Leseprobe »Die Kraft der Muschel« von Arwed Werner
Die Idee
Es war im Sommer 2006, als mich Bernd, ein Freund fragte, ob ich Lust hätte, dass darauffolgende Jahr mit ihm nach Santiago de Compostela zu radeln. Ohne zu überlegen willigte ich sofort ein, obwohl mir zu diesem Zeitpunkt unbekannt war, wo Santiago lag, wie weit es bis dahin war und was es so anziehend macht. Meine Euphorie ging einzig und alleine davon aus, wieder einmal etwas Besonderes, für mich Einzigartiges zu unternehmen. Nachdem ich 1997 mit meinem damals 14 Jahre alten Sohn Stefan eine Radtour von Passau nach Wien unternommen hatte, wollte ich irgendwann mit dem Fahrrad ein neues Abenteuer erleben. Ich hatte weder einen Mitreisenden noch eine Idee für ein Ziel. So kam mir das Angebot von Bernd gelegen. Dass diese Tour allerdings nicht nur lächerliche 350 Kilometer wie damals von Passau nach Wien, sondern rund 3000 Kilometer betrug, davon schwante mir nichts. Mehrere persönliche Umstände verhinderten mich eingehender mit der Reise zu befassen und so geriet diese Idee wieder in Vergessenheit. Erst im Herbst fragte Bernd nach, ob ich zu meinem Wort stünde mit ihm mitzuradeln. Jetzt fiel es mir wieder ein und ich wollte genau wissen, was es mit dieser Reise auf sich hatte. Nachdem Bernd mich ausgiebig über den Jakobsweg informiert hatte, kam ich ins Grübeln. Ehrlich gesagt, meine Skepsis wuchs. Eine Tour mit einer so riesigen Entfernung und überhaupt, eine Pilgerfahrt von mir, einem Protestanten, der partout nichts mit der Kirche am Hut hatte. Mir war mulmig bei dem Gedanken, Bernd eine Antwort zu geben. Ich konnte zu diesem Zeitpunkt weder »ja« noch »nein« sagen. So erbat ich eine weitere Bedenkzeit. Die vielleicht gewünschte Hoffnung, meine Denkfrist würde dazu führen, dass Bernd erst gar nicht mehr fragen würde und ich somit keine Entscheidung treffen musste, bewahrheitete sich nicht. Bald darauf rief er aufs Neue an und ich sagte spontan zu. Jetzt war es raus, es gab kein Zurück mehr. Es hieß, wer »A« gesagt hat, muss auch »B« sagen. Damit ich mich endlich auf die Reise nach Santiago de Compostela einstimmen konnte, überließ er mir zum Lesen das Buch »Ich bin dann mal weg« von Hape Kerkeling. Dieser war den Pilgerweg durch Spanien zu Fuß gegangen und schilderte darin amüsant seine Erlebnisse. Je mehr ich mich in dieses Buch vertiefte, umso reizvoller wurde der Gedanke, bald per Rad ähnliche Erfahrungen zu durchleben. Täglich wuchs meine Begeisterung. Jawohl, ich würde den Weg fahren und konnte es kaum mehr erwarten, dass es losging. Zugegeben, diese Euphorie hatte auch einen Hintergedanken. Ich filmte seit fast 40 Jahren und hatte mehrere Auftragsfilme erstellt, die mir immer ein kleines Sümmchen für mein Hobby einbrachten. Was mir fehlte, waren größere Aufträge, die etwas mehr Geld einbringen könnten. Sollte dies eine Chance sein? Einen Film, eine Reportage dieser Fahrt zu produzieren? Meine Recherchen hatten ergeben, dass es so etwas zu diesem Zeitpunkt nicht gab. Ein ungutes Gefühl bereitete mir der Gedanke, eine Pilgerfahrt dazu zu missbrauchen, auch Geld zu verdienen. Konnte dies im Sinne des Pilgerns sein? Wenn ich es nicht machte, käme sicherlich ein anderer auf diese Idee.
Falls der Film aber ein Erfolg werden würde und viele Menschen ihn sehen, könnte dadurch der Pilgergedanke noch weiter verbreitet werden. Somit trüge ich zu einem Anteil dieser wieder aufkommenden Strömung bei. Gewiss doch ein edler Gedanke!
Die Finanzierung
Dass so eine Reise eine Menge Geld kostet, ist klar. Und je länger sie dauert, umso teurer wird sie. Wenn man bei einem derartigen Projekt einen Film drehen möchte, dann braucht man viel Zeit. Diese hatte ich genügend, doch die dafür nötigen finanziellen Mittel waren bescheiden. Wie könnte die Lösung aussehen? Nach längerem Überlegen kam mir eine Idee: Wenn ich einen Film professionell produziere und diesen verkaufe, dann müsste es doch möglich sein, hierfür Sponsoren zu finden, die mir die Reise oder wenigstens einen Teil davon finanzieren würden. So suchte ich nach Unternehmen, die, wie ich glaubte, für dieses Projekt geeignet sein könnten. Dummerweise fand alles kurz vor Weihnachten bis hin zu Heilig-Drei-König statt. Der tägliche Blick in den Briefkasten ergab außer zwei Absagen nichts. So konnte ich nur abwarten und blieb weiter im Ungewissen. Die Gedanken fuhren Achterbahn. Was sollte ich tun, wenn sich absolut kein Sponsor findet? Würde dann mein gesamtes Vorhaben platzen? Würden die Reisevorbereitungen stecken bleiben? Nach langen Wochen des Wartens war mir klar geworden: Die Fahrt musste anders finanziert werden.
