»Sophie oder Die Farben des Feuers« von Heidemarie Schumacher
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»Ich taufe dich auf den Namen Sophia Sibilla Margareta Katharina.« Vorsichtig goss der Priester das geweihte Wasser über Sophies Köpfchen, während draußen am Himmel eine Wolke der Märzsonne Platz machte. Ein Strahl fiel durch das Fenster der Kapelle und legte sich auf die Stirn des Säuglings, wanderte höher an seinem kleinen Kopf und entzündete sich dort zu winzigen kupferroten Flammen.
Das Kind, drei Monate alt, öffnete die Augen, die von dem hellen Blau eines Frühlingshimmels waren. Es weinte nicht, sondern schaute mit Ausdruck in Richtung Fenster, durch das die alles erwärmende Sonne den Frühling nach einem langen und bitterkalten Winter verkündete. Die Anwesenden murmelten ein Dankgebet.
Sophie war ein stiller Säugling, der viel schlief. Nach der neuen Mode aus Frankreich wurde ihr kleiner Körper straff bis unter den Hals gewickelt und in der Kammer der Amme an einem Wandhaken aufgehängt. Wenn die Amme, eine kräftige Bäuerin aus dem Dorf, sie von der Wand herunterholte und zum Trinken an die Brust legte, füllte sich der kleine Raum hinter dem Kamin der Burgküche mit den Mägden, die das Kind bestaunen wollten. Es hatte sich auf der Burg rasch herumgesprochen, wie kraftvoll die kleine Sophie von Hirschbach die Leben spendende Milch in sich aufnahm. Die Mägde sagten, sie trinkt wie ein Alter, der seinen Humpen leert. Die Beschließerin, eine alte Vettel, die schon vierundvierzig Jahre zählte und immer verdrießlich war, mochte es nicht gutheißen.
»Das ist nicht gut für ein Mädchen, sie werden später neugierig und wollen zu viel wissen.«
Dann verrückte sie mit ihren knochigen Fingern die kleine Haube auf Sophies Kopf und zischte: »Seht euch das an, dieses Kupfer, das wird ein böses Ende nehmen! Ab sofort geben wir ihr weniger zu trinken und lassen sie länger hängen.«
Aber Sophies Amme liebte das Kind und hielt es so wie ihre Zwillinge, die den ganzen Tag halbnackt zu ihren Füßen auf dem Boden spielten, dabei nach ihren Füßchen griffen oder an ihren Fäusten saugten. Wenn alle draußen waren und ihrem Tagwerk nachgingen und sie bei der Flickarbeit oder beim Gemüseputzen saß, holte sie das Burggrafenkind von der Wand, wickelte es aus seiner festen Hülle und ließ es, wie die eigenen Kinder, nackt vor der Feuerstelle auf einem alten Stück Leinen liegen. Manchmal legte sie ihm einen ihrer Zwillinge zur Seite, damit es auch andere Kreaturen kennenlernte. Sophie quietschte und strampelte auf dem groben Tuch und genoss es, ihre Gliedmaßen zu strecken.
Diese Übungen blieben jedoch geheim, und so war man allseits verdutzt, als man den Säugling nach eineinhalb Jahren von der Wand holte und dieser zuerst aufrecht saß, dann über die Fliesen krabbelte und sich zuletzt am eisernen Schürhaken der Esse hochzog. Die Mutter, die diesem Schauspiel beiwohnte, bekreuzigte sich und ließ noch am gleichen Abend eine Messe für das Seelenheil ihrer Jüngsten lesen.
Sophie hatte drei ältere Schwestern und zwei ältere Brüder. Von den Geschwistern zählte die jüngste Schwester sieben Jahre, der älteste Bruder war vierzehn Jahre älter als sie. Jutta Margaretha von Hirschbach, die Mutter, hatte in den letzten sechs Jahren kaum Zeit gehabt für ihre Nachkommenschaft, denn sie leitete den Umbau der Burg zu einem Schloss. Jeden Tag schritt sie die Gräben ab, sprach mit Maurern, Zimmerleuten und Steinmetzen und trieb die Knechte zur Eile an. Den Kindern war das Spielen in den neuen Gebäudeteilen verboten, aber jeden Sonntag ging die Gräfin mit ihnen nach der Messe die Mauern entlang, damit sie das neue Haus wachsen sahen.
