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Leseprobe »Perpel der Regenschirmverleiher«

 

Heute

Seine Augen sind auch nicht mehr die jüngsten. Auf dem Speicher muss er sich erst an das dämmrige Licht gewöhnen, bevor er den alten Rucksack entdeckt. Über Jahrzehnte vergessen, in einer Ecke ganz hinten, verstaubt. Er macht ihn auf. Ganz oben liegt das dünne Schulheft. Er nimmt es heraus und liest: ›Wegkreuze‹. In der Küche ist das Licht besser als hier oben, deshalb nimmt er das Heft mit runter an den Küchentisch. Er hält es wie einen Schatz, klappt es auf und blättert darin, wird ganz hineingezogen, muss an manchen Stellen lächeln, an anderen schlucken vor Rührung. Dann starrt er lange vor sich hin. Man könnte meinen, ins Nichts. Und dann weiß er, was er zu tun hat. Er holt aus dem Büro neben der Werkstatt einen Stapel Blätter und den Füllfederhalter mit der goldenen Feder, ein Geschenk Merles. Dann beginnt er zu schreiben.

Hunsrück

Als der Dorfschullehrer Hilarius Hagenbach die Schreie aus dem Schlafzimmer hörte, klangen ihm diese wie Angelusläuten. Bereits gestern hatte man ihn weggeschickt. Die Hebamme hatte gemeint, er stünde nur im Weg. Die Geburt würde nicht einfach werden und dabei könne er mit all seinem Wissen sowieso nicht helfen. Er solle sich in die Küche setzen und einen Tee trinken. Auch Beten würde nicht schaden. Viele Stunden hatte er nun schon das Wimmern seiner Frau und die beruhigenden Worte der alten Hebamme gehört, die aber, so bildete er sich ein, immer besorgter geklungen hatten. Seine Angst war stetig gewachsen: »Himmel, steh mir bei! Mach, dass alles gutgeht. Ohne sie fehlt mir mein Fundament!«
Der Lehrer war eigentlich ein strenger Mann, wenigstens versuchte er so zu wirken. Er war sich sicher, dass ihm die Plagen ansonsten irgendwann auf dem Kopf herumtanzten. Härte, Rationalität und direkte Reaktion, hatte ihnen der Professor beim Studium immer wieder eingetrichtert. Das war ihm zur zweiten Natur geworden. Er galt in dem kleinen Hunsrückort als streng, aber gerecht.
Dass es tief in ihm drin, wie bei fast allen Gottesgeschöpfen, auch noch eine weiche Seite gab, ahnten vielleicht einige Menschen, die weise genug waren, um das Leben zu verstehen; wirklich erfahren hatte diese Seite aber nur seine Frau Anna-Luise, die sehr darunter litt, dass sie, aus der Stadt kommend, hier mit ihm in Höhenthal leben musste, wo sie, auch wegen seiner Stellung im Dorf, nur schwer Kontakt zu den Leuten fand. Immerhin wurde sie gelegentlich als die Frau vom Lehrer zu irgendwelchen Feierlichkeiten mit eingeladen, aber wirklich freundschaftliche Beziehungen waren daraus nicht entstanden. Hilarius ermunterte sie, unter Leute zu gehen oder auch gelegentlich ein paar Tage mit den Eltern oder früheren besten Freundinnen in der Stadt zu verbringen, überraschte sie mit kleinen Geschenken und achtete darauf, dass sie freie Zeit, die ihm sein Beruf ließ, gemeinsam verbrachten. Ihm war, als wolle er damit sein schlechtes Gewissen beruhigen. Immerhin hatte er sie hierhergebracht.
