»Raus hier, aber schnell!« Peter Friesenhahn
Mein Name ist Georg von Trochwitz, ich bin 42 Jahre alt, war früher Journalist bei verschiedenen Zeitungen, seit einigen Jahren bin ich freiberuflicher Schriftsteller.
Bekannt geworden bin ich durch meine Krimis, die mit schwarzem Humor gespickt sind, und für meine Romane fuhr ich in die Länder, in denen die Handlung spielen sollte.
Authentisch musste es sein, ich fuhr zum Beispiel nach Venezuela, in den Hunsrück oder auch nach Norwegen. Hier, im hohen dunklen Norden schrieb ich den Roman »Mitternachtsmond.«
Das Buch hatte tolle Kritiken und gute Verkaufszahlen, aber das ist alles Schnee von gestern.
Im Moment nage ich am Bleistift und denke nach, denn ich will mal wieder einen Krimi schreiben.
Aber was ich auch denke, es führt zu nichts. Zu keiner Idee, zu keinem Plot. Lauter wirres Zeug schwirrt in meinem Kopf herum, ich kann nichts festhalten, nichts herauskristallisieren. Kann meine durcheinander strudelnden Gedanken nicht in Worte fassen.
Alte Geschichten ziehen an meinem geistigen Auge vorbei. Schon lange erledigt. Figuren, die ich früher erfunden habe, stellen sich kurz vor und verschwinden wieder im wirbelnden Kopfnebel.
Sie sollen bitte auch schnell verschwinden. Ich will sie nicht mehr sehen.
Neue, frische Figuren mögen freundlicherweise auftauchen, ein Eigenleben entwickeln.
Sie sollen streiten, sich lieben, sich töten, aber nichts dergleichen geschieht.
Ich komme mir vor wie ein Schüler, der gelähmt vor Angst schwitzend in der Schulbank sitzt und unfähig ist, den für die Versetzung wichtigen Deutschaufsatz anzufangen.
Schreibblockade nennt man das. Ein ungebetener Gast, der sich manchmal überraschend einstellt.
Man soll, so las ich in einem schlauen Buch, als frustrierter Schriftsteller dann den Ort wechseln oder spazieren gehen, um so den Geist zu befreien und die Kreativität zu steigern. Beides geht bei mir aus bestimmten Gründen nicht.
Berühmte Schriftsteller wie Jack London und Ernest Hemingway sollen Whiskey und andere hochprozentige Alkoholika getrunken haben, um schreiben zu können. Dostojewski soff Wodka, heißt es. Diese Getränke habe ich zur Zeit leider nicht zur Verfügung.
Früher lief das alles viel besser bei mir. Oft schlugen Blitze in meinen Geist und mit einer dadurch gezündeten Idee schrieb ich in einem Rutsch einen spannenden Krimi. In dreieinhalb Monaten war er fertig. Ich wusste ganz genau wer wen warum nicht leiden konnte, wer mit wem fremd ging, wer gierig nach Macht war und warum jemand von wem getötet wurde. Und vor allen Dingen hatte ich immer den Weg, die Spur im Kopf, die der Detektiv oder die Kommissare gehen mussten, um den Fall aufzuklären.
Meine Ideen sprudelten nur so aus mir heraus. Zum Beispiel diese:
Ich erfand für einen Krimi einen etwas verklemmten, unbeholfenen Polizisten, der durch einen Fall stolperte, in dem der Verbrecher sich über ihn, den plumpen Gesetzeshüter, lustig machte, ihn nach Strich und Faden verarschte und belog. Um der ganzen Sache den richtigen Kick zu geben, ließ ich den üblen Gauner noch mit der attraktiven Frau des Polizisten ins Bett gehen. Als ich diese Idee hatte, wurde mir richtig warm ums Herz. Dann verlieh ich dem Polizisten im Buch noch die Großherzigkeit, seiner Frau den Seitensprung zu verzeihen, um dann doch noch am Schluss dem Verbrecher seine Mordtat nachzuweisen und ihn zu verhaften. Die Leserschaft würde sich über diesen Schluss freuen.
