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Gabriele Keiser »Hast du Angst vor mir?«

 

Köln
Herbst 1952

Vorspann

 

In dem Moment, als er sie sah, schwoll das Rauschen in seinem Kopf an. Verwandelte sich in ein Sirren und Summen. Mit starrem Blick beobachtete er, wie sie geradewegs auf das Trümmergrundstück zulief, das wie eine offene Wunde zwischen eilig hochgezogenen Betonbauten klaffte.
Schnell schob er sein voll bepacktes Fahrrad über das holprige Trottoir und folgte ihr. Niemand sonst schien in der unmittelbaren Gegend unterwegs zu sein. Hier an diesem versteckten Fleck, wo ein paar übriggebliebene Mauern in den Himmel ragten, steinerne ausgebrannte Gerippe, zwischen denen junge Bäumchen wuchsen.
Suchend sah er sich um. Wo war sie? Sollte er sie verloren haben? Er lehnte sein Fahrrad an eine der beschädigten Mauerwände und begann, die beiden Hartgummikugeln in seiner Hosentasche zu kneten. Währenddessen irrte sein Blick umher.
Ach, da war sie ja! In einiger Entfernung schlurfte sie mit gesenkten Schultern unter einem übrig gebliebenen Türsturz hindurch. Blieb kurz stehen, bückte sich, als ob sie etwas suche. Hinter ihr bemerkte er die beiden Türme des Doms. Robuste Mauerwerke, die den kriegerischen Zerstörungsversuchen getrotzt hatten.
Schnell lief er zwischen halben Wänden mit offenen Fensterhöhlen hindurch, wich aufgeschichteten Steinhaufen aus, peinlich darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen. Das war gar nicht so einfach zwischen all dem Schutt und Geröll, in dem es nach Ruß, Steinstaub und Unrat roch.
Verdammter Mist! Schon wieder war sie aus seinem Sichtfeld verschwunden. Angestrengt lauschte er, aber bis auf ein Rascheln und Knacken war es hier sonderbar still, die Geräusche der Großstadt schienen weit entfernt.
Irgendwo in seiner unmittelbaren Nähe musste sie sein, das sagte ihm sein Instinkt. Er presste die Lippen zusammen. Immer heftiger knetete er die beiden Hartgummikugeln in seiner Hosentasche.
Es dämmerte bereits. Nach einem kurzen Aufleuchten der Sonne hatte sich alles um ihn herum grau zu färben begonnen. Seine Anspannung wuchs und die Unruhe nahm immer mehr zu. Das Sirren in seinem Kopf hatte sich in ein Kribbeln verwandelt, das er auf seiner Haut spürte. Untrügliche Zeichen, die er nur allzu gut kannte.
Er musste sie finden, unbedingt.
Mit einem Mal hörte er schlurfende Schritte. Sofort duckte er sich. Sein Herz begann ein paar Takte schneller zu schlagen. Vorsichtig hob er den Kopf.
Im Zwielicht tauchte ihre Silhouette auf und bewegte sich langsam auf ihn zu. Dreizehn oder vierzehn Jahre mochte sie zählen, das lange, dunkle Haar hing ihr zerzaust bis in den Rücken. Sie hielt den Kopf gesenkt, als ob sie eine schwere Last trüge. Nun stand sie fast vor ihm. Da trat er hinter der Mauer hervor.
Sie zuckte zusammen. Blieb wie angewurzelt stehen. Ihre schreckgeweiteten Augen huschten hin und her.
»Was machst du hier? Wissen deine Eltern, wo du bist?« Er bemühte sich, seine Stimme höflich klingen zu lassen.
Aus riesengroßen dunklen Augen starrte sie ihn an. Tränen glitzerten darin.
»Hast du etwa Angst vor mir? Das brauchst du doch nicht«, äußerte er voller Verständnis. Gleichzeitig genoss er die Erregung, die ihn immer mehr ergriff.