Sie hatte nie aufs Land gewollt. Auch wenn ihr der Hunsrück mittlerweile gut gefiel und sie sich von den Menschen vielleicht etwas zögerlich, aber doch sehr freundlich aufgenommen fühlte; sie war eigentlich ein Stadtmensch. Und doch hatte sie keine Sekunde gezögert, Hilarius zu folgen, egal wohin, nur weg von zu Hause. Dabei hatte sie anfangs ihre Familie als liebevoll behütend erlebt. Die Mutter, Hausfrau mit Leib und Seele, brav, fromm, vielleicht etwas zu streng. Der Vater, ein kleiner Angestellter bei der Reichsbahn, aber durchaus mit der Absicht, es noch zu etwas zu bringen.
Alles änderte sich, als der Vater nach Hause kam und verkündete, dass nun bessere Zeiten anbrechen würden. Er habe seine Arbeit gekündigt und diene jetzt nur noch dem Volk, dem Vaterland und der Partei. Nachdem er die Uniform angezogen hatte, wirkte er seltsam verändert, trat auf unangenehme Weise selbstsicher auf und auch seine Sprache war forsch-zackig, rau und primitiv, geworden. Anna-Luise konnte es kaum ertragen, wenn er mit Schaum vorm Mund über Judensäue, dreckiges Geschmeiß und unwertes Leben geiferte.
Die Wohnung wurde immer voller mit Dingen, die sie sich früher nicht hatten leisten können. Auf die Frage der Mutter, woher ihr Mann denn all diese tollen Sachen habe, meinte er nur grinsend: »Die Itzigs können das sowieso nicht mehr brauchen. Die bekommen schon, was sie verdienen.« Anna-Luise war entsetzt.
Ihr Bruder ging mit Begeisterung zur Hitlerjugend und sie hätte bestimmt mehr Freude beim Bund Deutscher Mädel gehabt, wenn ihr Vater nicht von ihr verlangt hätte, den Kontakt zu ihrer besten Freundin Sarah abzubrechen. Doch die verschwand sowieso irgendwann ganz plötzlich, und so sehr Anna-Luise auch fragte, sie erfuhr nicht wohin. Ein paar Tage später wurde ein Klavier ins Wohnzimmer getragen, das sehr dem glich, auf dem Sarah ihrer Freundin immer ihre Fortschritte beim Klavierunterricht demonstriert hatte.
Die Gesichtszüge des Vaters wurden härter, sein Blick kälter. Nach und nach bekam Anna-Luise mit, wie sich die Welt veränderte und welche ›Sache‹ ihr Vater vertrat und sie konnte nicht glauben, dass er wirklich Teil dieser Unmenschlichkeit sein sollte. Schon wie er auf einmal redete über die Menschen, denen er zuvor noch dienstbeflissen begegnet war. Wenn sie über die Dinge, die im Land vorgingen, sprechen wollte oder sogar Kritik übte, verbot ihr der Vater jede eigene Meinung und die Mutter stand immer bedingungslos auf seiner Seite.
An einem Mittag, als Anna-Luise von der Schule nach Hause kam, musste sie sehen, wie ihr Vater ein altes jüdisches Ehepaar, freundliche Menschen aus der Nachbarschaft, vor sich auf der Straße im Dreck kriechen ließ. Dabei mussten die beiden zur Belustigung einiger Passanten laut rufen, dass sie Judenschweine seien, so lange, bis der Vater dem grausigen Schauspiel mit Tritten in den Bauch der Frau und in die Rippen des Mannes ein Ende machte.
Anna-Luise weinte tagelang und konnte von nun an den Vater und das Zuhause kaum mehr ertragen. Das änderte sich auch nicht mehr, und als Hilarius, ein angehender Lehrer, der ihr manchmal Blicke zuwarf, um sie warb, zögerte sie keine Sekunde und sendete ihm sogar klare deutliche Zeichen, dass sie bereit sei, ihn zu heiraten. Als er sie dann fragte, ob sie seine Frau werden wolle, stimmte sie zu und verbot ihm sogar, beim Vater um ihre Hand anzuhalten. Dem Vater drohte sie einen Skandal an, falls er sich der Heirat entgegenstelle. Immerhin wisse sie einiges über ihn und seine Machenschaften, was die Öffentlichkeit und die Partei sicher interessieren würde. Der willigte dann, zitternd vor Wut, ein und die Mutter hatte nicht einmal mehr ein Abschiedswort für die Tochter. Anna-Luise wäre Hilarius ohne Zögern überallhin gefolgt, wenn der Weg sie nur von ihren Eltern entfernte, die sie übrigens nie mehr wiedersah.

