»Der Sommer, der alles veränderte« von Ernst Heimes
Rauchopfer
Wir waren wenig freundlich empfangen worden. Noch halbe Kinder waren wir und wurden Stifte genannt. Der neue Lebensabschnitt, von dem schon so oft die Rede gewesen war, begann bei lausigen Temperaturen auf einem verregneten Flugfeld. In Dreierreihen mussten wir uns aufstellen, sollten uns formieren und ausrichten. Ausrichten! Weil die Reihen der Kolonne, die wir bildeten, schnurgerade verlaufen und ebenmäßig aussehen sollten.
Eine Armlänge Abstand zum Vordermann, hieß es. Dreißig Zentimeter zum Nebenmann, mindestens, denn es sei ja wohl keiner schwul hier!
Ein nicht besonders zackig wirkender Hauptfeldwebel der Luftwaffe hatte uns mehrere Männer in grauen Kitteln als unsere künftigen Chefs vorgestellt. Auf ein Zeichen trat einer von diesen vor und brüllte unsere Namen in alphabetischer Reihenfolge. In dieser hatten wir uns aufzustellen: der erste im Alphabet vorne links, der letzte hinten rechts. Mit unseren Nachnamen, und nur mit diesen, würden wir auch die folgenden dreieinhalb Jahre unserer Lehrzeit angesprochen werden. Unsere Vornamen wurden ignoriert wie ein überflüssiges Anhängsel, und wenn es hieß, Kohns, herkommen, dann war das noch die zivilste Form der Anrede. Denn beim Aufrufen der Nachnamen auf dem Flugfeld wurde jedem eine Nummer zugewiesen: Kohns, Nummer neun!
Rief künftig einer der Graukittel: Nummer neun, wurde von mir erwartet, dass ich mich meldete.
Jetzt war gebrüllt worden: Ohne Tritt, Marsch! Einrücken in die Werft!
Ohne Tritt, was hatte das zu bedeuten? Ich hatte keine Ahnung von militärischer Sprache gehabt, um die es sich bei der Schreierei offenbar handelte. Umso mehr verunsicherten mich einige meiner Lehrlingskollegen, die, kaum dass der Befehl an unsere Ohren gedrungen war, den Kopf mit einem unnatürlichen Ruck in den Nacken warfen, das Rückgrat durchdrückten und sehr ernste, wichtige Gesichter aufsetzten. Ein bedeutender Moment schien gekommen zu sein, und ich hatte das dumme Gefühl, etwas nicht begriffen zu haben.
Unsere Kolonne setzte sich in Bewegung. Vor uns die weit aufgeschobenen Tore der Flugzeugwerft. In dem dämmrigen Innenraum standen, von draußen nur schemenhaft zu erkennen, sechs Jagdflugzeuge vom Typ F-104. Starfighter wurden diese Maschinen genannt und waren bekannt wegen ihrer massenhaften Abstürze. US-Piloten hatten dem Flieger den Namen der schöne Tod gegeben. Aber davon wussten wir damals nichts. Mit ihren kurzen Stummelflügeln, kaum Tragflächen zu nennen, glich eine F-104 mehr einer Rakete als einem Flugzeug, und wenn sie bei schönem Wetter mit ohrenbetäubendem Lärm von der Startbahn abhob und in der Sonne blitzte, waren wir fasziniert.
Bereits nach wenigen Schritten, die einige meiner Kollegen zu meiner Irritation in einer Art preußischem Stechschritt auszuführen versuchten, war unsere akkurat aufgestellte Lehrlingskolonne auch schon in Auflösung geraten und glich wieder einer ganz gewöhnlichen Gruppe von Heranwachsenden. Ich war erleichtert. Aber dann wurde Sauhaufen gebrüllt, und ich wusste noch nicht, dass dieser Begriff ein fester Bestandteil des künftigen sprachlichen Repertoires der Graukittel sein würde.
Der erste Tag meiner Flugzeugmechanikerlehre beim Jagdbombergeschwader 33 auf dem Fliegerhorst Büchel ist mir noch bestens im Gedächtnis. Wie ich damals mit dem flauen Gefühl der Erwartung im Magen in aller Frühe mein Zuhause im Moselörtchen Kanaul verlassen und den Nahverkehrszug nach Cochem bestiegen hatte, um dort in den Bus zum Fliegerhorst umzusteigen. Wie neugierig ich war in meinem jugendlichen Alter auf alles Unbekannte, alles was mich erwartete. Gespannt auf die technische Ausbildung, die ich auf Drängen meines Vaters einer Malerlehre vorgezogen hatte. Doch erst einmal wurden Stifte aus uns gemacht. Wir wurden gedeckelt, ausgerichtet und in grobe Schranken gewiesen.
