»Das Geheimnis des alten Dorfbrunnens«
Ben
Ich wusste, dass es keine gewöhnlichen Sommerferien sein würden, die gerade begonnen hatten. Keine Ferien mit langem Schlafen, Fußballspielen oder auf der Lay im Dorf den Tag verdösen. Die Lay war ein felsiges brach liegendes Grundstück neben der Kirche, wo sich die Jugend unseres Dorfes immer traf. Ich musste mir keine Gedanken darüber machen, die Langeweile eines Eifeldorfes zu bekämpfen, war ich doch für Wichtigeres vorgesehen und brauchte mich um »Müßiggang«, wie Vater das bezeichnete, nicht zu kümmern.
Zwar würde ich mehr Freizeit haben, um mit meinen Freunden zu spielen, aber da unser Geselle Hans ab Montag für zwei Wochen Urlaub fuhr, war mir klar, dass zumindest für diesen Zeitraum Ferienspaß und Freizeit stark eingeschränkt wären. Der Ersatzgeselle für die Backstube war ich.
Es war also klar, dass sich für die nächsten zwei Wochen mein Tagesablauf ändern würde. Danach erst begännen die wirklichen Ferien für mich.
Was ich nicht wusste, war, dass sich mit diesen Sommerferien Ereignisse und Geschehnisse entwickeln würden, deren Weitwirkung ich nie hätte abschätzen können. Geschehnisse, die nicht nur mein Heimatdorf in Aufregung und Bestürzung brachten, sondern auch die Freundschaft mit meinen Freunden auf eine harte Probe stellten. Ja, sie fast zum Zerbrechen brachte.
Geheimnisse und Totgeschwiegenes kamen plötzlich ans Tageslicht, längst Vergessenes tauchte aus der Vergangenheit auf und forderte die Auseinandersetzung und Aufarbeitung.
»Du musst nicht schon um halb vier Uhr in der Backstube sein. Aber spätestens um fünf Uhr, wenn die Teige gemacht sind und aufgearbeitet werden, brauche ich deine Hilfe«, sagte Vater.
Na toll!
»Ach ja Georg, ehe ich es vergesse: morgen bringt Schäfers Jäb einen LKW mit Lava. Den kannst du dann hier auf dem Weg verteilen. Jeden Tag zehn bis fünfzehn Schubkarren, dann bist du in vierzehn Tagen fertig.«
Das war Vaters kurze Beschreibung meiner Tätigkeit für die nächsten zwei Wochen.
Erleichternd aber für mich war – er hob es als besondere Vergünstigung hervor – dass ich montags und mittwochs vom Brotausfahren auf die Dörfer befreit war. Also ein Doppelgewinn. Dafür musste meine Schwester Maria ran.
Unsere Landbäckerei konnte nicht allein vom Ladengeschäft leben, dafür war mein Heimatdorf zu klein. Ein Großteil unserer Kunden wohnte in den umliegenden Ortschaften Cochem, Dohr, Büchel, Gevenich und Weiler. Mit unserem VW-Bus, dem »Brotauto«, wurden sie jede Woche versorgt. Das Verkaufspersonal – wie gut das klingt – waren Maria und ich.
Zur der Zeit, als die Ereignisse unseren Ort überrollten, waren meine jüngeren Brüder Klaus und Robert sieben und sechs Jahre alt. Sie, sowie die zwei Nachkömmlinge Helga und Marcus, im Alter von drei und vier Jahren, traf noch nicht die Mitverantwortung in der elterlichen Bäckerei. Sie gehörten noch nicht zu dem billigen Personal.
Für mich war die Arbeit im häuslichen Betrieb eine Selbstverständlickeit, aber die blöde Lava zu verteilen, empfand ich als Schikane.
Als der LKW am nächsten Tag seine Ladung abgekippt hatte, lag ein riesiger Schuttkegel neben dem Haus.
»Guck mal«, unterbrach Vater meine Gedanken. Ich schaute nicht hin, denn ich war voller Wut auf die Scheißarbeit, die in den nächsten Tagen auf mich zukommen sollte.
»Der Sand ist voller Katzengold.«
Ich wandte mich um. Hatte ich Gold gehört?
Im Sand Gold?
»Hier, diese dünnen glänzenden Plättchen nennt man Katzengold, eigentlich sind sie wertlos, aber es glitzert besonders schön und leuchtet goldgelb, wenn man es ins Licht hält. Es ist eine Schwefelverbindung. Sieht doch aus wie Gold, oder?«
Tatsächlich. Der grobkörnige Lavasand, auch Lavakrotzen genannt, glänzte und glitzerte in dunklen, goldfarbenen Tönen.