Als der alte Hausarzt, Anna-Luise war es in letzter Zeit immer wieder übel geworden, ihnen zur Schwangerschaft gratulierte, konnten sie beide ihr Glück kaum fassen und wussten nicht, wohin mit der ganzen Fröhlichkeit. Anna-Luise sah in ihrem Bauch endlich den Sinn ihres Lebens heranwachsen und leuchtende Tage auf sich zukommen, ausgefüllt mit Wickeln, Stillen und ausgedehnten Spaziergängen über die Hunsrückhöhen, bei denen sie mit anderen Müttern Erfahrungen austauschte und um die Fortschritte ihrer Kinder wetteiferte. Denn nichts verbindet so sehr wie kleine Kinder. Dann würden Jahre folgen, in denen sie ihren Sohn, sie war sicher, dass es ein Junge wird, auf seinem Weg ins Erwachsenwerden begleiten würde. Himmlische Aussichten!
Der Lehrer teilte ihr Glück und ihren Optimismus, fasziniert von der Vorstellung, dass da ein neues Leben entstand, sein Kind, und dass sie dann endlich eine kleine zufriedene Familie waren. Vor allem aber freute er sich, dass seine Frau auch mal wieder lachte und aktiv wurde. Sie gab sogleich bei dem Schreiner im Ort eine Wiege aus bestem Kirschholz in Auftrag, besorgte schon mal eine Rassel, einen kleinen Stoffbären mit kariertem Halstuch, Windeln, Puder und was man sonst noch alles zur Pflege eines Neugeborenen gebrauchen konnte. Hilarius ließ sie gewähren.
Bei all der Freude meldete sich im Verlaufe der Schwangerschaft aber auch sein Verstand zu Wort und ermahnte das törichte Herz, nicht übermütig zu werden. Das Leben hatte ihm genügend Grund gegeben, vorsichtig zu sein und hatte das Füllhorn der Güte nicht gerade überreichlich über ihm entleert. Klar, er hatte großes Glück mit seiner Frau gehabt, bei ihr und mit ihr Heimat gefunden. Aber ansonsten war sein Leben doch eher entbehrungsreich gewesen und holprig verlaufen. Die verhärmte Mutter, die nach Hilarius noch sieben weitere Kinder gebar, von denen drei auch gleich wieder starben. Der Vater, der in den »großen Krieg« ziehen musste, als Hilarius gerade mal dreizehn war, und auf seinen Heimaturlauben dafür sorgte, dass der Nachwuchs gesichert war, und den Kindern gegenüber zur Härte, teils brutaler Härte, neigte. Vielleicht, weil der Krieg ihn zu einem anderen Menschen gemacht hatte, den Gefühligkeit nur in Lebensgefahr gebracht hätte und der sich Mitgefühl verbot, um nicht enttäuscht zu werden. Vielleicht hatte er aber auch nur die Kinder frühzeitig auf die Härten des Lebens vorbereiten und an die Schmerzen des Lebens gewöhnen wollen.
Hilarius’ Vater war eigentlich immer ein intelligenter und freundlicher Mann gewesen. Niemand hätte ihn einen bösen Menschen genannt, aber der Krieg verändert die Menschen und lässt einem oft keine Wahl. Will man nicht an ihm zerbrechen, muss man sich ein dickes Fell zulegen. Er war ein pflichtbewusster Mann, für ihn war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, ihm übertragene Aufgaben zu erfüllen, ohne sie zu hinterfragen, was ihm manchmal viel abverlangte, aber die da oben würden sich schon etwas dabei gedacht haben. Wegen dieses unbedingten Gehorsams hatte man ihn auch mit der Überwachung und Kontrolle von Disziplin und Loyalität beauftragen können, ein hartes, aber notwendiges Geschäft.
