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»Je näher du mir kommst«

 

Leseprobe

Samstag, 5. September 2015

 

Auf dem kleinen Röhrenfernseher in meinem Fremdenzimmer der Pension Steinadlernest in Mittenwald liegt ein Spitzendeckchen. Akribisch ausgerichtet, genau im Fünfundvierzig-Grad-Winkel. Die Abstände der Ecken zu den Rändern hin sind bis auf den Millimeter gleich. Der vordere Zipfel lugt vorwitzig ins Bild. Auf dem Deckchen thront, exakt mittig, ein cremefarbenes Porzellanväschen mit bayerischem Landeswappen und goldgerändertem Band. Weiß-blaues Karomuster.
Aus der Vase blühen Wildblumen: Habichtskraut, Mehlprimeln und Weißer Germer von den Buckelwiesen – täglich frisch. Meine Pensionswirtin Kreszenzia Sendlhuber sammelt die floralen Kostbarkeiten auf ihren täglichen Spaziergängen. Die Zenzi verdankt ihre beneidenswerte Gesundheit vor allem der regelmäßigen Bewegung an der frischen Luft – und dem regelmäßigen Genuss eines selbstgebrannten Kräuterschnapses. Dessen Rezept ist ebenso geheim wie die Destillieranlage im Keller ihres Sohnes.
Ich habe die ›Medizin‹ ein einziges Mal probiert – und danach entschieden, notfalls ein paar Jahre früher zu sterben.

Unter dem Spitzendeckchen flimmert das Programm. Entgegen meinen Prinzipien sehe ich am frühen Morgen fern. Aber was in diesen Tagen Anfang September 2015 über Mitteleuropa hereinbricht, kann ich nicht ignorieren. Und mit Zenzis wohlgeordnet-heiler Welt hat das wenig zu tun. Bis vor kurzem sorgten auf deutschen Bildschirmen Dieter Bohlen und Oliver Geissen für eine verlässliche Quote. Heute sind es Massen an Flüchtlingen, die auf unser Land zuströmen – ununterbrochen, Tag und Nacht, auf allen Kanälen.
Da hilft kein nervöses Zappen. Ob öffentlich-rechtlich oder privat, ob reißerisch oder sachlich – die Kameras der Welt starren wie hypnotisiert auf dieses Menschengewimmel auf dem Weg ins gelobte Land.
In mein Land.

Die Kamerastandpunkte sind perfekt gewählt. So etwas lernt man auf der Filmhochschule. Sieben verlorene Demonstranten formatfüllend ins Bild quetschen oder unzählige Migranten zu einem endlosen Bandwurm komponieren. Von rechts oben nach links unten.
Ich denke an den Schwarz-Weiß-Film über die Völkerwanderung im Geschichtsunterricht, Gesamtschule Köln Raderthal/Zollstock, Klasse 8c. Der ratternde Sechzehn-Millimeter-Projektor ergießt einen nie enden wollenden Treck an gotischen Barbaren in das weströmische Reich. Die sonore Stimme des Sprechers verkündet genüsslich die Aushöhlung des Imperiums von innen. Damals hat mir das einen wohligen Nervenkitzel beschert. Aus sicherer Entfernung fühlte ich mich in der Haut des Theoderich unschlagbar.
Völkerwanderungen habe es immer gegeben, und es werde sie immer geben, mahnte mein ›Geschi-Lehrer‹. Was ging uns das an?

Meine daraus gezimmerte Gleichgültigkeit hielt bis eben.
Am gestrigen Freitag hat unsere Bundeskanzlerin entschieden, Tausende Flüchtlinge, die in Ungarn zum ›March of Hope‹ aufgebrochen waren, nach Deutschland einreisen zu lassen, und damit die seit Monaten zugespitzte Lage in eine neue Dimension gehievt.
Seit heute durchfiebert mich echte Betroffenheit. Von Distanz ist keine Rede mehr. Weder zeitlich noch räumlich. Plötzlich durchpflügt die moderne Völkerwanderung mein Herz.
Und meinen Magen. Dort werden meine wohlmeinenden Gedanken von einem drohenden Grummeln beschimpft.
Ich springe vom Sessel auf. Energisch drückt die Feder des Ausknopfs meinen Daumen zurück, der Bildschirm fiept in sich zusammen, die Flüchtlinge verschwinden in einem horizontalen, gleißend hellen Streifen.

Böse Zungen behaupten später einmal, Angela Merkel hätte mit ihrer Entscheidung einen ›Magneten angeschaltet‹. Die Büchse der Pandora geöffnet. Ihr ›einmaliges humanitäres Gebot‹ sei zugleich die Aufforderung an alle Migranten dieser Welt gewesen, sich auf den Weg nach Deutschland zu machen.

