Michael Eisenkopf »Koblenz von Damals bis Morgen«
Das Glockenschiff
In der Zeit der Corona-Quarantäne, in der sich so viel Zeit für Erledigungen bot, die sonst ungetan geblieben wären, hatte ich mich der Neuordnung meiner Bibliothek gewidmet. In einer edel gebundenen Ausgabe von Schillers Glocke, einem Buch meiner schon vor Jahrzehnten verstorbenen Mutter, fand ich einen angegilbten Brief. Unzweifelhaft trug er die Handschrift meines Vaters.
»Wie schade, Marie«, beginnt der Text, »da hatte ich doch wirklich eine Karte für die Uraufführung eines Theaterstücks am Freitag nächster Woche in den Kammerspielen erstehen können. ›Draußen vor der Tür‹ von Wolfgang Borchert, es soll großartig sein! Aber jetzt werde ich sie Karl schenken, meinem Freund Karl, dem ich sehr viel verdanke.«
Ich blickte auf den Briefumschlag. Der Stempel auf der 24 Reichs-Pfennig-Marke war noch immer gut lesbar: Postamt 2, 2 Hamburg, 10. November 1947. Ein dreiviertel Jahrhundert ist das jetzt her. Es müssen die Tage gewesen sein, in denen mein Vater nach seiner Entlassung aus englischer Gefangenschaft zwei Monate lang in einer Notunterkunft aus Wellblech auf dem Hamburger Heiligengeistfeld hauste und nach Wegen suchte, Geld für die Heimkehr nach Koblenz zusammenzubekommen.
Karl, das musste Onkel Karl sein! Ein bäriger, muskelbepackter und grundgütiger Mensch, den ich später so nannte, weil meine richtigen drei Onkel allesamt den Krieg nicht überlebt hatten. Onkel Karl wohnte im Schwarzwald, arbeitete in einem Sägewerk und betrieb nebenbei mit seiner Frau eine Familienpension in Bad Wildbad, wo wir in den fünfziger Jahren einige Male Urlaub machten.
Mein Vater und er, beide froh, Krieg, Nazizeit und Gefangenschaft entronnen zu sein, wurden beide im fast völlig zerstörten Hamburg der gleichen Nissenhütte zugeteilt, die sie sich mit weiteren achtzehn Menschen teilen mussten. 800 Kalorien am Tag wiesen ihre Lebensmittelkarten aus und Onkel Karl hatte, findig wie er war, bald für meinen Vater und sich selbst Arbeit bei einem Kohlehändler besorgt. Das Schleppen der mehr als vierzig Kilo schweren Brikettträger bis in oberste Stockwerke war hart, verdoppelte aber ihre Nahrungsration auf die doppelte Kalorienzahl und brachte zudem noch Geld in die Reisekasse für die Rückkehr nach Hause.
»Gestern Abend«, schrieb mein Vater weiter, »war ich mit Karl in einem der wenigen noch existierenden Kinos, den Bahrenfelder Lichtspielen. Dort haben wir uns Helmut Käutners beeindruckenden, aber auch bedrückenden Film ›In jenen Tagen‹ angesehen, in dem er ein Auto seine Geschichte in Nazi- und Kriegszeit erzählen lässt. Musst Du Dir ansehen, Marie! Wie viele Kinos sind in Koblenz eigentlich schon wiederaufgebaut?« Ich ließ den Brief sinken. Welch eine völlig andere, eine zerstörte Welt war das damals, in die mich diese Zeilen mit-
nahmen.
»Noch immer macht es mich glücklich, im Dunkel eines Kinos sitzen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass plötzlich Fliegeralarm ist, das Licht angeht und alle Besucher in den Keller oder einen Bunker flüchten müssen. Aber all das ist nicht so wichtig wie das Gespräch, das in der Sitzreihe hinter uns geführt wurde, als wir auf den Beginn des Films warteten! Fast bin ich geneigt zu sagen, dass ich mein Glück kaum fassen kann. Aber wie Du weißt, habe ich nie an Zufälle geglaubt. Ich bin davon überzeugt, dass der Herr unser Leben lenkt. Wie sonst soll ich mir erklären, dass ausgerechnet wir vor dem Paar sitzen, das mir dazu verholfen hat, dass ich bald zu Dir nach Hause kommen werde!«
Oft hatte ich mich insgeheim über den tiefen Glauben meiner Eltern amüsiert, aber es ließ sich nicht leugnen, dass er ihnen viel Kraft gegeben hatte.