Aber ich wollte noch ein überraschendes Ende. Ein Happyend kann schließlich jeder. Also ließ ich meine lebhafte Fantasie schweifen, dann hatte ich diese Idee, ich schrieb:
»Doch seine Großzügigkeit zahlte sich nicht aus. Als er nach Hause kam begann seine Frau einen üblen Streit mit ihm. Sie schrie, er blieb ruhig, sie fauchte ihn an, er blieb ruhig, sie wurde immer wütender und schlug ihn, er blieb ruhig, sie spuckte ihn an und dann nahm sie plötzlich seine Dienstpistole und tötete ihren Mann mit einem Schuss in den Kopf.«
Ein toller Schluss mit dem Schuss, nicht wahr? Nicht vorhersehbar auf 244 Seiten, plötzlich und unerwartet: Peng. Der Leser hat am Ende noch einmal Gänsehaut und empfiehlt das spannende Buch vielleicht weiter. Mir wäre das sehr recht, denn im Moment geht es mir wirtschaftlich und schriftstellerisch nicht so gut.
Mein Verleger meinte damals: »Georg, diesen brutalen Schluss lassen wir weg, Happyend ist besser.«
Also ließ ich den Schluss weg, doch das Buch verkaufte sich gar nicht gut.
Monatelanges Schreiben und nur ein paar Euro.
»Dann schreiben Sie eben einen Regionalkrimi, Georg«, meinte der Verleger, »so was geht immer.«
Ich schaute mich bei den Kollegen um. Jeder schrieb gerade einen Regionalkrimi:
»Tot in der Eifel«,
»Erschossen im Hunsrück«,
»Verhungert in Trier«,
»Das deutsche Eck wird rund«.
Eine Krimi-Inflation war in Gang gekommen. In diesen braven ruhigen Gegenden sollten Morde scheußlichster Art passiert sein? Unglaublich. Nicht realistisch. Alles Quatsch.
Auch das Buch »Mörderische Mosel« ist ein Beispiel dafür, dass die Autoren keine Ahnung von der kriminellen Wirklichkeit im Moseltal haben. Hier an der Mosel werden höchstens mal zwei oder auch fünfzig Winzer erwischt, die wieder einmal mit schwarz verkauftem Weißwein viel Geld eingenommen haben. Hier wird auch nicht gemordet, hier trinkt man sich höchstens tot.
Tatort Hunsrück: die Hunsrücker werden als räuberisches Bergvolk beschrieben, alle denken an Schinderhannes und seine martialischen Spießgesellen. Aber die Nachfahren dieser wilden Spezies sind brave Bauern und Verwaltungsangestellte, die höchstens samstags mal im Schützenverein ballern und ansonsten im katholischen Teil des Berglandes artig in ihren schicken Uniformen die Fronleichnamsprozession begleiten.
Und trotzdem, es boomt mit den Krimis um die Region des Erbeskopfes. Mal wird jemand vom Saar-Hunsrück-Steig gestoßen, mal findet man eine Leiche unter der schönen, hundert Meter hohen Hängeseilbrücke oder jemand verhungert, eingesperrt im höchsten Windrad des Hunsrücks.
An dem ganzen Regionalkram war Berndorf schuld. Ein kleines beschauliches Dorf in der Eifel, das einem Autor seinen Namen lieh. Hier wurde der Journalist Siggi Baumeister geboren, der ungewöhnliche und außergewöhnlich viele Kriminalfälle in der ruhigen Eifel löste.
So viel kriminelle Energie im vulkanischen Gebiet? Na ja, es brodelt, brubbelt und zischt immer noch in der Eifel. Vielleicht bricht nochmal ein Vulkan aus, das wäre dann ein Highlight für die Schreiber dort. Ich sehe schon die Buchtitel:
»Im Strom der tödlichen Lava« oder
»Im Vulkan der Liebe«,
»Er war hart wie Basalt«.
Alles Blödsinn, keine guten Titel.
Ein Autor aus der Eifel, den Namen will ich nicht nennen, schreibt sogar lustige Geschichten über Mord und Totschlag, in seinen Lesungen lachen sich die Zuhörer über seine schrägen Morde tot. Alles tolle Kollegen, diese einfallsreichen Autoren. Aber mir, wie schon gesagt, mir fällt im Moment nicht viel ein.