Und er bekam einiges zu sehen. Der Anblick von Hinrichtungen, unzähligen Varianten an Vergewaltigungen, Plünderungen, Misshandlungen, Leichenfledderei raubten ihm anfangs jeden Schlaf, doch irgendwann war er zu müde und wurde stumpf. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden konnte er den Anblick der gequälten Menschen aber nie genießen, und er versuchte, sich nicht an den grausamen Spielen zu beteiligen. Er musste zum Beispiel in Frankreich mit ansehen, wie einem Schuster, der nicht verraten wollte, wo seine Tochter sich versteckt hielt, sehr zur Freude der Soldaten, mit seinem Schusterhammer die Hoden zerschlagen wurden. Bedauern taten sie nur, dass der Schuster die Besinnung verlor und nicht zusehen konnte, wie seine Tochter geschändet wurde.
So viel Glück hatte der Mann einer Schneiderin nicht. Er hatte versucht, seiner Frau beizuspringen, als man sich an ihr verging, woraufhin die Soldaten, unter den Blicken seines wie verrückt schreienden Weibes, mit der Schneiderschere an ihm herum­schnitten, bis er flehentlich darum bat, endlich sterben zu dürfen, einen Gefallen, den man ihm aber erst nach einer Stunde tat.
Viele der Bilder, die er um des Überlebens willen an der Front in einem hintersten Winkel der Seele abgelegt hatte, verschafften sich während der Heimaturlaube wieder Raum. Er merkte, wie mit jedem Schritt, dem er seiner Heimat näherkam, die Gedanken und Gefühle schwerer auf seinen Schultern lasteten und, wenn er dann endlich zu Hause war, fast erdrückten, sodass er sich, endlich angekommen, wünschte, an der Front geblieben zu sein. Das Leben bei der Familie war schwerer zu ertragen als die Grausamkeiten der Schlachtfelder. Irgendwann konnte er nicht mehr erkennen, was richtig war und falsch, gut oder böse. Klar, er wollte leben, doch er wollte auch nicht leben.
Manchmal, wenn Hilarius von seinem Vater mit dem Ledergürtel verprügelt wurde, wenn er Glück hatte, mit der Seite ohne Eisenschnalle, und wenn es ihm gelang, aus Trotz jedes Jammern und alle Tränen zu unterdrücken, glaubte er in den Augen des Vaters ein Glitzern zu sehen. Als sei dieser froh darüber, dass seine Abhärtungsmethoden endlich fruchteten. Als die Mutter ihren Mann einmal bat, doch etwas gnädiger zu sein, meinte dieser: »Bei Mädchen kommt es ja nicht so drauf an, aber die Burschen müssen lernen, sich durchzusetzen. Da braucht es eine harte Hand!«
Nachdem er die Volksschule mit sehr guten Noten beendet hatte, ging er gelegentlich dem Metzger im Ort bei Hausschlachtungen zur Hand und verdiente so etwas Geld, das er seiner Mutter geben konnte. Er fand die Arbeit allerdings eklig und hoffte, dass ihm der Metzger nicht irgendwann eine Lehrstelle anbieten würde. Da unterstützte er schon lieber seine Mutter, die vor lauter Arbeit kaum eine freie Minute hatte. Er war ja nun vorübergehend der Mann im Haus.
Anfangs hatte Hilarius sich auf die Heimaturlaube seines Vaters gefreut, gleichzeitig fürchtete er sie. Irgendwann sah er den Ankünften seines Vaters nur noch mit wachsender Angst entgegen und schämte sich für seinen Wunsch, dass dieser nicht mehr heimkomme.