»Ja, Marie, bald ist es so weit«, fuhr mein Vater fort, »ich komme nach über drei Jahren in der Fremde wieder heim. Noch kann ich meine Freude nur schwer in Worte bringen, aber in drei Wochen bin ich bei Dir! Und weißt Du, wie? Friedrich, der Mann im Kino hinter Karl und mir, arbeitet im Hafen und erzählte beiläufig seiner Frau, dass sie händeringend einen erfahrenen Binnenschiffer suchen. Da habe ich mich umgedreht und gesagt: Ich bin einer!«
Vaters Beruf hatte ihn lange davor bewahrt, eingezogen zu werden. Als Binnenschiffer verrichtete er eine kriegswichtige Arbeit, schließlich wurden auf Rhein und Mosel Waffen und Lebensmittel transportiert. Dann aber war 1942 in seiner Abwesenheit die MS Rheingau, auf der er Kapitän gewesen war, bei einem Bombenangriff im Kölner Hafen versenkt worden und er musste doch noch zur Marine.
»Der Mann sah mich ungläubig an«, las ich weiter, »dann erzählte er mir, dass im Hafen ein Binnenschiff, die MS Marienburg liege, eigentlich ein Elbkahn. Die soll – halt Dich fest – am 17. November die Leinen losmachen, um nach Koblenz abzulegen. Nach Koblenz! Und als wäre das nicht schon unfassbar genug an göttlicher Fügung, setzt die Ladung des Schiffes allem noch die Krone auf. Weißt Du noch, wie die Glocken von St. Castor nach unserer Trauung läuteten, als wir auf den Platz vor der Kirche traten, der sonnenüberflutet war? Das werde ich nie vergessen.
Was frage ich, natürlich erinnerst Du Dich noch, sonst hättest Du mir nicht im Feldpostbrief geschildert, wie es Dich innerlich zerriss mitzuerleben, wie die Glocken unserer Kirche aus dem Turm geholt wurden, um für den furchtbaren Krieg zu Kanonen eingeschmolzen zu werden.«
Fast glaubte ich, meine Mutter vor mir zu sehen, wie sie in der Wohnküche des kleinen, vom Krieg verschont gebliebenen Hauses in Neuendorf am Küchentisch gesessen haben musste, als sie diesen Brief las. Bilder aus meiner Kindheit stiegen in mir auf, Bilder von Geburtstagsfeiern, auf denen er immer wieder gebeten wurde, seine Geschichte vom Glockenschiff zu erzählen.
»Und jetzt das nächste Wunder: Die Glocken wurden am Rande des Hamburger Hafens gelagert, aber es kam Gott sei Dank nie dazu, dass sie vernichtet wurden. So vieles ist in diesem verfluchten (entschuldige meine derbe Ausdrucksweise) Krieg unwiederbringlich zerstört worden, der Herr aber hat seine Glocken beschützt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ich konnte auf der Marienburg anheuern. Dort wird es unter Deck warm sein, drei Mahlzeiten soll es täglich geben und am Ende sogar eine kleine Heuer. Wir werden insgesamt 287 Glocken aus dem Bistum Trier zur Koblenzer Moselwerft bringen, damit sie von dort in ihre Kirchen zurückgebracht werden können.«
Sein Brief strahlte ein derart großes Glücksgefühl aus, dass auch nach all diesen Jahren noch leuchtete.
»Karl wird mir die Abreise verzeihen, er ist zuversichtlich, nach weiteren sechs Wochen bei Kohlenhändler Franzen genug verdient zu haben, um ebenfalls nach Hause reisen zu können. Jetzt hoffe ich nur, Marie, nein, ich wünsche es mir sehr, dass Du in der Wäscherei einen freien Tag bekommst und mich am vierten Dezember, das ist ein Donnerstag, in Lützel in Empfang nehmen kannst.«
Ich faltete den Brief zusammen, legte ihn sorgsam zurück ins Buch und stellte es zurück ins Regal zu den anderen Schiller-Ausgaben.
Auch dieser Brief meines Vaters hatte geendet, wie ich es von jeder seiner Postkarten und Briefe kannte. Mit einem zuversichtlichen: Alles wird gut.