Als ich damals den Krimi »Das dunkle Haus im Schatten des Waldes« schrieb, war alles noch in Ordnung. Der Detektiv suchte in einem alten, heruntergekommenen Haus im Wald nach einem verschwundenen Mädchen. Er brach in das verlassene Haus ein und verlief sich in dunklen, endlos scheinenden Korridoren. Er hörte Geräusche, das Wimmern eines Kindes, den Schmerzensschrei einer Frau und fand ein verborgenes Zimmer, in dem in einem Versteck das Tagebuch des Mädchens lag. Im Tagebuch hatte das Mädchen nämlich bis zu ihrem Verschwinden alles aufgeschrieben.
Vom Besuch des unheimlichen Maskenmanns, der sie quälte und daran höllischen Spaß hatte.
Was sie wann und wie viel zu essen und zu trinken bekam. Sie schrieb auf, was sie hörte und was sie roch. Anhand dieser Eintragungen fand er Tage später im letzten Moment das Mädchen in einer Kiste in der tiefen Werkstattgrube der Scheune. Lebend, aber fast verdurstet. Der Spur des Maskenmanns folgte er dann noch wochenlang, und durch die Aufzeichnungen im Tagebuch gelang es ihm, den Verbrecher in letzter Minute und mit Hilfe meiner lebhaften Fantasie kurz vor dem Betreten des Ryanair-Fliegers nach Zagreb am Triwo-Flughafen Hahn zu stellen.
Das Buch war ein Renner im Verlag und auf meinem Konto.
Meine lebhafte Fantasie ist mir aber leider durch besondere Umstände abhanden gekommen.
Es schlagen keine Geistesblitze mehr ein, nur noch dunkle Wolken umwabern den Teil meines Gehirns, in dem normalerweise der Schreibvorgang stattfindet. Scheiß Schreibblockade!
Noch nicht einmal ein guter Anfang fällt mir ein, in meiner jetzigen Situation ist das ja auch erklärlich. Aber trotzdem: da ist eine unfertige Geschichte, die mir immer noch im Kopf herumspukt. Seit Monaten liegt sie bleischwer in meinem präfrontalen Kortex, ohne dass sich eine Weiterentwicklung zeigt. Ein Anfang ist zwar angedacht, er ist aber nicht wirklich originell.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass während des Schreibens meine Fantasie auf Touren kommt, vielleicht ergibt sich ja doch noch was daraus. Ich erzähle mal, was ich bisher habe:
Ein Einbrecher dringt nachts in ein Haus ein, der Besitzer ertappt den Mann, es kommt zu einem Gerangel und der Besitzer schlägt den Eindringling tot.
Mit was lass ich ihn zuschlagen? Mit dem Golfschläger, der im Schirmständer steht oder gleich mit dem Schirmständer? Besser ist der Golfschläger. Allein das Wort Schläger weckt schon Assoziationen beim Leser. Schirmständer eher nicht, also schlägt er mit dem Golfschläger zu.
Der Bewohner des Hauses, ich nenne ihn Rainer, macht das Licht an, dreht den toten Mann um und erkennt entsetzt, dass er seinen eigenen Bruder Oliver erschlagen hat.
Eine Kain-und-Abel-Geschichte.
Aber weiter bin ich noch nicht gekommen. Mein Bleistift wird immer fransiger und nasser, mein Schreibpapier bleibt leer und weiß. Auf Papier zu schreiben hat aber auch sein Gutes, man muss die Sätze gut formuliert im Kopf haben, bevor man sie aufschreibt. Beim Computer kann man mit einem Klick alles löschen, neu formulieren, fabulieren, drauflos schreiben, wieder löschen und so weiter. Mit dem ganzen Geklicke verschwimmt aber oft alles im labyrinthischen Gedankenwirrwarr.
Zurück zum Tatort:
Entsetzen macht sich breit, beim Täter, aber auch bei der mittlerweile durch den Krach wach gewordenen Ehefrau. Sie reagiert entsetzt, als sie den toten Mann sieht und erkennt. Sie heult, schreit und lamentiert wie ein albanisches Klageweib.