Einmal, nachdem er, mittlerweile schon sechzehn und genauso groß wie sein Vater, besonders heftig verprügelt worden war, lief er hinters Haus in den Garten und biss sich dort, im Schutz des alten Apfelbaumes, fest in den Daumen. Erst als das Blut aus dem Nagelbett quoll, konnte er über diesen Schmerz schreien und fluchen. Dann betete er zum lieben Gott, dass dieser den Vater doch bitte sterben lassen soll. Und der liebe Gott erfüllte ihm diesen Wunsch. Zu seinem nächsten Heimaturlaub war der Vater nicht mehr erschienen, weil er vorher im Schützengraben gefallen war. Als der Brief kam, war Hilarius erleichtert und erschrocken zugleich. Hatte er mit seinen Gebeten den Vater in den Tod geschickt?
Diese Erlebnisse mit dem traumatisierten Vater und vor allem die prompte Erfüllung seines Wunsches nach dessen Tod machten Hilarius immer noch zu schaffen. Er tat sich schwer damit, andere an sich heranzulassen, erstickte Gefühlsregungen schon im Keim und achtete darauf, nicht zu hohe Erwartungen an das Leben zu stellen, denn auf gute Zeiten folgen immer schlechte und für jedes Wohlbefinden erhält man irgendwann die traurige Rechnung.
Weil die Mutter nun allein mit den Kindern war, kamen der Lehrer und der Pfarrer überein, man müsse sie unterstützen und etwas für die Kinder tun. Da Hilarius ein pfiffiger, wenn auch trauriger Junge war, ermöglichten sie ihm den Aufenthalt in einer Klosterschule, wo er das Abitur machen und dann entscheiden könne, ob er lieber Kinder unterrichten oder Christenseelen auf dem rechten Weg begleiten wolle. Er entschied sich für die Kinder. Wie sollte auch jemand anderen Menschen Moral predigen, der seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte? Wissen zu vermitteln und auf die strikte Einhaltung von Regeln zu achten, das lag ihm. Diese Aufgabe begeisterte ihn und darin ging er auf.
Dass seine Frau überzeugt schien, einen Jungen zu bekommen, freute Hilarius, wenngleich ihm auch ein Mädchen recht, vielleicht sogar lieber gewesen wäre. Vielleicht hatte er ja damals schon geahnt, dass es mit diesem Jungen noch die ein oder andere Schwierigkeit geben würde.
Während der Schwangerschaft hatte er sich die Frage gestellt, wie er es denn mit der Erziehung der eigenen Kinder halten werde. Sollte er liebevoll sein oder streng, konsequent oder nachsichtig, herzlich oder sachlich? Da er der Überzeugung war, dass beide Elternteile ihre Gaben und Fähigkeiten in die Erziehung einbringen sollten, und seine Frau von eher herzlichem Naturell war und ganz sicher nicht mit Liebe und Zärtlichkeit knausern würde, beschloss er, die Rückseite der Medaille ihres Erziehungskonzepts zu sein. Keinesfalls in der unberechenbaren Art seines Vaters, sondern verlässlich, präsent, leitend und Richtung weisend, aber konsequent. Hart, aber gerecht.
Als er nun in der Küche auf und ab gehend das Geschrei eines Neugeborenen hörte und die Hebamme ihm durch den Türspalt zu einem kräftigen Jungen gratulierte, übermannte ihn eine Welle der Erleichterung. Gefühle drängten wie ein sich auflösender Kloß vom Magen nach oben, schoben jede Abwehr beiseite und verschafften sich Raum. Hilarius konnte nichts dagegen tun. Er sank schluchzend am Küchentisch in sich zusammen. Wäre noch jemand anderes in der Küche gewesen, hätte der ihn leise flüstern hören: »Papa, ich habe einen Sohn!«

 

In Höhenthal freute sich das ganze Dorf, dass die Frau des Lehrers einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte und dass sie, trotz aller Bedenken, die Geburt doch ganz passabel überstanden hatte. »Das ist ja ein sehr zierliches Frauchen, aber zäh«, meinten die Frauen und waren sicher, dass letztlich ihre Bittgebete in dem kleinen Heiligenhäuschen und die Kerzen, die sie dort aufgestellt hatten, den Ausschlag für den guten Ausgang gegeben hatten. »Da musste der arme Mann ja einiges mitmachen«, sagten die Männer und waren froh, dass ihnen das Kinderkriegen erspart blieb.