Aber das half mir nicht, den Sand wegzukarren.
Vater legte großen Wert auf effektive Maschinen in seinem Betrieb und auf gutes Werkzeug. Zu diesem guten Werkzeug gehörte eine gummibereifte Schubkarre. Er hatte letztes Jahr das schwere Eisenrad aus der Schubkarre ausgebaut und durch ein Hartgummirad ersetzt. Somit ließ sich die Karre besser und leichter schieben. Das betonte er noch einmal mit fachmännischem Blick, als ich die ersten Sandladungen unter seinen Anweisungen auf den zu schotternden Weg kippte.
Trotzdem, es war nicht gerade die beste Ferienarbeit für einen Dreizehnjährigen.
Während ich die nächsten Tage in monotoner Arbeit und natürlich hoch motiviert Schubkarre für Schubkarre belud, kam mir eine Idee, eine geniale Idee, wie ich meinte.
Es war allerdings nicht meine Idee. Ich hatte sie einem gleichaltrigen Leidensgenossen abgeguckt. Und der lebte in einem Buch und hieß Tom.
Damals las ich gerade »Tom Sawyer und Huckleberry Finn« von Mark Twain.
Mein Leidensgenosse Tom war von seiner Oma verdonnert worden, den Gartenzaun zu streichen. Eine triste, langweilige und nervtötende Arbeit. Er verstand es aber geschickt, seinen Freunden diese Arbeit als etwas Besonderes und Ungewöhnliches anzupreisen, so dass diese erpicht darauf waren, auch einmal den Lattenzaun streichen zu dürfen.
Kein Problem für Tom. Er verlangte dafür aber von ihnen ein Entgelt in Form eines Preises. Von dem ersten erbat er sich einen Apfel, von dem anderen Süßigkeiten, von einem dritten ein paar Cents.
Zum Schluss strichen Toms Freunde den Zaun, er schaute nur zu und ließ sich dafür noch bezahlen.
Tolle Idee!
Mein erstes Opfer war mein Freund Günter, Messdiener und Fußballer wie ich. Er war ein Jahr jünger, schlaksig und sein schwarzes wirres Haar wirkte, als wäre es nur selten mit einem Kamm in Berührung gekommen.
Als er das Katzengold sah, wollte er sofort anfangen zu sammeln.
»Stopp! Das geht nur, wenn du mir hilfst, die Lavakrotzen mit der Schubkarre auf dem Weg zu verteilen.«
Ich wunderte mich, dass er sofort ja sagte.
Nach der achten Schubkarre aber zerplatzte meine geniale Idee. Dann nämlich tauchte Mia auf.
Ihr Vater war Schneider, der das ganze Dorf »benähte«. Seine einzige Tochter, zwei Jahre jünger als ich, fühlte sich eher zu Jungs hingezogen als mit gleichaltrigen Mädchen sittsam zusammen zu sein. Stattdessen nervte sie uns jedes Mal, wenn wir auf dem Bolzplatz waren und gab nicht eher auf, bis sie mitspielen durfte. Und das in einem Kleid! In diesem Kleid stand sie jetzt hinter mir.
Als sie mein Angebot hörte, sie dürfe sich ebenfalls Katzengold sammeln, wenn sie sich an der Transportaktion beteiligte, lachte sie mich aus.
»Auf den Weg zum Hinterwald haben sie gestern drei LKWs mit Lava abgekippt. Der Weg soll neu geschottert werden. Nun rate mal, was man dort in den Lavakrotzen finden kann?«
Idee zerplatzt!
Günter war noch nicht einmal sauer. Das war das Wichtigste.
Die erste Weisheit dieser Ferien lautete, dass man durch Lesen nicht unbedingt klug und weise werden kann.
Um es vorweg zu sagen, ich brauchte insgesamt 132 Schubkarren, um die Lava zu verteilen.
Mal zehn, mal zwanzig Karren pro Tag. Das war ganz schön anstrengend.
Zwei Tage nach meinem Versuch, die Arbeit auf meine Freunde zu übertragen, war ich wieder etwas schlauer.