Warum brüllt sie so? Hat sie vielleicht mit dem Bruder was gehabt? Ich weiß es noch nicht, wie gesagt, in meinem Kopf ist es noch sehr leer. Der Mann, der zugeschlagen hat, also Rainer, sitzt nun im Flur auf dem Boden, blass wie eine Leiche und aus der Leiche, die vor ihm liegt, sprudelt Blut.
Ja, das ist gut. Sprudelt. Oder quillt? Was ist besser, was klingt schauriger? Sprudelt oder quillt?
Ich überlege noch mal, strenge meinen Gehirnkasten an – und ich nehme ›strömt‹. Strömt klingt gewaltig. Beim Computer hätte ich für sprudelt bestimmt schnell einen anderen Begriff gefunden, durch Thesaurus, aber so ist es auch gut gelaufen. Nicht einmal fünf Minuten habe ich gebraucht, um das Wort strömt zu finden. Man merkt, wie anstrengend und zeitaufwendig so eine Schreibe ist.
Fünf Minuten für ein Wort. Zurück zur Leiche.
Während das Blut aus ihr herausströmt, will Rainer einen Arzt, den Rettungswagen und die Polizei rufen, aber seine Frau schüttelt weinend den Kopf: »Bitte keine Polizei! Und Arzt brauchen wir auch keinen mehr, der ist doch schon tot.«
Und sie fügt noch hinzu: »Oliver muss hier weg.«
Dann setzt sie sich schwer atmend in einen Stuhl im Flur.
Nein, das geht besser: Dann lässt sie sich schwer atmend in einen Sessel im Flur fallen.
Das klingt gut.
Ja, und damit sich der Leser einen Eindruck vom Flur machen kann, wird jetzt beschrieben, wie der aussieht, wie weitläufig, welche Kommode dort steht, welche Gegenstände auf dem Schränkchen, welche Leuchte an der Decke, welche besondere Tapete, welche Bilder an den Wänden … und natürlich wird der Schirmständer beschrieben, der im Urlaub vor vielen Jahren auf einem französischen Flohmarkt erstanden wurde. Ich könnte noch hinzufügen, dass der Golfschläger auf einem Wanderweg, der quer durch einen Golfplatz führte, von Rainer »gefunden« wurde, aber das führt jetzt zu weit und würde den Leser nur verwirren.
Der Teppich wird vielleicht noch wichtig werden und die Tür zum großen Garten mit dem wunderschönen Swimmingpool. Nein, andersrum ist besser: Die Tür zum wunderschönen Garten mit dem großen Swimmingpool.
Zurück in den Flur unseres Mörders: Die Leiche liegt, der Rainer sitzt und seine Frau – ab jetzt heißt sie Annika – nimmt den Golfschläger mit spitzen Fingern vom Boden, geht in die Küche und wischt das Blut ab, macht auch den Griff sauber, um Fingerabdrücke unkenntlich zu machen – Moment! Das ist Quatsch, denn wer sonst als Rainer nimmt den Golfschläger in die Hände?
Sonst keiner als Rainer.
Dann sagt sie zu Rainer und zeigt auf die Leiche: »Olli muss hier weg.«
Er blickt mit Tränen in den Augen zu ihr auf und sagt, nein besser – Moment, ich hab’s gleich – er sagt nicht, er schluchzt. Schluchzen ist besser. Also, Rainer schluchzt: »Ich bin fix und fertig! Wie konnte das passieren? Oliver, Olli, es tut mir so leid! Was machst du auch hier nachts um halb eins, ich versteh das nicht. Annika was machen wir bloß? Wir müssen doch was tun!«
Annika zuckt mit den Schultern.
»Ich sagte doch, der muss hier weg, aber ohne Polizei. Uns fällt schon noch was ein, Rainer. Lass uns überlegen.«
Und während die beiden jetzt überlegen, wie sie die Leiche des Bruders aus dem Haus schaffen könnten, eingerollt in einen Teppich vielleicht, wie man das so aus Krimis kennt, überlege ich, wie man das Ganze noch spannender, emotionaler machen könnte.