Nach langen Überlegungen kam ich zu dem Entschluss, mich von meinem Motorrad, einer 750er Yamaha Chopper, zu trennen. Sie stand die meiste Zeit unbenutzt in der Garage und so fiel es mir nicht allzuschwer, sie zu veräußern. Mit dem Erlös des Verkaufs würde es mir möglich sein, die Kosten für die Reise, welche ich auf etwa 2500 Euro veranschlagt hatte, aufzubringen.
Dem Leser mag diese Summe gering erscheinen, aber in meiner damaligen Lebenssituation waren meine finanziellen Mittel auf ein Minimum geschrumpft.
Die Planung
Die gesamte Tour vom Start bis hin zum Ziel wurde ausgearbeitet. Das war zwar eine Menge Arbeit, machte aber ungeheuer viel Spaß. Zuerst hatte ich einen spanischen Reiseführer sowie Straßen- und Wanderkarten besorgt. Mit der Zeit hatte ich viele brauchbare Informationen gesammelt. Sollte ich etwa diese beachtliche Anzahl von Unterlagen mit auf die Reise nehmen? Nein, das wäre undenkbar, schon vom Gewicht und Platzbedarf wäre das nicht möglich. Wieder stellte sich die Frage, was tun. Die rettende Idee: Mein Computer. Folglich suchte ich mir die am wichtigsten erscheinenden Informationen zusammen, scannte das ein oder andere Bild und erstellte mir meinen eigenen kleinen Reiseführer, der alles enthielt was für mich und die Tour von Bedeutung war: Einreisebestimmungen, Sitten und Gebräuche, Feste und Veranstaltungen, Feiertage, Öffnungszeiten von Geschäften, Adresse vom deutschen Konsulat sowie andere wichtige Telefonnummern. Die gesamte Route mit ihren Straßen- und Wegbeschreibungen, den auf der Strecke anzutreffenden Sehenswürdigkeiten, in Frage kommenden Campingplätzen sowie weiteren Möglichkeiten der Übernachtungen, alle diese Informationen druckte ich auf DIN-A5-Papier und erstellte mir ein handliches kleines Heftchen, das sehr gut in meine Lenkertasche hineinpasste. Von den Straßenkarten schnitt ich nur die benötigten Teilbereiche aus. Auch sie kamen als DIN-A5 laminierte Folien in die Sichtfolientasche auf den Lenker meines Fahrrades. Selbst schwersten Regengüssen würden sie so standhalten. Eine geniale Idee. Da war ich stolz darauf.
Über die Rückreise nachzudenken viel mir nicht leicht. Ich konnte mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, mit dem Flugzeug zurückfliegen zu müssen. Ich hatte Bedenken, dass alles kompliziert werden würde mit dem Fahrrad und dem vielen Gepäck. Wie würde ich wieder nach Hause kommen? Könnte es auf die gleiche Art und Weise sein? Dabei würde ich dann die Atlantikküste von Spanien kennenlernen, denn dort sollte in diesem Fall die Radrückreise entlangführen. Dabei könnte ein zweiter Film vom Jakobsweg auf der am Atlantik gelegenen Küstenstraße entstehen. Na ja, »großartige« Idee, vor allem wenn man bedenkt, dass zu den errechneten etwa 3000 gefahren Kilometern bis nach Santiago mindestens nochmal soviel für die Rückfahrt dazu kommen würden. Und wieder kamen die Zweifel auf: Ist das zu schaffen? Ich hatte die Reise nicht einmal begonnen, wie konnte ich da wissen, wieviel Kraft und Wille mir für die Rückfahrt dann überhaupt übrig blieben, wenn ich das ersehnte Ziel erreicht haben würde? Ich würde abwarten müssen bis dorthin. Alles andere ergäbe sich schon.
Nachdem die gesamte Hinreise fertig geplant war, ging es an weitere Dinge, die für so eine Reise notwendig waren. Ein Rad hatte ich ja. Es war zwar ein Mountainbike, hatte aber alles dran, was vom Gesetz für den öffentlichen Straßenverkehr vorgeschrieben war. So fehlten nur die entsprechenden Lowrider für die Packtaschen. Das sind bei Trekkingrädern die Träger, welche unmittelbar rechts und links am Vorderrad befestigt sind und kleinere Taschen angehängt bekommen können. Ich wälzte einige Kataloge, informierte mich im Internet, was es alles so gäbe und vielleicht von Nöten wäre, um die Reise komfortabler zu gestalten. Die Wunschliste wurde immer größer. Irgendwann hatte ich alles festgelegt und das Einkaufen begann. Nach und nach bekam ich die Sachen zusammen und hatte beim Aus- und Anprobieren eine helle Freude daran. Fast zwei Tage machte mir dann das Umrüsten meines Fahrrades mit den neuen Teilen zu schaffen. Ideen und Improvisationsgeschick waren gefragt, als es um den Lowrider ging. Er wollte nicht an die vordere Federgabel des Rades passen. Außerdem benötigte ich über dem Vorderrad zusätzlich einen Gepäckträger, welcher schwer zu bekommen und natürlich nicht maßgeschneidert war. Zudem musste er mit dem Lowrider kombiniert werden. Aber in der sehr gut ausgerüsteten Werkstatt und mit meinem Improvisationstalent löste ich dieses Problem.
Nach stundenlangem »Basteln« stand der alte, neue Drahtesel da und wartete auf die erste Probefahrt. Danach sollte alles anders werden, nur, das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.