Ich legte einen großen Stein an den Rand des frisch geschotterten Wegs und nahm Anlauf. Mit einem kräftigen Tritt schoss ich ihn entlang der nördlichen Seite unseres Hauses in Richtung der dahinter liegenden Äcker. Gestern hatte ich – eigentlich hätte ich es vorhersehen müssen – eine der kleinen quadratischen Scheiben des Garagenfensters getroffen, weil ich den Stein nicht mit der Fußspitze traf. Diesmal schoss ich den Stein entlang der Giebelseite und nicht auf die Hauswand zu.
Das Ergebnis meiner misslungenen Schießkunst hatte ich Vater sofort gebeichtet und, wie erwartet, eine Standpauke erhalten. Er hatte glücklicherweise auf eine Kostenübernahme verzichtet.
Wie großzügig! Wirklich großzügig!
»Vergessen wir mal die Sache, du hilfst mir ja für vierzehn Tage in der Backstube, wenn Hans Urlaub macht. Und das mit dem Weg hast du gut gemacht.«
Ich wunderte mich, dass ich gelobt wurde.
Heute hatte ich den Stein nicht allzu weit geschossen. Waren es zehn, zwölf oder nur acht Meter?
»So weit kann ich auch schießen.«
Eine unverkennbare Stimme hinter mir war zu vernehmen. Ich musste mich nicht umdrehen. Ich kannte diese Stimme. Es war Mia. Die hatte mir gerade noch gefehlt. Letztens hatte sie mir die geniale Idee mit dem Katzengold versaut und jetzt spuckte sie schon wieder schlaue Sprüche.
Sie stand im späten Nachmittagslicht, das schräg in die Einfahrt zu unserem Haus fiel. Ich sah nur ihre Silhouette umgeben von einem Strahlenkranz. Ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Seltsam, ging es mir durch den Kopf, sie sieht aus wie die Muttergottes am linken Seitenaltar in der Kirche. Die ist auch mit einem Strahlenkranz umgeben, aber nicht zu vergleichen mit so einer Person wie die, die jetzt auf mich zukam.
Mia war zwölf, hatte einen Bubischnitt und trug neuerdings eine Brille.
Man hätte meinen können, sie hätte sie der Hexe aus unserem zerfledderten Märchenbuch geklaut.
»Guck mal!«, sprach die dunkle Silhouette und bückte sich, um einen Stein aufzuheben.
»Mit meinen neuen Schuhen schieße ich mindestens doppelt so weit wie du.«
»Du Angeberin«, entgegnete ich nur und schaute auf ihre neuen Schuhe.
Hohe Schuhe, raues helles Leder, mit glänzendem Fett eingeschmiert. Lederriemen.
»Die sind eigentlich für den Herbst und Winter, aber ich soll sie mal einlaufen, meinte Vater. Das Leder ist noch ›storzig‹.«
Eine passende Beschreibung für sprödes, hartes und ungeschmeidiges Leder. Oma bezeichnete eine widerspenstige Kuh als »storzig«, aber für Leder hatte ich diesen Ausdruck noch nicht gehört. Aus diesen »storzigen« Schuhen ragten zwei spindeldürre Beine heraus. Ein Paar wollene Socken, die über den oberen Rand der Schuhe geschlagen waren, verstärkten noch die Magerkeit der braunen Unterschenkel.
Mia bemerkte anscheinend meinen kritischen Blick und meinte: »Die Socken sind zwar zu warm für den Sommer, aber so bekomme ich keine Abschürfungen an den Beinen. Pass mal auf, wie weit ich mit den Dingern schießen kann.«
Mia schoss.
Klar, ihr Stein flog weiter. Ich fühlte mich in meinem Stolz verletzt. Und so entspann sich für die nächsten zehn Minuten ein regelrechter Wettkampf, bis Herbert, Franz Peter und Günter, die plötzlich hinter uns standen, diese sportliche Disziplin mit dem Vorschlag beendeten, nach Felchelen spielen zu gehen. Steineschießen sei langweilig.
Sie hatten recht.
Auf nach Felchelen.
Franz Peter und Herbert liefen schon den Feldweg hinab in das Wiesental hinter unserem Haus.
Die beiden waren auch Messdiener. Zusammen mit Günter und mir bildeten wir eine Messdienergruppe, die immer als Viererpack in Sonntags- und Festgottesdiensten auftrat.
Chef unserer Gruppe war Franz Peter mit seinen vierzehn Jahren. Er war nicht nur der Älteste und Längste von uns, er hatte sich auch angewöhnt, uns oft belehren zu wollen, was ihm aber nicht immer gelang. Mit seinen strohblonden Haaren war er in jeder Ansammlung von Erwachsenen oder Jugendlichen sofort zu erkennen.