Gut drei Jahre nach dieser ersten Ernüchterung stand in wenigen Monaten die Abschlussprüfung bevor. Die Graukittel, die sich als unsere Ausbilder entpuppten, hatten im Laufe der Jahre, je mutiger, erwachsener, je gebildeter und reifer wir Stifte wurden, Einbußen an Autorität und Einfluss hinnehmen müssen. Nach und nach hatten sie ihre dubiosen pseudomilitärischen Übungen und gleichförmigen Gehversuche mit uns Stiften eingestellt. Ihren Hang zum Militärischen hatten sie aber nie aufgegeben. Das Brüllen zum Beispiel und ihr herrisches Benehmen, das auf uns immer weniger Eindruck machte und das wir, seltener werdend, letztlich nur noch belächelten. Schließlich waren sie allesamt Handwerker, gute und weniger gute, betraut mit der Aufgabe, uns zu brauchbaren Flugzeugmechanikern heranzubilden, beheimatet in den Eifeldörfern rund um den Fliegerhorst. Fast keiner von ihnen besaß einen Meisterbrief. Maschinenschlosser, Werkzeugmacher, Dreher, Metaller, Autoschlosser waren sie. Alles Leute, welche die Gunst der Stunde zu nutzen gewusst und sich, als die Lehrwerkstatt in den Sechzigern eröffnet wurde, beim Bund auf eine gesicherte Stellung beworben hatten. Bei festem Einkommen einen ruhigen Lenz schieben bis zur Rente.
Meine Sache war das Militärische nicht, das merkte ich bald. Ich hatte keine Lust Uniform zu tragen, geschweige denn auf Befehl zu marschieren oder Schlimmeres.
Die Fliegerei hingegen begeisterte mich. Das Militärische blendete ich aus, so gut es ging. Und trotz aller soldatischen Fisimatenten, mit denen man uns immer wieder bedrängte, erhielten wir eine fundierte praktische und theoretische Ausbildung.
Nach gut drei Jahren waren wir in der Lage, mechanische Flugzeugteile herzustellen und gegen defekte auszutauschen, Schäden an der Beplankung eines Flugzeuges zu reparieren, Strahltriebwerke zu überprüfen und in Gang zu halten. Ich hatte gelernt, Fahrwerke auszutauschen, Ruder und Klappen einzustellen, Sicherungen vorzunehmen, die ein Lösen der Schrauben durch Vibrationen während des Fluges verhinderten. Ich beherrschte die Prinzipien der Hydraulik, der Mechanik, der Elektronik. Die Gesetze der Aerodynamik faszinierten mich, und ich wusste sie auf die Praxis zu beziehen. Ich kannte mich aus mit den Instrumenten im Cockpit unterschiedlicher Militärflugzeuge, und manchmal durften meine Kollegen und ich nacheinander den Flugsimulator besteigen, das vorgebliche Flugzeug in die Höhe schießen lassen, um es nach einigen Runden am Himmel wieder sicher auf der virtuellen Rollbahn zu landen. Was heute in jedem Kinderzimmer mit Computer und Joystick vorgegaukelt werden kann, war damals eine atemberaubende Erfahrung, die wir immer wieder suchten.
Technische Zusammenhänge verstand ich leicht. Physik lag mir mehr als Chemie. Wir wurden in technischem Englisch unterrichtet, und meine größte Begabung zeigte sich bei der Anfertigung technischer Zeichnungen.
Die Arbeitszeit ging von Montagmorgen bis Freitagmittag. Mittwoch war Berufsschultag. Freitagnachmittag wurde früher als an anderen Tagen Feierabend gemacht, und da nach der Mittagspause so kurz vor dem Wochenende niemand mehr Lust auf Arbeit hatte, weder Ausbilder noch Stifte, wurden die verbleibenden Stunden für einen Vorgang genutzt, der sich Belehrung nannte. Als es nichts mehr zu belehren gab, was sich schnell zeigte, wurde die Zeit mit Zigarettenrauchen verbracht und viel dummes Zeug dabei gequatscht. Lieblingsthemen waren die Mädchen und wie man es anstellen würde, sie am Samstagabend nach der Disco rumzukriegen. Ab und zu trieb ein Graukittel, um das Niveau der letzten Arbeitsstunden vor dem Wochenende nicht komplett in den Keller sinken zu lassen, einen Film auf, den wir uns ansahen. Darin ging es um technische Neuerungen im Flugzeugbau oder um die Erweiterung oder Neugestaltung von Flughäfen. Manchmal waren es reine Werbefilme, welche die großen Unternehmen der Flugzeugindustrie produziert und zur Verfügung gestellt hatten.