Zwar schüttelte sie den Kopf, doch es war ihr anzusehen, dass sie log. Sein Gespür für solche Dinge hatte ihn noch selten getrogen. Er bemerkte, dass ihr Rock zerschlissen und der Saum abgerissen war, darüber trug sie einen viel zu großen Pullover. Ausgeleierte Kniestrümpfe fielen über ihre Knöchel auf das abgewetzte Leder der braunen Schnürschuhe, die wie Männerschuhe aussahen. Zitternd stand sie vor ihm und rührte sich nicht vom Fleck.
Feines Fräulein! Wie die aussieht. Vollkommen verwahrlost. So läuft man doch nicht rum.
Es war kühl, der Sommer hatte bereits begonnen, in den Herbst überzugehen. Doch er wusste, dass das nicht der Grund ihres Zitterns war.
»Sagst du mir, warum du weinst?« Nun legte er ein mitfühlendes Schmeicheln in seine Stimme.
Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Ihr Mund war fest geschlossen. Sie hatte noch kein einziges Wort gesprochen.
»Bist du eine Zigeunerin?« Er trat einen Schritt auf sie zu. Sein Gesicht war jetzt ganz nah vor dem ihren. »Verstehst du überhaupt, was ich sage?«
Ihr starr auf ihn gerichteter Blick hatte sich verändert, war hart, argwöhnisch und ängstlich zugleich.
Der Druck in seinem Inneren verstärkte sich. »Wollen wir uns ein bisschen liebhaben?«, schmeichelte er. Etwas hämmerte gegen seine Schläfen. Seine Hände näherten sich ihrem Hals. Noch immer wich sie nicht zurück. Auch dann nicht, als er mit beiden Daumen ihre Kehle suchte. Mit Genugtuung spürte er das Pochen unter der Haut, die Bewegung des Kehlkopfs beim Schlucken.
Warum wehrst du dich nicht? Komm, wehr dich. Das macht die Sache besser.
Er verstärkte den Druck seiner Finger. Konzentrierte sich vollkommen auf sein Tun. In ihrem pulsierenden Blut spürte er sein eigenes Herz rasen.
In diesem Moment schien sie aus ihrer Schockstarre zu erwachen. Sie reckte beide Arme und versuchte mit Macht, seine Hände wegzuzerren. Als er den Griff um ihren Hals etwas lockerte, schnappte sie keuchend nach Luft.
Ja, Mädchen, das gehört zum Spiel.
Im gleichen Moment verwandelten sich seine Hände wieder in eiserne Klammern. Sie wand sich verzweifelt, trat ihm gegen das Schienbein.
Oho, man kann sich also doch wehren. Wird dir aber nichts nützen, Fräulein.
Da war ein Sog, ein Strudel, der ihn mitriss. Etwas brach aus ihm heraus, das nicht mehr aufzuhalten war. Er kämpfte, keuchte und schwitzte. Das, was er lange unterdrückt hatte, explodierte in diesem Moment und entlud sich. Alles, an dem er sonst erstickt wäre. Er fühlte sich ungeheuer stark, mächtig, als Herr über Leben und Tod. Was es war, das in ihm brodelte, wusste er nicht zu benennen. Er spürte nur, wie es übermächtig in ihm hochstieg, ihn überschwemmte, ihn unsäglich beglückte.
In diesem Augenblick rammte sie voller Wucht ein Knie zwischen seine Beine. Der Schmerz durchschoss ihn wie ein Blitz. Mit einem tierischen Laut schrie er auf. Ein roter Schleier legte sich vor seine Augen, aufheulend presste er die Hände auf sein Geschlecht. »Du dreckiges Luder!«, schrie er voller Wut. »Verdammtes Aas.«
Er wimmerte. Er schluchzte. Krümmte sich. Rotz lief ihm aus der Nase.
Als er wieder klar sehen konnte, war das Mädchen zwischen den Trümmerhalden verschwunden.