Herbert war heute in seiner kurzen Manchesterhose aufgetaucht, die er, wie letztes Jahr, auch diesen Sommer tagaus, tagein bestimmt tragen würde. Er war zwölf Jahre alt, etwas dicklich und unser Physiker. Diese Auszeichnung hatte er deshalb bekommen, weil er über technisches und physikalisches Wissen verfügte, das uns anderen fremd war. Sein Wissen hatte er aus Büchern, die sein Vater ihm besorgte. Der hatte als Beschäftigter beim Gericht in Cochem Zugang zu der dortigen Stadtbücherei.
»Ich habe auch schon eine Idee, was wir machen können«, schlug Mia vor, als wir an der Eiche, von der aus man einen ersten Blick ins Tal werfen konnte, Halt machten. Sie zog aus der aufgesetzten Tasche ihrer Schürze, die sie über einem gemusterten Kleid trug, ein rotes Tuch. Ein Halstuch, wie es schien. Allein dieses Stück Textil hätte mich stutzig machen müssen, denn was sollte man wohl damit spielen? Mia antwortete mit wichtigtuerischem Gesicht: »Lasst euch überraschen.«
Es war bestimmt wieder ein Spiel, das Vater mit den Worten »Könnt ihr auch normal spielen?« kommentiert hätte, hätte er von unserer Aktion gehört.
Und die hatte es in sich.
In Felchelen – so nennt man das weite Wiesental mit Bach hinter unserem Haus – befanden wir uns in einer anderen Welt.
Hier hausten nicht nur Raubritter mit Knappen und Gesinde, hier standen auch die Wigwams der Irokesen, der Apachen und manchmal die der Komantschen. An den Hängen der Rocky Mountains, sprich am Steilhang von »Schäferchriste Reach« und in den Prärien – eigentlich die weite Talwiese – weideten Mustangs und Bisons und nicht hundsgewöhnliche Rindviecher.
Wir liefen vom Eichenbaum, der oben am Hang den Blick über unser Spielparadies freigab, hinab ins Wiesental. Aber seit Tagen war dies eingeschränkt, denn Schmitze Paul hatte unten, wo sich die Hangwiese dem flachen Tal anglich, einen Tierpferch errichtet. Der war groß. Viel zu groß. Denn mit seinen in den Boden eingerammten Pfosten versperrte er unseren Lauf.
Die eingezäunte Weide hatte etwa die Maße fünfzig mal dreißig Meter und stieß mit ihrer Schmalseite an einen Weg, der am unteren Ende von »Schäferchriste Reach« vorbeiführte. Ein Gattertor, bestehend aus zwei Holzpaletten, die mit Eisenscharnieren an den kräftigen Holzpfosten seitlich befestigt waren, bildete den Zugang zu der Wiese. Ein zwischen die Palettenhölzer eingeschobener Querbalken sowie eine Eisenkette mit Vorhängeschloss sicherten das Gatter.
In der Mitte der Weide stand seit Tagen der Gemeindebulle »der Steer«, von allen Ben genannt.
Er hatte uns sofort gesichtet und war an den Stacheldrahtzaun gekommen, um uns mit seinem bulligen Gesicht und dem Ring in der Nase anzuglotzen.
»Der ist gefährlich«, wusste Mia, »mit zwei Mann mussten sie den hier auf die Weide führen. Den kann man gut ärgern.«
Indem sie das sagte, buhte sie den Stier an und gestikulierte mit den Armen in zwei Metern Entfernung vor dem dreifachen Stacheldrahtzaun, der in Brusthöhe zusätzlich einen Elektrodraht hatte. Der Stier brüllte direkt los und stampfte mit den Füßen.
»Siehst du, wie ein Stier in der Arena.« Mia zeigte aufgeregt auf den schnaubenden Koloss. »Sollen wir nicht Torero spielen?«
Wir schauten uns etwas irritiert an. Herbert lachte: »Du meinst wir sollten den Stier ärgern und reizen und dann vor ihm herlaufen? So wie in Pamplona?«
Was der alles weiß, ging es mir durch den Kopf, bestimmt wieder aus seinen Büchern. Von Pamplona hatte ich gehört und als Herbert dann noch bildhaft die Stierhatz durch die Straßen der spanischen Stadt beschrieb, war die Spielidee geboren.
