken und Enden setzte lautes Wehklagen ein: Der himmlische Feuerzacken hatte das Heu in Brand gesetzt, von dem das Vieh im Winter fressen sollte. Knechte, Wächter und Mägde liefen durcheinander und schleppten in Bottichen, Krügen, ja im Nachtgeschirr und in Helmen das Wasser heran, um dem gierig lodernden Feind Herr zu werden. Einige Männer versuchten es auf natürlichem Wege, indem sie sich vom hölzernen Boden hinab in die Flammen entleerten.
So ging es die halbe Nacht. Dann erbarmte sich der Himmel und schickte schwere Regengüsse, und gegen Morgen endlich konnte man mit vereinter Hilfe, den Heiligen Florian und Laurentius sei Dank, dem Feuer ein Ende bereiten.
Natürlich waren in diesen Stunden die Wöchnerin und das Kind Katharina vergessen. Die Wehfrau wartete vergeblich auf heißes Wasser. Für die erste Waschung stand nur das Regenwasser zur Verfügung, das zwei Mägde eilig holten, bevor andere es zur Brandstelle schleppten. Tagsüber hatte es gefroren und sie hatten es unter einer dünnen Eisdecke aus dem Bottich im Hof geschöpft.
Unten im Dorf witzelte man später, wenn Katharinas Rotschopf am Burgberg aufleuchtete, der gewaltige Blitz sei ihr bei der Geburt in die Haare gefahren.
»Dat Jöngste vom Jraaf, ne jlöhnije Fuss«, das jüngste Grafenkind ein glühender Fuchs, hieß es bei den Bauern. Oben auf der Burg erzählten sich die Kammerfrauen am Feuer, dass dieses Fanal der ersten Stunden das Mädchen gefeit hatte gegen Unwetter aller Art, gegen eiskaltes Wasser und beißenden Rauch. Denn Katharina wurde ein kräftiges Kind, zäh, geduldig und mit einem starken Willen versehen.
Der Vater des Mädchens, Hubertus von Hirschbach, kehrte erst Tage später in sein steinern-luftiges Heim zurück. Während der Niederkünfte seiner Gemahlin hielt er sich gewöhnlich bei einem seiner Brüder auf den Nachbarburgen auf. Nur die Geburt seines ersten Kindes hatte der Graf miterlebt. Die Gräfin hatte sehr gelitten und war gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Radegunds spitze Schreie, die, wenn sie verstummten, nur Schlimmeres ankündigten, ein dumpfes Grunzen, als säße der Teufel auf ihr, dieser Wechsel von hohen Tönen und solchen, die der Graf nur von der Hirschbrunft kannte, verfolgten ihn seitdem. Von da an ging er jedes Mal, wenn sich Radegunds Bauch wieder rundete, auf Reisen.
Als er jetzt auf der Burg eintraf, inspizierte er, kaum dass er abgesessen und die Zügel einem Knecht zugeworfen hatte, als Erstes die Brandstelle. Die neugeborene Katharina war das Letzte, was er sehen wollte. Sein Wunsch nach einem Stammhalter sollte sich erst zwei Jahre später erfüllen. Bisher hatte ihm Radegund sechs Töchter geboren und nun noch Katharina Lorette.
Am frühen Morgen erschien die mächtige Nähramme, die seit Tagen mit ihrem jüngsten Sohn in der Burgküche hauste, um dort auf die Niederkunft der hohen Frau zu warten. An ihr hatten schon die Vettern der Nachbarburg gesogen und auch Katharinas Schwestern Birgitta und Mechtildis hatte sie mit ihrer Milch ins Leben verholfen. Bei Katharina schien es zunächst, als habe das Kind es sich anders überlegt. Der heftige Regen, der kurz nach ihrer Geburt einsetzte, hatte so steil über der Esse gestanden, dass er beißende Rauchschwaden ins Zimmer trieb und Säugling und Mutter um den Atem brachte.
Nach anfänglichem Schreien war Katharina immer mehr verstummt. Nach einer Weile zeigte sie kaum noch Lebenszeichen, und plötzlich schien sie nicht mehr zu atmen. Man fürchtete, der Rauch habe ihr den Garaus gemacht. Die riesige Amme blieb gelassen. Sie besah sich den Säugling, packte ihn entschlossen an den Beinen und hielt ihn mit dem Kopf nach unten. Der Kopf wurde erst blau, dann rot, dann wieder weiß. Als er weiße Farbe annahm, hob die Amme das Kind hoch und es öffnete seine Augen, Augen von einem seltsamen Blau, wie man es auf der Burg bisher noch nicht gesehen hatte. Die älteren Schwestern hatten allesamt braune Augen, haselnussbraun, wie der Burgherr. Die alte Kammerfrau dachte für einen Augenblick an die Farbe, die Kornblumen annehmen, ein paar Tage, nachdem man sie gepflückt hat. (Meeresblau, an einem Frühsommermorgen, konnte sie nicht denken, denn das Meer hatte sie noch nicht gesehen). Ihr Gedanke wurde von einem leisen Fiepen unterbrochen, das sich bald zu einem hohen Krähen steigerte.
»Es atmet wieder«, dachte die Kammerfrau erleichtert. Das Köpfchen des Kindes mit den erstaunlichen Augen war bedeckt mit rostrotem Flaum. Wie manche Laubblätter, wenn der Herbst sich neigt, dachte die alte Kammerfrau. Dann raffte sie ihre Röcke und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter, so schnell ihr vorgeschrittenes Alter es erlaubte, um der Herrin die frohe Kunde zu bringen.