Eine Zeit lang war Anna-Luise noch sehr schwach und an der Tauffeier ihres Kleinen konnte sie drei Tage nach der Geburt natürlich noch nicht teilnehmen, aber Freude und Dankbarkeit überwogen, wenngleich die Hebamme ihr und ihrem Mann eröffnet hatte, dass eine weitere Schwangerschaft unkalkulierbare Risiken berge und deshalb besser zu vermeiden sei. Anna-Luise hatte sich immer einen Stall voller Kinder gewünscht, deshalb traf sie die Empfehlung der alten Hebamme hart. Ihr Mann versuchte sie zu beruhigen und meinte, die Alte wisse ja auch nicht alles und sei schließlich keine Ärztin. »Anna-Luise, das wird doch alles nicht so heiß gegessen wie gekocht.« Und dann fügte er noch hinzu: »Der Herr lenkt, der Herr schenkt.« Insgeheim war er zwar nicht so zuversichtlich, wie er sich nach außen gab, aber auf keinen Fall wollte er seiner Frau zumuten, noch einmal eine solch strapaziöse Geburt zu durchleiden. Und Anna-Luise war vorerst einfach nur froh mit ihrem Neugeborenen, das jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit brauchte. Sie war sicher, die Gottesmutter würde ihr, wenn es soweit war, den richtigen Weg zeigen. Die hatte noch immer gewusst, was zu tun und was zu lassen ist. Und so begann die junge Mutter, sich nun ganz auf ihre neue Aufgabe zu konzentrieren und dafür zu sorgen, dass es dem Kleinen an nichts fehlte.
Bei der Suche nach einem Namen für das Kind waren sich die Eltern sehr schnell einig geworden. Einer der wenigen Menschen, die Hilarius aus seiner Kindheit in positiver Erinnerung hatte, war sein Opa Peregrin, der Vater seiner Mutter. Der hatte immer ein offenes Ohr für ihn gehabt, war mit ihm in die Natur gegangen und hatte spannend zu erzählen gewusst, hatte ihm Märchen vorgelesen, aber auch Schlehenbüchsen und Nistkästen mit ihm gebaut. Einmal hatten sie an dem kleinen Bach unter dem Dorf ein Wasserrad gebaut, das von allen, die dort vorbeikamen, bewundert wurde. Und Opa sagte ihnen, dass Hilarius das geschaffen und er selbst nur mitgeholfen habe. In Erinnerung an diesen guten Menschen würde das Kind Peregrin heißen. Ein etwas ungewöhnlicher Name, aber halt auch ein besonderer.
Während der Taufe, das halbe Dorf war in die kleine Dorfkirche gekommen, saß Anna-Luise zu Hause in der guten Stube. Ihr Mann hatte sie in den bequemen Ohrensessel gesetzt, von wo aus sie einen Blick über die weiten Hunsrückhöhen hatte. Sie betete einen Rosenkranz und dachte an all die schönen Dinge, die sie nun würde erleben dürfen. Vor sich sah sie dankbar die Bilder eines kleinen, trauten Familienglücks. Als sie einmal glaubte, einen Schatten über diesen Bildern wahrgenommen zu haben, wischte sie diesen schnell beiseite. »Das Leben ist schön!«, sagte sie sich, aber der Glanz in ihren Augen war etwas weniger fröhlich geworden.
In einem kleinen Dorf im Hunsrück aufzuwachsen war schön, angenehmer als in der Stadt. Die Landschaft war herrlich, die Luft gesund. Wanderer und immer öfter auch Urlauber suchten hier Ruhe und Erholung. Die Frau des Schreiners stellte sogar zwei Zimmer für Erholungssuchende bereit, die fast immer ausgebucht waren.