Wenn ich sage geboren, so ist das eigentlich falsch. Die Spielgeburt war geplant. Geplant von Mia, denn sie wedelte mit dem roten Tuch, das sie uns oben an unserem Haus mit geheimnisvoller Miene gezeigt hatte, vor unseren Augen herum.
»Habe ich rein zufällig dabei«, meinte sie.
Wir schauten sie lachend an. Sie lachte mit.
So wie sie immer lachte, wenn sie sich ertappt fühlte: Augen verdrehen, linken Mundwinkel hochziehen. Dabei bildeten sich kleine Grübchen auf ihren Wangen.
Die Spielidee sah folgendes vor:
Drei von uns stellen sich an die eine Ecke der Längsseite der Weide und ziehen die Aufmerksamkeit des Stiers durch Geschrei und Gestikulieren auf sich, während sich der Torero an die andere Ecke begibt. Dort klettert er unter dem Stacheldrahtzaun auf die Weide und beginnt von dieser Position aus zu rufen, zu springen, mit den Armen zu winken und das rote Tuch zu schwenken.
Ab diesem Moment verhalten sich die anderen ruhig. Irgendwann werde der Stier die andere Person bemerken und auf sie zulaufen, denn das rote Tuch werde ihn reizen.
Jetzt habe der Torero nichts anderes zu tun, als blitzschnell entlang der kurzen, etwa 25 bis 30 Meter langen Stirnseite auf die gegenüberliegende Ecke zu laufen und sich unter dem untersten Stacheldraht außerhalb der Weide zu rollen.
»Um dann am Stacheldraht hängen zu bleiben«, meinte Franz Peter sarkastisch.
»Nein, schau, da passt man wunderbar drunter durch.« Mia demonstrierte dies mit einer gekonnten Rolle in die Weidefläche hinein und wieder zurück hinaus.
Dies war auch das Signal für Ben, denn er kam sofort zu der Stelle am Zaun gerast, wo Mia ihre Rollübung vorgeführt hatte. Schnaufend den Kopf schüttelnd stand er am Zaun.
»Der hat seine Aufgabe schon verstanden«, meinte Herbert, während er den Stier laut anlachte, worauf der mit einem urigen Gebrüll antwortete.
Mir wurde ein bisschen mulmig, als ich den bulligen Körper betrachtete, das infernalische Gebrüll hörte und das Scharren der Hufe registrierte. Ich war froh um den dreifachen Stacheldrahtzaun und den Elektrodraht.
»Ich trau mich nicht, da mache ich nicht mit«, hörte ich Günter neben mir. »Was glaubt ihr, wenn einer ausrutscht, stolpert oder irgendwie hinfällt, dann trampelt der Stier ihn tot.«
»Ich zeig es euch«, war Mia zu hören und schon ging sie zu der linken Ecke der Weide. Ben beobachtete sie schnaufend.
Dann begannen wir mit unserem Ablenkungsmanöver. Wir schrien Ben an, machten Sprünge auf der Stelle und schwenkten die Arme wie vereinbart. Ben kam in Fahrt. Er brüllte, warf erst den Kopf in den Nacken, dann nach vorne und zuckte sofort zurück, denn der Elektrozaun wies ihn in seine Schranken. Er verdrehte die Augen und brüllte noch heftiger. Aus dem Innern der Weide gab Mia uns ein Zeichen.
Wir verstummten. Nur Mias Geschrei war zu hören. Es dauerte einen Augenblick, bis Ben registrierte, dass die mit Händen und Beinen gestikulierende Person am anderen Zaunende ihn provozierte.
Er warf den bulligen Körper zur Seite. Seine Vorderhufe stampften, dann startete er aus dem Stand mit beängstigender Geschwindigkeit in Mias Richtung, die mit dem roten Tuch schwenkte und loslief.
Wir sahen nur das Hinterteil des Stieres, sahen wie Erdklumpen und Grasfetzen aufwirbelten, als er quer über die Wiese stob.
Für einen Moment konnte ich Mia nicht sehen, weil Bens massiger Körper die Sicht versperrte. Jetzt kam sie wieder ins Blickfeld. Seelenruhig rollte sie unter dem Stacheldraht an der gegenüberliegenden Ecke aus der Weide heraus, während Ben erst die Hälfte der Strecke bewältigt hatte.
Schnaufend, mit den Hufen über das Gras schlitternd und laut brüllend stoppte er vor dem Eckpfosten, hinter dem Mia ihm mit dem roten Tuch zuwinkte.