Die Mutter, Gräfin Radegund, war nach der Geburt in eine Ohnmacht gefallen und man hatte ihren mageren Körper in eines der besser durchlüfteten Turmzimmer getragen. Dort lag sie apathisch auf dem großen Spannbett und wünschte sich weit weg. Es war bereits ihre siebte Niederkunft und sie war verständlicherweise nicht mehr so neugierig auf den Säugling wie bei den älteren Kindern. Beim Eintreten der Alten wandte sie den Kopf nur leicht nach links und schaute die Kammerfrau fragend an. Als diese die Augen zu Boden senkte, wusste Radegund, dass sich der ersehnte Stammhalter noch immer nicht eingestellt hatte und ihr Gatte sie folglich weiter belästigen würde. Einen Moment lang meinte sie den Geruch von Gebrautem zu riechen, den der Graf verströmte, wenn er ihr nahe kam. Augenblicklich musste sie sich übergeben. Die Kammerfrau kam noch rechtzeitig hinzu, um der Herrin die verschränkten Hände als Speikübel hinzuhalten. Auf der Burg gab man nicht viel auf Unpässlichkeit und die Alte erzählte ihrer würgenden Herrin ungerührt, dass das Neugeborene nun doch zum Atmen gekommen sei.
Als die Gräfin von der Haarfarbe hörte, merkte sie ein wenig auf, erhob sich, auf ihre Ellbogen gestützt, matt von der Bettstatt, um gleich wieder zurückzusinken. Kraftlos schlug sie ein Kreuz über der Brust und sprach, die vom Rauch entzündeten Augen zur Decke gerichtet, das Kind komme nach ihrer Großtante Ludovisa. Sie hoffe, es werde nicht ebenfalls so fuchsig rot. Dann fiel sie in einen dreitägigen Schlaf.
Inzwischen hatte die Amme ihr grob gewebtes Gewand geöffnet und den Säugling an eine der großen Brüste gelegt, aus denen hell und klar die Milch tropfte. Das Neugeborene schlug sekundenlang die blauen Augen auf, drehte den Kopf in Richtung des duftenden Zapfens, trank auf der Stelle und außerordentlich gierig. Die Amme, der die beiden oberen Schneidezähne fehlten, lächelte breit. Dann schnalzte sie vernehmlich durch die Lücke ihres Gebisses, das die Kammerfrau für einen Augenblick an einen schadhaften Lattenzaun im Burggarten erinnerte. Dann – so ging die spätere Rede – soll die Amme gesagt haben: »Das ist ungewöhnlich. Sie ist schneller als die jungen Grafen. Man braucht es ihr gar nicht zu zeigen. Das sind Kinder, die neugierig werden und sich einmal nehmen, was sie wollen!«
Katharina konnte, als sie älter wurde, diese Geschichte, die ihr wechselweise von der Mutter, den älteren Schwestern und der alten Kammerfrau erzählt wurde, nicht oft genug hören. Als sie heranwuchs, entwickelte sie jedoch Zweifel an der Geschichte, vor allem daran, dass die Amme so gesprochen hatte, denn sie wusste, dass sie diese Rede gar nicht hätte führen können. Eine Frau aus dem Volk sprach fast nie in ganzen Sätzen und sie benutzte auch andere Worte. Anderlin jedenfalls, der Sohn der Amme, sprach nicht so.
Die Amme hatte seinerzeit ihren zweijährigen Sohn mit auf die Burg gebracht. Anderlins anhaltender Durst brachte Katharina als Kleinkind in den Genuss stets voller Brüste, und mit den Jahren wurde der Sohn der Amme ihr Gefährte bei aufschlussreichen Entdeckungen außerhalb der Burgmauern und Vermittler einer notdürftigen Aufklärung über den Unterschied der Geschlechter. Bis dahin saß die kleine Katharina Lorette Lovisa, solange sie trank, und sie trank bis ins dritte Lebensjahr, in der Burgküche auf der Amme rechtem Bein, das so breit wie ein gefällter Baumstamm war. Auf dem anderen saß Anderlin, ihr Milchbruder, während die Frau, die außer diesen Beinen auch bemerkenswert starke Arme ihr Eigen nannte, Bohnen oder Erbsen pellte, Rüben, Äpfel oder Birnen schälte oder Kohl für den Winter kleinschnitt. Die Kinder krochen dann zu ihren Füßen, die im Sommer nackt und im Winter mit grobem Sackleinen umwickelt waren, auf dem Boden herum.
Als Katharina mehr und mehr den Apfelschalen den Vorzug vor der Brust gab, versiegte der Brunnen und Anderlin und sie bekamen Ziegenmilch, von der kleinen Herde, die in einem Pferch im Burggarten lebte. Und als die Amme keine Kinder mehr bekam und ihre Milch für das jüngste Grafenkind – zur Freude des Burggrafen waren Katharina noch zwei Brüder gefolgt – nicht mehr floss, musste sie die Burg verlassen. Sie packte ihr Bündel, warf es sich über die Schulter und schritt wie ein Mann durchs Tor. Anderlin und Katharina begleiteten sie bis zur Einfahrt und sahen der hohen Gestalt nach, wie sie auf dem gewundenen Weg den Burgberg hinunter schritt. Langsam und würdevoll, wobei ihre großen Brüste bei jedem Schritt sacht unter dem groben Gewand schaukelten. Sie würde von nun an bei den Hintersassen des Grafen am Fuß des Burgbergs leben. Anderlins Vater, ein wandernder Knecht aus dem Rheintal, war schon lange tot. Die Amme kam bei einem Bauern unter. Er wies ihr einen Platz bei den Kühen an, die sie von nun an zu füttern und zu melken hatte. Im Frühjahr half sie beim Pflügen. Die Kinder sahen von oben, wenn sie zwischen den Zinnen hockten, ihre weißen Arme in der Sonne leuchten.

 

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