Anna-Luise fühlte sich hier im Dorf bald seltsam behütet und sicher, beschützt in einer überschaubaren Welt, in der nicht überall Gefahren lauern, jedenfalls noch nicht. Hier kannte jeder jeden. Freude und Leid wurden geteilt. Die Menschen redeten viel miteinander. Manche meinten sogar, es würde zu viel geredet. Man wusste alles voneinander. Wo Nachwuchs erwartet wurde, aber auch, um welchen Hof sich schon der Tod herumtrieb. Man kannte die Malaisen der anderen und beschrieb ausführlich die eigenen. Man beobachtete, wo sich neue Zweisamkeit anbahnte und wo Ehen zu kriseln begannen, wer gute Geschäfte gemacht und wer Geldsorgen hatte. Man wusste, wer am Samstag im Dorfkrug die Schlägerei angezettelt und wer am Sonntag beim Hochamt gefehlt hatte, wer Besuch vom Nachbardorf bekam und was diesem zum Mittagessen vorgesetzt wurde. Alles wurde in breitem Hunsrücker Dialekt geteilt und kommentiert. Kamen Fremde ins Dorf, waren die erstaunt über das ausgeklügelte Netz an Informationen und fragten, wie man unter einem solchen Mangel an Privatheit überhaupt leben könne. »Ach, was!«, sagten die Hunsrücker. »Hier ist es einfach megalisch schön!«
Mit der Geburt Peregrins, im Dorf nannten ihn der Einfachheit halber alle nur Per oder »Et Perchje«, wurde Anna-Luise Teil dieses pulsierenden Miteinanders. Na ja, sie war als Frau des Lehrers vielleicht etwas weniger gleich als die anderen und sprach halt anders. Hochdeutsch. Doch sie wurde von Tag zu Tag vertrauter mit dem Leben in Höhenthal. Ihr Peregrin war für sie, wie sie es erhofft hatte, die Eintrittskarte in die Dorfgemeinschaft geworden.
Und der gedieh prächtig. Wenn sie, anfangs mit Kinderwagen, später mit dem Kind an der Hand, durchs Dorf ging, blieben die Leute stehen, begrüßten sie freundlich und interessiert, fragten nach dem Befinden, berichteten über die eigene Befindlichkeit und sparten auch nicht mit Lob darüber, wie propper das ›Perchjen‹ wuchs und gedieh. »Ein schönes Kind!«, sagten die Frauen. »Ein kräftiger Bursche!«, meinten die Männer. Als Anna-Luise gefragt wurde, ob sie nicht im Kirchenchor mitsingen wolle, was sie gerne tat, denn sie hatte eine sehr schöne Alt-Stimme, und wenig später sogar gemeinsam mit ihrem Mann zur ›Silbernen Hochzeit‹ vom Schmied und seiner Frau eingeladen wurde, da war ihr klar, sie hatte es geschafft. Bei dem Ständchen vor dem Jubelpaar kam das »Oh, wie schön ist Deine Welt« tief aus ihrem Herzen und sie wünschte sich, dass die Welt stehen bleiben könne. Was diese natürlich nicht tat. Denn die Welt dreht sich immer weiter. Nichts bleibt, wie es ist.
Und der kleine Peregrin? Er war schnell zum Mittelpunkt der Familie geworden. Um ihn drehte sich alles. Hatte er Hunger, genügte ein kleiner Schrei und schon durfte er wohlig und zufrieden an der Brust seiner Mutter saugen. Er musste nie über volle Windeln lamentieren; zu oft roch Anna-Luise an ihm, denn er sollte keinesfalls wund werden und Schmerzen ertragen müssen. Stets lag für ihn eine Windel bereit, deren Zipfel mit etwas Honig betupft war. Seine Mutter genoss es, wenn er darauf kaute und lustvoll stöhnte. Wenn ihm mitten in der Nacht nach Gesellschaft war, und das tat es immer öfter, krähte er in seiner Wiege und fand sich nur Sekunden später schon im Elternbett wieder. War ihm danach, schlief er dort gleich wieder ein, wenn nicht, verlangte er nach Unterhaltung und es war um die Nachtruhe der Eltern geschehen.