*

Am Mittag des Tages eins nach dem fundamentalen Wendepunkt – also Angela Merkels Entscheidung, ›den Magneten anzuschalten‹ – sitze ich auf meinem Koffer.
Bei Trachten Jungmüller gab es Original-Rindslederhosen mit zünftiger Stickerei für hundertneununddreißig Euro. Dazu habe ich das Karohemd, Kniebundstrümpfe, Haferlschuhe und den Filzhut mit Gamsbartimitat gewählt. Mein Karnevalskostüm für 2016 ist ebenso komplett wie sperrig. Aber es muss in diesen Koffer!
Während meine (ausnahmsweise willkommenen) achtundneunzig Kilo den Riesentrolley zusammenquetschen, verfolge ich gebannt die Nachrichten des Bayerischen Rundfunks: »Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hatte zuvor Kritik an seinem Land im Umgang mit der Flüchtlingskrise zurückgewiesen. Das Problem sei nicht ein europäisches, sondern ein deutsches, sagte Orbán in Brüssel. Keiner der Flüchtlinge wolle in Ungarn bleiben, alle wollten nach Deutschland gehen.«

Höre ich – und bin erst einmal baff. So viel also zur europäischen Wertegemeinschaft und ihren christlich-abendländischen Wurzeln. Kannst du vergessen, Theo. Nicht mal der Gottesbezug hat es in die europäische Verfassung geschafft. Der musste damals ebenso draußen bleiben wie heute die Kriegsflüchtlinge aus Syrien.

»Deutschland tut alles, was moralisch und rechtlich geboten ist, nicht mehr und nicht weniger«, sagt meine Bundeskanzlerin. Mit dem Schutz der EU-Außengrenzen sei es nicht getan. Denen, die Schutz verdienen, müsse dieser gewährt werden. Dazu verpflichte die Genfer Flüchtlingskonvention. Klingt logisch. Noch besser: menschlich. Ich möchte stolz sein auf diese Frau.

Als 1989 die Mauer gefallen ist, habe ich zu Hause auf meinem Schlafsofa gelegen. Bekam den Arsch nicht hoch. Anstatt nach Berlin zu fahren und hautnah ein Jahrhundertereignis am eigenen Leib mitzunehmen, ließ ich mir von meiner Mutter belegte Brote mit pikanten Gewürzgürkchen und Bier servieren. Meinem Vater schmeckte das nicht. Beides. Der hätte lieber gesehen, ich wäre endlich ausgezogen. Zu Petra, meiner Jugendliebe. Aber die hatte aus heiterem Himmel Schluss gemacht.
Damals bin ich zum ersten und letzten Mal in meinem Leben vor einer Frau auf die Knie gefallen. Weil ich glaubte, mein Seitensprung sei ein einmaliger Ausrutscher. Petra glaubte das
nicht.
Sie hat recht behalten. Und mein Jugendzimmer blieb weiter bewohnt. Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Wichtiger ist: Das passiert mir nicht noch einmal. Ich meine das mit Berlin. Meine Entscheidung steht: Ich werde meinen Monsterkoffer nach Hause schicken, in München Zwischenstation machen und live in das historische Zeitgeschehen eintauchen. Hotspot Hauptbahnhof. Refugees Welcome! Mit Theo Schmitz aus Köln mittendrin.

Mit Mühe hieve ich den Trolley auf die Postwaage. Der Schalterbeamte Karl Unsriger wurschtelt mit seinen Wurstfingern die Gepäckschlaufe durch den Griff, hält inne und sagt: »Aha, der Herr Theo Schmitz. Aus Köln-Bayenthool. I hoff, Sie ham oan scheena Urlaub do bei uns ghabt.«
Ich nicke.
»Und etz gead’s z’rugg in de scheena Domstodt?«
»Nicht direkt, Herr Unsriger«, sage ich, obwohl der Begriff Domstadt eine nicht unerhebliche Anziehungskraft auf mich ausübt. Zumal, wenn er in meinem Lieblingsdialekt vorgetragen wird. »Ich mache noch einen Abstecher über München. Mal sehen, was da abgeht.«
»Vastehe«, wird Karl vertraulich. »A bissl wos dalebn!«
»Genau«, erwidere ich. »So kann man es auch sagen.«
Dass ich am Hauptbahnhof die ankommenden Flüchtlinge begrüßen will, behalte ich besser für mich. Wer weiß, ob Herr Unsriger das so lustig findet.

Bis in die Nacht sitze ich, in eine Wolldecke gewickelt, auf dem Balkon. Blase den Rauch meiner Abschiedszigaretten in Richtung Karwendelmassiv. Auf diesem Balkon haben wir oft zusammen gesessen. Wir drei. Jahrelang. Glücklich. Als wir noch zusammengehörten: Franziska, Janina und ich. Verdamp lang her.
Das Wetter ist auf herbstlich umgeschlagen. Die Leichtigkeit der ersten Urlaubswoche ist endgültig dahin. Meine Gedanken käuen das alles beherrschende Thema wieder: die Flüchtlingsmassen auf dem Weg nach Europa. Genau der richtige Zeitpunkt, um nach Hause zu fahren.