»Der nächste bitte«, rief sie uns zu und kam lachend am Außenzaun zu uns zurück. Ben stob quer über die Weide und folgte ihr mit seinem Gebrüll, das mittlerweile gefährlich tief klang.
»Das war ja fast ein Spaziergang«, begann sie. »Man hat genügend Zeit, um an die andere Ecke zu kommen. Wer ist der nächste?« Dabei schaute sie fragend in die Runde.
»Es bleibt dabei«, sagte Günter, »ich mach da nicht mit.«
Seltsam, niemand machte eine dumme Bemerkung. Offensichtlich wollte keiner als Torero zur Verfügung stehen. Alle schienen Respekt vor dem bulligen Tier und vor Mias Mut zu haben.
Ich schaute an Mia vorbei auf den gegenüberliegenden Steilhang, um meine Verlegenheit zu überspielen. Bens Brüllen war in ein lautes Schnauben und Schniefen übergegangen. Er blähte seine Nüstern auf, ekelhafter, weißlich grüner Schaum hatte sich an den Rändern seines Mauls gebildet. Er scharrte mit den Vorderhufen und schürfte die Erde auf.
»So schnell kann ich nicht laufen«, begann stotternd Herbert, »ich habe mich gestern beim Fußballspiel vertreten. Das ist mir zu gefährlich.«
Was Franz Peter sagte, weiß ich gar nicht mehr. Dem Tonfall seiner Stimme nach, die ich nur schwach vernahm, hatte auch er eine Ausrede.
Ein Blick rundum zeigte mir, dass alle auf den Boden schauten. Wie gesagt, keine Bewerbung als Torero stand an.
Ich wusste, dass ich jetzt etwas sagen musste. Aber mein Mund war trocken und außerdem faszinierte mich Bens Verhalten. Er scharrte noch immer, warf den Kopf in den Nacken, senkte ihn, wie um zu stoßen und brüllte. Nur einmal. Es war so, als warte er auf unsere Antwort.
»Was ist mit dir, Georg? Du bist doch sonst immer der Schnellste von uns.«
Mia schaute mich frech, spöttisch und herausfordernd an.
Diesmal ohne Lachgrübchen, ohne hochgezogenen linken Mundwinkel. Verdammtes Weibsbild!
Ich spürte nur allzu deutlich, wie sie mich abwertend anguckte, dass sie kurz davor war, sich höhnisch abzuwenden, sich mit einer abschlägigen Handbewegung wegzudrehen.
»Bin ich als einziges Mädchen mutig …«
»Nein bist du nicht«, fuhr ich sie barsch an und stieß sie heftig an die Schulter.
»Gib das bescheuerte Tuch her.«
Zu den anderen gewandt fuhr ich erregt fort: »Erst wenn ich ›Los‹ rufe, hört ihr auf, Ben abzulenken. Klar?«
Ich hatte »Ben«, und nicht Stier gesagt, hatte ihn beim Namen genannt wie einen Spielkameraden.
Meine wahren Spielkameraden waren Feiglinge geworden.
Nun stand ich in der linken Ecke an der Schmalseite in der Weide. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Jeder Muskel meines Körpers war gespannt, wie kurz vor dem Start beim Einhundert-Meter-Lauf.
Von wegen, Mia die einzige, die sich traute, den Torero zu spielen. Die aufgeblasene Tunte!
Ich sah meine Freunde oben mit Armen und Beinen zappeln, schreien und Grimassen schneiden.
Ben hatte begonnen zu tänzeln, scharrte nach wie vor mit den Hufen, warf unruhig den Kopf in den Nacken und senkte ihn wieder ab.
Ich hob den Arm und rief »Los«.
Ben brauchte ein, zwei Sekunden, bis er registrierte, dass sich die Reizsituation in die linke Ecke der Weide verlagert hatte. Zu mir.
Er drehte sich mit dem Oberkörper in meine Richtung. Von weitem, es waren etwa geschätzte fünfzig Meter, sah er wie ein gelangweiltes Rindvieh aus, das von seiner Weide her einen lästigen, störenden Wanderer beobachtet.
Ich schwenkte das rote Tuch. Ben rührte sich nicht.
Wir übten beim Fußballtraining oft das unmittelbare Bremsen im Lauf, schnelles Wenden und wieder losstarten. Wir waren alle Dilettanten. Mehr noch, wir waren kriechende Ameisen, schleichende Figuren, einfach Stümper.
Das wusste ich in dem Moment, als Ben plötzlich aus der Drehung heraus mit einem Brüller losbrach und quer über die Weide auf mich zuraste.