Jetzt aber, kurz vor der Abschlussprüfung, waren wir an einen Streifen mit dem Titel Im Einsatz geraten, der Teufel weiß wie. Der Film war anders als alles, was wir bisher zu sehen bekommen hatten. Er war aus der Flugperspektive aufgenommen worden und bot schwindelerregende Ausblicke auf üppige Wälder, auf Höhenzüge und Niederungen, auf fließende und stehende Gewässer, Reisfelder vielleicht.
Im Sinkflug rücken kleine, schlichte Hüttendörfer ins Blickfeld. Menschen sind in den Gassen und auf den Plätzen einer Siedlung zu erkennen. Frauen beginnen plötzlich zu laufen, greifen nach ihren Kindern und zerren sie hinter sich her. Auch Bauern, die eben noch seelenruhig mit ihrem Vieh hantierten, auf Traktoren oder hinter Ackergeräten auf ihren Feldern unweit der Dörfer unterwegs waren, rennen mit einem Mal los, stürzen sich in Gräben oder suchen Schutz hinter vereinzelt stehenden Bäumen, als plötzlich die Maschine, in der die Kamera läuft, in einen Sturzflug übergeht. Das Öffnen der Klappen im Rumpf des Fliegers, das Ausklinken der Kanister ist deutlich zu hören. Ein heftiger Ruck! Dann das Fauchen des plötzlich auftretenden Luftstromes! Kurz danach wird die Maschine hochgezogen, Nase steil in den Himmel. Die Bilder auf der Leinwand überschlagen sich für kurze Zeit. Im Abdrehen richtet sich die Kamera auf eine sich rasend schnell ausbreitende Rauchwolke am Boden, aus der Sekunden später eine Feuerwalze hochschießt. Die Kamera kann das plötzliche, gleißende Licht nicht sofort verarbeiten, und nur allmählich werden die übersteuerten Bilder klarer und schärfer, bringen hervor, was geschehen ist.
Der Abspann des Films klingt wie eine ergänzende Fachkunde für angehende Flugzeugmechaniker. Wir werden von einer Stimme, wie der eines Nachrichtensprechers, darüber informiert, dass die US-Streitkräfte in dem vor Kurzem beendeten Vietnamkrieg 400.000 Tonnen Napalm auf das Land hatten herabregnen lassen, dass die Einsätze meist durch Jagdbomber im Tiefflug gegen Flächenziele erfolgt und erst gegen Ende des Krieges die Napalmkanister zunehmend durch Streubomben mit Splitterwirkung ersetzt worden seien.
An dieser Stelle bricht die Vorführung ab. Irgendein Gedudel, das im Hintergrund des Films lief, stagniert abrupt. Geflimmer auf der Leinwand. Die Spule des Filmvorführgerätes, das in der Mitte des abgedunkelten Raumes auf einem hohen Hocker steht, beschleunigt ratternd ihre Umdrehungen. Das Ende des Filmstreifens wirbelt umher. Jemand knipst das Licht an.
Der Filmvorführer, ein Graukittel, schaltet den Apparat aus. Langsam kommt die Spule mit dem kreisenden Ende des Filmstreifens zur Ruhe. Der Graukittel nimmt die Brille ab, reibt sich die Augen. Er greift in seine Brusttasche nach der Zigarettenpackung. Wir Stifte recken und räkeln uns auf den Stühlen, suchen in den Taschen unserer Overalls nach Tabak oder Kippen.
»Bringen wir dem Herrn noch ein Rauchopfer dar«, versucht der Graukittel zu scherzen, »dann ist Abmarsch ins Wochenende.« Er hebt die Hand. Zwischen Zeige- und Mittelfinger steckt eine Zigarette. Fragend blickt er in die Runde: »Wer in diesem Sauhaufen hat denn mal Feuer für mich?«