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Leseprobe »Grauland«

Wolfgang Kaes

 

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Die Wahrheit

 

Wie kommt das Böse in die Welt?
Was für eine merkwürdige Frage, werden Sie vielleicht denken. Aber mich hat diese Frage Zeit meines Lebens umgetrieben. Wissen Sie zufällig die Antwort? Sind Sie möglicherweise ein gläubiger Mensch, haben einen Draht zu Gott und kennen deshalb die Antwort?
Da haben Sie mir etwas voraus.
Ich bin es bedauerlicherweise nicht.
Gläubig.
Der Glaube versetzt Berge. So steht es in der Bibel. Religion stiftet Sinn und Halt, heißt es.
Ich finde keinen Halt, keinen Sinn.
Ich will nach wie vor an die Liebe und an die Freundschaft glauben und mühe mich täglich und redlich, weiterhin an das Gute im Menschen zu glauben.
Wie kommt das Böse in die Welt?
Eine schlüssige Antwort auf meine Frage habe ich nie gefunden. Nur so viel lehrten die Beobachtungen in den mehr als vier Jahrzehnten als Reporter: Ein verschwindend geringer Anteil bösartiger Menschen genügt, um dem Rest der Menschheit die Hölle auf Erden zu bereiten.
Ein verschwindend geringer Anteil bösartiger Menschen schürt Neid und Missgunst und Hass. Ein verschwindend geringer Anteil erhebt die Gier zur alleinigen Messlatte persönlichen Glücks, wettet an der Börse auf den Niedergang einer Währung oder auf den Absturz einer Volkswirtschaft, sorgt allein schon durch die Existenz dieser Wette dafür, dass die Prophezeiung alsbald Realität wird, und nimmt so den finanziellen Ruin unzähliger namenloser Menschen billigend in Kauf.
Adrett gekleidete Besserverdienende mit schicken Büros in gut gelegenen Glaspalästen helfen gern dabei, Steuern in Milliardenhöhe zu hinterziehen. Zum Schaden der Gesellschaft. Oder schmutziges Drogengeld aus aller Welt in Milliardenhöhe zu waschen und so die Mobster und Terroristen dieser Welt reich und reicher zu machen.
Andere finden Befriedigung darin, in ihrem engsten sozialen Umfeld, in der eigenen Familie, in der Nachbarschaft oder unter der Belegschaft in der Firma durch perfide Lügengebäude, durch Verleumdungen und üble Nachrede den guten Ruf ihrer Opfer zu zerstören, oder durch Schikanen und Demütigungen die Seelen ihrer Opfer aufs Äußerste zu peinigen.
Andere missbrauchen virtuos das Instrumentarium moderner digitaler Kommunikationsmittel, um nicht nur einzelne Menschen, sondern komplette Gesellschaften zu manipulieren, zu terrorisieren, am Ende zu zerstören.
Und manche nehmen sich ohne jegliche Skrupel das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden.
Tröstlich könnte erscheinen, dass die bösartigen Menschen auf diesem Planeten nach wie vor in der Minderheit sind. Ein schwacher Trost angesichts des Unheils, das sie täglich anrichten.
Während ich das aufschreibe, merke ich:
Da ist viel Wut in mir.
Eine seit langer Zeit aufgestaute Wut.
Zeit meines Journalistenlebens habe ich mich mit den katastrophalen Folgen von Verbrechen beschäftigt. Um den Opfern und den Angehörigen der Opfer eine Stimme zu geben. Manchmal kam dabei die Wahrheit ans Licht. Oder sie rückte zumindest in fassbare, greifbare Nähe.
Nur vor der Beschäftigung mit dem Verbrechen in meiner eigenen Familie habe ich mich stets gedrückt.
Warum nur?
Aus Arroganz?
Aus Ignoranz?
Aus Feigheit?
Aus Bequemlichkeit?
Habe ich mir etwa eingebildet, ich könnte meine Seele schützen, indem ich die Geschichte meiner Familie ausblende?
Was für ein Irrtum.
Niemand kann vor seiner Familiengeschichte davonlaufen.
Das habe ich viel zu spät begriffen.
Das in unserer Familie vor langer Zeit geschehene Unrecht, eingebettet in die alltägliche Banalisierung des Bösen in einem monströsen Unrechtsstaat, all die bruchstückhaften Erzählungen darüber, was damals geschehen ist, die zaghaften Andeutungen, auch das schamhafte Verschweigen, all jene daraus erwachsenen und an die jeweils nachfolgende Generation verabreichten Denkmuster, all das hat unser ethisch-moralisches Korsett geformt und verformt, unser aller Fühlen und Handeln geprägt, wenn auch auf unterschiedliche Weise, so wie ich mir vorstelle, dass eine vererbte DNA über die äußere menschliche Gestalt, die Haarfarbe oder die Augenfarbe entscheidet.
Die vollständige Wahrheit lässt sich nicht mehr ermitteln. Die Wahrheit hat in all den Jahrzehnten des Schweigens und des stillen Erduldens und verzweifelten Verdrängens jede gebotene Gelegenheit genutzt, um sich zu verflüchtigen.
Mein Name ist Klaus Küpper. Ich wurde 1958 in Lärchtal geboren und habe die Kleinstadt in der Vulkaneifel 18 Jahre später, gleich nach dem Abitur, fluchtartig verlassen.
Da draußen wartete die Welt.