Nun, im sechsten Jahr der Umbauarbeiten bestand ihr ganzer Ehrgeiz darin, die Gebäude so weit wie möglich voranzutreiben, um ihren Mann, der von einer Reise im Mittelmeer zurückerwartet wurde, zu überraschen. Der Burgherr war seit längerem in Geschäften unterwegs und hatte seine Rückkehr angekündigt. Das Schriftstück, das er vor vier Monaten in Genua aufgegeben hatte, war zerknittert und mit Flecken übersät. Die Tinte im unteren Teil war verlaufen, aber Jutta las die blassen Zeilen voller Vorfreude wieder und wieder.
»Im Mai wird der Burggraf zurückkommen. Seiner schönen Hausfrau und den Kindern bringt er Geschenke aus Konstantinopel, fremde Früchte, Seide und goldenes Tafelgeschirr. Für den Garten Kerne und Samen. Trutz von Hirschbach und Mayenbach.«
Der Vater war oft auf Reisen nach Flandern oder Venedig, weil er für den Erzbischof von Trier Geschäfte im Ausland abwickelte. Diesmal war er per Schiff bis Malta gesegelt, was nicht ungefährlich war, auch wenn die Ritterschaft die Turbanfürsten nicht mehr bekämpfte, sondern mit ihnen Handel trieb. Das Mittelländische Meer war wegen räuberischer Piraten, die es auf die Handelsschiffe abgesehen hatten, nicht sicher. Umso froher war man auf der Burg, dass der Herr jetzt nach fast dreijähriger Abwesenheit wohlbehalten zurückkehrte.
Zunächst runzelte der Graf voller Misstrauen die Stirn, als Jutta ihm, nachdem er seine Söhne und Töchter der Reihe nach begrüßt hatte, eröffnete, es gäbe ein weiteres Kind bei der Amme in der Burgküche. Er blies seine Backen auf und hob die fuchsroten Brauen drohend über blitzenden Blicken. Bei seiner Abreise habe er, Trutz, eine schlanke Frau verlassen. Dabei donnerte seine Stimme so laut durch die Halle, dass die Söhne die Köpfe senkten, die kleineren Töchter sich hinter dem Gewand der Mutter versteckten.
Die furchtlose Jutta aber schickte die Kinder fort, nahm den Gatten beim Arm und bat ihn, sie zu begleiten. Auf dem Weg zur Küche erklärte sie ihm hinter vorgehaltener Hand, dass sich bald nach seinem Aufbruch die morgendlichen Übelkeiten eingestellt und dann die Dinge ihren Lauf genommen hätten.
Beim Eintritt in den Burghof verkehrte sich die düstere Stimmung des Ritters in dröhnende Heiterkeit, als er sah, wie ein kleines Mädchen mit fuchsroten Haaren von den Knien der Amme, die im Eingang der Burgküche saß, herunterrutschte und vergnügt kreischend in den Hof lief. Dort vertrieb es einen großen Truthahn, der ihr mit geschwollenem Kamm den Weg versperren wollte.
»Das ist unsere Sophie«, erläuterte ihm Jutta mit Stolz in der Stimme. »Eine echte Hirschbach, mein Fleisch und Blut«, murmelte der Burgherr. Das Kind drehte sein Köpfchen in die Richtung, aus der das Gelächter des Ritters kam und lief, die Arme in die Luft werfend, auf ihn zu. Trutz hob es in die Höhe, drückte es gegen seine Brust und küsste es herzhaft. Die Kleine dankte es ihm durch ein helles Lachen. Und immer, wenn sie ihn von da an gewahr wurde, umfasste sie einen seiner Stiefel und drängte sich an den großen Mann, so lange, bis er sie auf den Arm nahm.
Der Vater ging wieder auf Reisen, und bei seinem nächsten Besuch zu Hause war Sophie schon sieben Jahre alt und küsste ihm gesittet die Hand, in der Art wie es die älteren Schwestern machten. Die Mutter widmete sich weiterhin dem Schlossbau, der nun zügig voranschritt, denn der Burggraf hatte durch seine Reisen für den Trierer Hof Reichtümer erworben, so dass an Nichts gespart werden musste.
Um den Umbau zu beschleunigen, heuerte Jutta neben den jungen Männern aus dem Dorf auch Arbeiter aus weiter entlegenen Gegenden an. Einige kamen sogar aus dem entfernten Trier. Was zur Folge hatte, dass es einige Zeit später im Dorf eine Reihe von dunkeläugigen und schwarzhaarigen Kindern gab, die von den Dörflern als Moseller bezeichnet wurden.