 

Westpfalz
Nähe Marienthalerhof
Sonntag, 31. Mai 1953

1. Kapitel

 

Er stieg vom Fahrrad, blieb einen Moment stehen und sah sich um. Spürte, wie allmählich seine Erregung abebbte. Auf der kleinen Lichtung war nur das Zwitschern der Vögel zu hören und das Rauschen der Blätter, durch die der Wind strich. Aus der zerdrückten Packung in seiner Hemdbrusttasche fingerte er eine Juno heraus und stellte enttäuscht fest, dass es seine letzte Zigarette war. Mit einem Streichholz zündete er sie an, inhalierte ein paar Mal tief. Rauchte sie bis auf einen kleinen Rest, wobei er sich fast die Finger verbrannte. Den Stummel ließ er achtlos fallen und zertrat ihn mit der Schuhspitze im Sand. Dann schob er sein Fahrrad weiter durch den unebenen und von Baumwurzeln durchzogenen Waldweg. Irgendwo klopfte ein Specht. Auch ein Kuckuck rief.
Die Luft roch nach Moos und trockenem, sonnenbeschienenem Laub und erinnerte ihn an den Forst seiner Kindheit in Engelsdorf. Am Wegrand wuchsen Schafgarbe, Glockenblumen und üppige Farne, Fliegen und andere Insekten summten um ihn herum, schienen ihn zu begleiten. Ab und an schimmerte die Sonne gleißend zwischen dem Blattgrün hindurch und blendete ihn. Unter den Achseln seines rotkarierten Buschhemdes hatten sich Schweißflecken gebildet. Feuchte Haarsträhnen hingen ihm ins Gesicht, die er immer wieder nach hinten strich.
Ein Stückchen weiter entlang des Weges entdeckte er Walderdbeeren unter einer blühenden Brombeerhecke. Er pflückte ein paar der kleinen roten Beeren und steckte sie in den Mund. Wieder blitzten Gedanken an seine Kindheit auf. Eigentlich schade, dass Engelsdorf so weit weg war.
Mit einem Mal hörte er helle Mädchenstimmen. Schnell schob er das Rad hinter die Hecke, blieb stehen, lugte durch die Zweige und lauschte. So gut es ging, versuchte er, sich unsichtbar zu machen und dennoch alles zu beobachten.
Durch das Gewirr der Ranken hindurch konnte er die Silhouetten zweier Mädchen erkennen. Ein größeres, eigentlich eine junge Frau, und eine Kleinere, die munter neben der Großen hin und her hüpfte. Jetzt blieben beide vor einem riesigen Ameisenhaufen stehen, die Kleine zeigte darauf und sagte etwas, was er jedoch nicht verstehen konnte. Gebannt beobachtete er die beiden Mädchen. Noch konnte er ihre Gesichter nicht erkennen, sie waren lediglich Schemen, aber äußerst ansehnliche Schemen, die sein Herz schneller klopfen ließen.
Die Worte des Gefängnispfarrers schossen ihm durch den Kopf: Er solle seine Begierde beherrschen lernen. Dann hätte er künftig weniger Schwierigkeiten. Er lachte leise vor sich hin. Doch, da war was dran, das musste er zugeben. Aber was wusste solch ein Pfaffe schon vom wirklichen Leben?
Die Mädchen gingen weiter und näherten sich langsam der Stelle, wo er im Verborgenen lauerte. Deutlich sah er jetzt den blonden Lockenkopf der Jüngeren. Eine weiße Schleife groß wie ein Propeller steckte in ihren gescheitelten Locken. Ihr rundes Gesicht war gerötet. Das brünette Haar der Älteren war zu einem Pferdeschwanz hochgebunden. Beide Mädchen kicherten unentwegt und neckten sich. Sie waren adrett gekleidet. Ist ja Sonntag, fiel ihm ein. Am heiligen Sonntag machen sich die Leute fein. Auch auf dem Land.
Seine Augen huschten von einer zur anderen. Die Kleine trug ein weißes Sommerkleid mit Streublümchen und Puffärmeln. Darüber eine weiße Schürze mit Volant, weiße Kniestrümpfe und glänzende Lackschuhe. Die Größere hatte ein luftiges, gelb und weiß getüpfeltes Sommerkleid an, das ihr gut stand. Ein schwarzer Samtgürtel betonte ihre schlanke Taille.
Seine Erregung wuchs immer mehr.
»Fang mich doch«, rief die Kleine jetzt kichernd und rannte weiter. Unwillkürlich duckte er sich. Doch die Mädchen benahmen sich völlig unbefangen. Glaubten sich allein und hatten seine Gegenwart nicht bemerkt.

 

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