Dafür stehe ich auf und gehe auf und ab, auf und ab, immer wieder. Ein probates Mittel um Ideen zu bekommen. Und dann auf einmal funkt es oder auch nicht, aber dieses Mal funkt es schon beim zwölften mal »hin und her«. Ich mache aus Rainers Bruder Oliver seinen Zwillingsbruder. Das rührt den Leser bestimmt zu Tränen und lässt seine Haare auf den Unterarmen zu Berge stehen.
Zu Berge? Welche Berge? Das mit den Haaren und den Bergen lass ich weg.
Der Gedanke mit dem Zwillingsbruder ist gut.
Jetzt will man natürlich wissen, warum der Zwillingsbruder in das Haus eingestiegen ist.
Oder soll ich schreiben, eingebrochen? Dafür müsste am Anfang ja eine Scheibe, ein Fenster, eine Glastür zu Bruch gegangen sein. Sonst hieße das ja nicht eingebrochen. Also Bruch, Klirrrrr.
Ich blättere zurück. Eindringen, habe ich am Anfang geschrieben, das bleibt so, er dringt ein.
Aber warum ist er eingedrungen in das Haus seines Bruders?
Nach der soundsovielten Hin-und-Her-Geherei habe ich eine Idee:
Das Ehepaar Rainer und Annika haben schon länger getrennte Schlafzimmer, denn Rainer schnarcht gewaltig, er zersägt in einer Nacht fünf Kubikmeter bestes Hunsrücker Buchenholz und deshalb, und aus anderen ehelichen Gründen haben die beiden sich geeinigt, zwei Schlafzimmer zu benutzen.
Weil Oliver schon immer hinter Annika her und sie nicht abgeneigt war, hat sie öfter, nach telefonischer Absprache mit Oliver die Tür zum wunderschönen Garten einen Spalt weit offen gelassen. Aber wieso ist Rainer wach geworden? Oliver stieg doch unbemerkt ein, ging doch ganz leise auf grauen Schafwollsocken auf dem weichen Teppich im Flur. Vielleicht musste Rainer auch nur pinkeln und beim Toilettengang hat er dann den dunklen Schattenmann gesehen. Quatsch! Schattenmann ist Quatsch. Im Flur war es dunkel und wenn es dunkel ist, gibt es keinen Schatten. Also nochmal: Rainer geht im Dunkeln zur Toilette und trifft plötzlich im Flur auf einen Mann.
Er erschrickt, es kommt zum Gerangel und Rainer schlägt Oliver mit dem Golfschläger eins über die Rübe. Ganz einfach, so war es.
Aber was ist mit Annika los? Natürlich hat sie Angst, dass ihr Verhältnis mit Oliver durch die Vernehmung mit der Polizei bekannt wird. Sie hat auch Angst, Rainer zu verlieren, das Haus, den großen Swimmingpool im wunderschönen Garten.
Jetzt kommt mir die Idee, die Leiche von Oliver im Garten vergraben zu lassen. Aber Rainer fragt sich, warum soll Oliver verschwinden? Warum drängt seine Frau so darauf?
Ach, ich komme einfach nicht weiter mit der Geschichte. Ist alles nicht logisch aufgebaut, nicht spannend genug. Solche Untaten passieren tatsächlich jeden Tag, aber meine Version ist langweilig.
Es klingt banal, aber die meisten Morde sind wirklich Beziehungstaten, oft in der eigenen Familie. Familie kann furchtbar sein, ich rede aus eigener Erfahrung.
Eine Verwandte von mir aus Trier, Tante Käti, hat ihren Mann, also meinen Onkel Bernd, aus ihrer Wohnung im vierten Stock vom Balkon gestoßen. Absichtlich. Er fiel zum Entsetzen einiger Passanten genau vor den Eingang von H&M, was die Kauflust einiger Leute doch sehr beeinträchtigte. Nachdem Tante Käti sich vergewissert hatte, dass ihr Mann gut unten aufgeschlagen war, alarmierte sie die Polizei. Bei ihrer Festnahme sagte sie, er habe immer und immer mit ihr geschimpft, keine Pause gemacht. Von morgens bis abends habe er herum gemotzt, seit Jahren habe er sie gedemütigt.