 

Sonntag, 6. September 2015

 

Die Zenzi verabschiedet mich so, wie ich es mir von meiner Mutter immer gewünscht habe. Bajuwarisch-herzlich. Meine Pensionswirtin macht ein Gesicht wie ein Schulmädchen, das zum ersten Mal auf Klassenfahrt geht.
»Ich komme doch wieder, Zenzi«, versichere ich. »Ich bin doch immer wiedergekommen.«
»Ja. Du scho.« Jetzt schluchzt sie, die Zenzi. »Aba bringst die Nina aa amol wida mid.«
Ich stutze.
»Mei, des moan i fei ernst. Sieh zua, dass des wieda in Ordnung kummt, die Sach mid deina Nina!«
Dabei schaut sie gar nicht mehr so brav, die Zenzi. So klein und hutzelig die Alte sein mag; wenn sie erst mal böse wird, schleicht man sich besser.
»Ich muss los«, sage ich. »Der Zug!«
»Pfiat di, Theo!«, ruft die Zenzi mir winkend nach. Mit extraliebevollen Augen.

Ihre Mahnung begleitet mich hinunter zum Bahnhof: »Sieh zu, dass das wieder in Ordnung kommt!«
Das ist schnell gesagt. Aber ich verspreche nichts mehr, was ich nicht halten kann. TS 72 kann vieles, doch manchmal stoße auch ich an meine Grenzen. Ausgerechnet ›die Sache‹ mit meiner einzigen Tochter Janina kann ich auf gar keinen Fall versprechen.
Weil es nicht von mir abhängt. Nicht allein.
TS 72, so nenne ich mich spaßeshalber. Als Reaktion auf den ›Lukas Podolski‹-Hype Anfang 2006. Da rannten auf einmal alle mit Klamotten aus der LP-10-Kollektion herum. Beknackt. Also habe ich mir aus Protest ein T-Shirt mit TS 72 drucken lassen – Theo Schmitz, geboren 1972.

*

Die Menschentraube drängt gegen das Absperrgitter auf dem Querbahnsteig des Münchner Hauptbahnhofs. Viele klatschen, johlen, pfeifen. Wie in der Fankurve bei einem Auswärtsspiel meiner Fortuna. Ich behaupte mit meinem massigen Körper den Platz in der ersten Reihe. Einige der ankommenden Flüchtlinge recken den Daumen in die Luft und lachen ins Publikum – Spieler, die sich für den Support bedanken.
Die meisten aber schlurfen einfach nur erschöpft an uns vorüber, die Torturen einer Odyssee in ihren matten Augen konserviert. Niemand wollte sie haben – ein halbes Dutzend Länder entlang der Balkanroute waren froh, sie weiterziehen zu sehen, bis nach Ungarn. Dort hatte man am wenigsten auf sie gewartet. Auf dem Bahnhof Budapest gab es kein Vor und kein Zurück mehr. Nach Wochen und Monaten der Strapazen, des Hoffens und Bangens suchte die pure Verzweiflung vergeblich ein Ventil.
Bis Angela Merkel sich erbarmte.

Jetzt sind sie hier. Würde ich die Hand ausstrecken, könnte ich sie berühren. Aber so nah ich ihnen auch bin, zwischen uns liegen Welten. Eine groteske Distanz, die alle Jubelgesten und Freudenschreie nicht aufzuheben vermögen.
Das Unwohlsein ist wieder da. Meine Fantasie sträubt sich plötzlich, für all diese Menschen eine glückliche und friedliche Zukunft bei uns zu denken.
Völkerwanderung. Das ist kein Film mehr. Das ist aufwühlende Realität. Mein herzliches Willkommen duckt sich feige hinter einem Kassandraruf: Die meisten von denen da werden keine Arbeit finden und uns auf der Tasche liegen! Sozialfälle, in Parallelgesellschaften zusammengepfercht. Importierte Hartz-IV-ler, die unseren mühsam aufgebauten Wohlstand ins Wanken bringen …

Mitten in meine Larmoyanz dringt der Blick eines jungen Flüchtlings und brennt sich mir umstandslos in die Gedärme. Ich sehe Müdigkeit, Neugier. Aber auch Hoffnung, den Anflug eines Lächelns. Schnell wende ich mich ab.

Direkt neben mir wird eine junge Frau in einem Walk-Mantel interviewt. Drei Mikrofone, jeweils mit knallbuntem Windschutz, bedrängen ihren rotgefleckten Hals. Ihre Augen leuchten. Wie das rote LED der Kamera. Wir sind auf Sendung.
Wir. Denn garantiert bin ich mit auf dem Bild. Als die Frau sagt: »Diesen Menschen muss man doch helfen. Da gibt es überhaupt keine zwei Meinungen«, nicke ich also betont heftig.
Und male mir aus, wie das wäre: TS 72 heute Abend in der Tagesschau. Ob Martina dann zusieht? Auf ihrem ›Art Déco‹-Daybed, eingehüllt in ihre extraflauschige Kuscheldecke aus Mikrofaser-Flanell?
Jetzt fragt ein BBC-Reporter: »Are you even ready to welcome some of them personally?«
Dieses Mal nicke ich vorsichtshalber nicht.

*

 

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