Die Bauarbeiten waren, als Sophie in der Schlosskapelle die erste Heilige Kommunion empfing, fast abgeschlossen. Es waren ein neuer Rittersaal, ein Ahnensaal, eine größere Kapelle und die Wohnung des Geistlichen fertiggestellt worden. Ein Wunder waren die Fenster. Man hatte sie mit neuem Glas versehen und die Wohnräume waren nun auch im Winter hell, weil man sie nicht länger, wie in der alten Burg, von innen wegen der Kälte mit hölzernen Laden verschließen musste. Die Fenster im elterlichen Schlafzimmer und im Ahnen- und Marschallsaal trugen oben das farbige Wappen der Familie Hirschbach: ein von rechts nach links über einen Bach springender Hirsch, gekrönt von drei Kreuzen, die an die drei ruhmreichen Feldzüge des Ururururururahns Etzo gegen die Heiden zeugte. Dasselbe Wappen mit Hirsch und Kreuz hing auch in Stein über dem riesigen Kamin des Ahnensaals, in dem die Porträts aller Hirsch- und Mayenbachs, die in den letzten zweihundert Jahren die Burg bewohnt hatten, von den Wänden herabsahen. Der Kamin im Rittersaal hingegen blieb schmucklos, dafür war er so groß, dass man ein Schlachtross hätte hineinstellen können, und im Winter schleppten die Knechte ganze Baumstämme heran, um sein Feuer zu füttern.
Prachtvoll war auch die neue Halle. Ein ganzer Eichenstamm in der Mitte des Raums, glatt gehobelt und mit einem Sinnspruch versehen, trug die Balkendecke. Die Esse war doppelt so groß wie die der Burgküche. Die Kellerküche, wie man sie noch vor hundert Jahren auf der Burg in Betrieb hatte und in der es zuletzt gespukt hatte, hatte die Gräfin mit dem Aushub des neuen Schlossbaus zuschütten lassen. Aber die zum Burghof offene Sommerküche blieb erhalten und wurde erweitert. Die Wände waren mit eisernen Haken versehen, an denen im Frühjahr Kräuterbüschel und im Herbst das tote Wild und das Schlachtvieh der Burg hingen. Beim ersten Frost begannen die Mägde dann Pfannen und Roste zu schrubben, und man zog für den Winter in die große Küche um.
Das Schloss hatte gegenüber den zugigen Wohnräumen der Burg viele Vorteile. Große Fenster gaben Licht, eiserne Öfen verströmten Wärme, und viele Neuanschaffungen gaben dem Haus neue Farben: Die grünen Kacheln in der Küche waren bei Neuwied gebrannt, bunte Tischteppiche aus den Niederlanden und blau-weißes Porzellan aus Straßburg zierten die Tische. Im Damenzimmer hing ein monumentaler Wandteppich, der junge Frauen auf der einen, ein scheues Einhorn auf der anderen Seite zeigte. An das elterliche Schlafzimmer grenzte eine kleine Kammer, die vom hinteren Flur für den Heizknecht begehbar war. Er fütterte von dort den Ofen im Zimmer der Eltern, die es von nun an im Winter warm hatten, ohne behelligt zu werden. Auch hatte man im ganzen Haus breite Dielen aus Eiche verlegt. In der alten Burg hatten die Teppiche noch auf gestampftem Lehm gelegen.
Die Mädchen und Jungen bekamen Betten, die auf Füßen über dem Boden schwebten und oben und unten ein Ende aus Holz hatten. Als Sophie das erste Mal im neuen Bett schlief, hatte sie das Gefühl, in einem Boot zu liegen, und nachts wachte sie manchmal auf, um nachzusehen, ob sie noch im Zimmer war, oder ob das Bett mit ihr die Nette, den Fluss, der um den Burgberg floss, hinunter geschwommen war.
Die älteren Schwestern lachten sie aus. Jede von ihnen hatte einen Spiegel zum Einzug bekommen und sie betrachteten sich morgens und abends darin. Die strenge Kammerfrau hatte ihnen verboten, nach dem Nachtgebet noch einmal hineinzusehen, denn hinter dem Spiegel stehe immer der Leibhaftige. Doch die Mädchen hielten sich nicht an ihr Versprechen, sich schlafen zu legen und sofort die Augen zu schließen, wenn sie vom Niederknien aufstanden. Tuschelnd und kichernd holten sie die Handspiegel hervor und probierten aus, wie man einem Herrn ein Lächeln schenkt, oder wie man durch Hineinkneifen rosige Wangen bekommt. Die Übermütigen schnitten auch Grimassen, um den Teufel zu verschrecken.
Sophie zog sich dabei vor Angst die Decke über den Kopf, denn sie war noch in dem Alter, in dem das Wort der Kammerfrau einem ehernen Gesetz gleichkam, und sie befürchtete, jeden Augenblick den Teufel in den Saal treten zu sehen, um sie allesamt mit hinab in die Hölle zu reißen.