»Und geraucht hat er! Die ganze Wohnung hat er voll gestunken mit seinem ekligen Zigarrenqualm! Es reicht jetzt!«, sagte sie. Da war Tante Käti zweiundachtzig und die beiden hätten in ein paar Tagen goldene Hochzeit gehabt.
Deshalb schreibe ich gerne über solche Familiengeschichten, da kann ich ein Wörtchen mitreden.
Ich kann keinen Wirtschaftskrimi schreiben mit Bitcoin und den üblen Machenschaften deutscher Banken. Auch liegt es mir nicht, undurchsichtige Firmengeflechte aufzudecken und dubiose Staranwälte zu beschreiben, die dann den stinkreichen Wirtschaftsbossen die heißen Kastanien aus dem Feuer holen und durch wahnsinnige hohe Anwaltskosten noch reicher werden.
Das ist nicht so mein Ding. Besser die liebe Nachbarschaft beobachten, den normalen Menschen auf die Finger gucken. Zum Beispiel dem cholerischen Bäcker, der seinen jungen Mitarbeiter schon zweimal gefeuert und dann wieder eingestellt hat. Bäcker sind halt schwer zu finden.
Dem mutigen Tankwart hinter die Theke schauen, der schon dreimal überfallen und ausgeraubt wurde und seit neuestem eine Pistole unter der Kasse versteckt hat. Wehe dem nächsten Räuber.
Auf die alte Tante Adelheid achten, die fast ihr gesamtes Geld an einen Enkeltrickbetrüger verloren hat. Obwohl sie gar keinen Enkel hat.
Das sind Ereignisse, die mich beschäftigen und die zu manch kurzweiliger Geschichte geworden sind, die ich manchmal sogar an den Herausgeber einer Anthologie verkaufen konnte, was mir geholfen hat, den nächsten Monat finanziell zu überstehen.
Und wichtig! Aus dem Fenster schauen, da sieht man manchmal bemerkenswerte Sachen, die ich mir sofort notiere.
Aus dem Fenster schauen? Na ja, da ist zur Zeit nicht viel zu sehen.
Zurück zu der armen, immer noch überlegenden, unter Schock stehenden Familie Brock.
So heißen sie, Brock. Leicht zu merken. Also, wir haben jetzt den getöteten Oliver Brock, seine Geliebte Annika Brock und Olivers Mörder, Rainer Brock, Ehemann von Annika und Olivers Zwillingsbruder.
Jetzt will der Leser natürlich näheres über das Aussehen und den Charakter der Mitwirkenden erfahren. Also denke ich mir was aus. Aber es muss passen! Oliver Brock, ein stattlicher Kerl, durchtrainiert, markante Nase, hervorstehendes Kinn und ganz kurze schwarze Haare, Dreitagebart. Da er nur eine kurze Rolle spielt, brauche ich seinen wahren Charakter nicht zu beschreiben.
Sein Bruder Rainer, natürlich ebenso stattlich, Nase und Kinn gleich markant, schwarze Haare, aber er ist ein Weichei, ein ganz normaler langweiliger Ehemann. Er geht ganz in seinem Job auf und hat keine Zeit für seine Frau.
Annika hat einen blonden Kurzhaarschnitt, sie ist lebenslustig und sehr kontaktfreudig.
So, das ist die Kurzfassung, mehr dazu, wenn es zur Sache geht. Zurück zu Olivers Mörder.
Schon wieder falsch. Rainer ist gar kein Mörder, er hat in Notwehr gehandelt, also ist er ein Totschläger. Für Totschlag gibt es, so viel ich weiß, weniger Strafe, und wenn dann noch Notwehr dazu kommt, wird es vielleicht sogar ein Freispruch.