Als Anna-Luise bemerkte, dass das Kind umso schwerer zu beruhigen war, je später sie es ins Bett zu sich nahm, ging sie dazu über, ihn gar nicht mehr in die Wiege, sondern direkt ins Bett zu legen. »Ich frage mich, warum wir die teure Wiege haben anfertigen lassen«, sagte Hilarius und seine Stimme klang vorwurfsvoll. Irgendwann saß er abends alleine in der Stube, denn seine Frau war dazu übergangen, mit dem Kind gemeinsam schlafen zu gehen, damit sie es später nicht mehr wecken musste. »Du verwöhnst ihn, das kann nicht gutgehen«, mahnte er. Doch dann schaute sie ihn traurig an und meinte: »Er ist doch noch so klein und zerbrechlich. Lass ihn erst mal das Laufen und Reden lernen, dann wird sich schon alles fügen.« Hilarius war anderer Meinung, aber er wollte seine Frau nicht kränken. Zu froh war er, dass die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf verschwunden waren und sie manchmal sogar singend durchs Haus lief und ihn so an ihrer Freude über Peregrin teilhaben ließ. Und doch, er war auch besorgt. Es gab wohl kein Kind im gesamten Hunsrück, das so verzärtelt und dem jeder Wille getan wurde. Aber, wie gesagt, er wollte seine Frau nicht tadeln und entschied sich, die Kindererziehung fürs Erste noch in ihren Händen zu lassen. Später würde er sich einmischen müssen, denn als Pädagoge war ihm klar, dass Kinder klare Strukturen, wenn nicht gar eine harte Hand brauchen, um später im Leben zurechtzukommen.
Natürlich liebte er Peregrin sehr und hätte alles für ihn getan, aber er merkte doch, wie ihn der Kleine mit seinen fröhlich, aber bestimmt hinausgekrähten Befehlen, den Zuneigung einfordernden Blicken und seiner Raum fordernden Präsenz mehr und mehr irritierte. Es brachte ihn innerlich auf, wenn er sah, wie Mutter und Kind zunehmend eins wurden. Das mochte auch damit zu tun haben, dass er seit Monaten jede Zärtlichkeit im Ehebett vermisste. Wie sollte das auch gehen, der Kleine lag ja ständig zwischen ihnen und war, wenn sie es doch einmal probierten, sehr hellhörig und schon aufgewacht, bevor er seine Frau auch nur geküsst hatte. »Er ist ja so sensibel«, meinte diese schmunzelnd. »Und hat mit seiner Sensibilität unsere ganze Familie im Griff«, ergänzte Hilarius, sprach aber nicht mehr weiter, als er sah, dass seiner Frau Tränen in die Augen traten. ›Wer weiß, wofür es gut ist‹, dachte er. Schließlich hatte die alte Hebamme ja auch dringend von weiteren Schwangerschaften abgeraten. Doch es fiel ihm von Nacht zu Nacht schwerer.
Kurz spielte er sogar mit dem Gedanken, in die Stadt zu fahren. Er wusste, wo dort Frauen standen, bei denen man Liebe, genauer gesagt Lust, kaufen konnte. Doch erstens war das Gehalt eines Dorfschullehrers nicht groß und zweitens hätte er sich geniert und gar nicht gewusst, wie er die Damen hätte ansprechen sollen.
Die Schneiderin des Dorfes sang auch im Kirchenchor, den Hilarius mittlerweile dirigierte. Sie war Witwe und warf Hilarius bei jeder Gelegenheit vielsagende Blicke zu. Seine Frau zu betrügen, kam für ihn allerdings nicht infrage. Einen solchen Schritt hätte er sich nie verziehen. Als er sich bei dem Gedanken ertappte, dass der Kleine seine Rolle, also die des Vaters, in der Familie übernehmen würde, war ihm klar, dass sich etwas ändern musste. Er wusste nur nicht, was. Meistens findet das Leben selbst einen, wenn auch nicht immer bequemen Weg.

 

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