Verdammt noch mal, so wird das kein spannender Krimi! Jetzt würde ich gerne recherchieren: Mord, Totschlag, Notwehr, Affekt, wie viel Jahre Gefängnis bekommt er? Aber zum Teufel, ich habe keinen Computer, und ohne so ein Ding gibt es keine gute Recherche. So langsam fehlt mir ein PC. Wenn ich wenigstens ein Handy hätte, dann könnte ich eine meiner Nichten anrufen und sie fragen. Sie hat Jura studiert und weiß solche rechtsrelevanten Sachen ganz bestimmt.
Vielleicht hat man es beim Lesen der letzten Seiten mitbekommen. Ich habe geschrieben: meine besondere Situation lässt es nicht zu, oder: im Moment geht es mir wirtschaftlich und schriftstellerisch nicht so gut, ich habe keinen Whiskey und keinen Wodka im Haus, und das wichtigste: ein Ortswechsel geht bei mir aus bestimmten Gründen nicht.
Bitte nicht erschrecken! Ich atme im Moment gesiebte Luft hinter schwedischen Gardinen ein und sitze schon seit geraumer Zeit im Knast, dort ist ein Ortswechsel höchstens von der Gefängniszelle auf den Hof möglich. Im Knast ist kein Computer erlaubt und ich muss deswegen alles, was mir einfällt, mit der Hand, in der ich Bleistift oder Kuli habe, aufschreiben. Und das nur bis 22 Uhr.
Dann ertönt die Stimme des wachhabenden AVDs aus dem Lautsprecher: »Bitte Fenster schließen, es beginnt die Nachtruhe.«
Und dann geht das Licht in der Zelle aus. Schluss mit Lustig.
Ich sitze übrigens unschuldig hier. Ich soll meinen Verleger umgebracht haben, sagt der Richter in seinem Urteil. Was aber nicht stimmt. Wirklich nicht.
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich nun im Gefängnis, ein bedrückendes Gefühl.
Der Freiheit beraubt. Lähmendes Entsetzen als die Zellentür mit einem lauten Wumms zufiel und von außen abgeschlossen wurde. Luftnot und augenblicklich ein Angst einflößendes Gefühl der Enge. Der Blick durch das vergitterte Fenster, der Blick auf die Toilette, das Waschbecken, das Bett, die grau gestrichenen Wände und der Blick zurück auf die stabile Zellentür mit der Revisionsklappe. Der Blick auf den jungen Mann, der auf dem zweiten Bett sitzt und summt, den Kopf leicht dreht, dann aufhört zu summen, mich anstarrt und »Hallo« sagt.
Ich bekomme keinen Ton heraus, meine Stimme versagt. Ich räuspere mich und ein leises, krächzendes Hoooo kommt aus meiner Kehle.
Ich habe noch die Klamotten, die man mir eben mitgegeben hat, in der Hand. Der junge Mann sieht das und sagt: »Du bist links im Schrank.«
Er zeigt auf das abgeschabte Möbelstück. Dann dreht er den Kopf und summt weiter. Ich gehe die zwei Schritte, lege die Klamotten hinein und setze mich schwer atmend auf das Bett.
Mit jedem Atemzug rücken die Wände ein Stück näher. Luftnot, ein Schweißausbruch, meine Hände zittern. Ich lege mich aufs Bett, Herzklopfen, sogar im Ohr, und schaue an die graue Decke.
Presse die Augenlider zu. Zwinge mich zur Ruhe. Ich habe noch nie Angst verspürt, aber dieser Zustand der Enge jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Ich öffne die Augen und sehe mich um, so weit das eben auf vierzehn Quadratmetern geht. Ein klaustrophobisches Gefühl überfällt mich, ich fange an zu stöhnen und stoßweise die Luft aus meinem schweißnassen Körper zu pressen.
Der junge Mann summt weiter. Dann hört er plötzlich auf mit dem Gesumse. Erschrocken schaue ich ihn an, er dreht den Kopf zu mir und sagt mit ausdruckslosem Gesicht: »Das mit der Platzangst, das ist am Anfang immer so. Das legt sich nach ein paar Wochen.«
Dann summt er wieder. Ich bekomme Magenkrämpfe und Durchfall, muss diese Toilette benutzen, die im Raum mit einer Plastikverkleidung vor den Blicken des Mitgefangenen schützt.