 

1
Otto Küpper

 

Es war eine NSU. Ich erinnere mich noch ganz genau an die drei Buchstaben auf dem Tank der Maschine: NSU. Ich konnte zwar noch nicht lesen und schreiben, aber die drei Buchstaben hatte ich mir da schon eingeprägt, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Außerdem stand die NSU ja immer an ihrem Platz bei uns im Hof, wo ich als kleiner Junge gespielt habe. Gleich vor der Backstube stand sie. Die drei Buchstaben auf dem Tank hatte ich also stets in Augenhöhe.
An diesen einen Tag erinnere ich mich noch ganz genau.
Der Tag, als mein Vater morgens zu mir sagte: »Otto, heute fahren wir beide nach Luxemburg, Zigaretten schmuggeln, damit wieder was reinkommt in die Kasse.«
Das klang sehr geheimnisvoll.
Ich hatte keine Ahnung, was Luxemburg war und was schmuggeln ist und um was für eine Kasse es ging, in die was reinkommen sollte. Ist auch kein Wunder, ich war noch ziemlich klein. Ich muss fünf gewesen sein. Ja, ganz sicher sogar war ich fünf, denn es war das Jahr, das alles veränderte.
Das Jahr, als mein Vater starb.
Mein Vater hieß Jean, aber alle in Lärchtal nannten ihn nur den Schäng. Denn Jean konnte hier keiner aussprechen. Die Leute in Lärchtal haben ihren eigenen Dialekt, viele können nicht mal richtiges Hochdeutsch, geschweige denn Französisch.
»Otto, halt dich nur ja gut fest an mir«, sagte mein Vater. »Sonst krieg ich Ärger mit deiner Mamm, wenn dir was passiert.«
Der Sitz für den Beifahrer über dem Hinterrad war ziemlich hart, erinnere ich mich, denn das war nur so eine Art Notsitz. Meine Beinchen reichten nicht bis zu den Fußrasten, sondern baumelten in der Gegend rum. Da musste man sich schon gut festhalten, um nicht runterzufallen. Würde man heute gar nicht mehr machen, mit einem Fünfjährigen. Damals war vieles anders.
Mein Vater trug eine Lederkappe und so eine Fliegerbrille, mit der er aussah wie ein Taucher im Meer, jedenfalls stellte ich mir einen Taucher im Meer so vor, auch wenn ich das Meer erst 30 Jahre später zum ersten Mal mit eigenen Augen gesehen habe. Außerdem trug er seine Lederjacke, an der hielt ich mich jetzt fest und krallte meine Händchen in das dicke Leder und drückte manchmal meine Nase hinein, weil es so gut roch. Oder lehnte zwischendurch, während der langen Fahrt, meine Stirn an den breiten, ledernen Rücken meines Vaters, wenn ich müde wurde.
Ich fühlte mich an diesem Tag so sicher und geborgen wie später nie wieder in meinem Leben.
Und an das Geräusch erinnere ich mich noch, als der Motor endlich ansprang und eine Weile zufrieden vor sich hin blubberte und brabbelte und sich schließlich zu einem aufgeregten Knattern steigerte, als wir endlich aus dem Hof und durch das schmale Tor auf den großen Marktplatz rollten, so dass uns alle Leute hören und sehen konnten, ja sehen mussten, dafür sorgte schon das Knattern der Maschine, als mein Vater Gas gab.
Aha, seht her, der Schäng macht also einen Ausflug mit seinem Jüngsten, werden sie sich gedacht haben.
Ich war so stolz. Mein Vater macht einen Ausflug mit mir.
Mit mir!
Nicht mit dem Fritz, dem Stammhalter, also meinem älteren Bruder, der sonst all die Aufmerksamkeit der Erwachsenen auf sich zog, weil er nämlich immer so wild und ungestüm war und oft Unsinn anstellte.
Sondern mit mir!
Heute, im Nachhinein, vermute ich, mein Vater hat mich vor allem deshalb mitgenommen, weil das unterwegs weniger auffiel, mit einem Kind: Wer nimmt schon einen Fünfjährigen zu einer Schmuggeltour mit?
Von der Wegstrecke nach Luxemburg habe ich nicht mehr allzu viel in Erinnerung. Ich sah ja die meiste Zeit nur den breiten Rücken meines Vaters. Ich weiß nur noch, dass die Tour ziemlich lange dauerte, es ging bergauf und bergab über schmale Landstraßen und durch enge Kurven, die Autobahn gab es damals noch nicht. Ich wusste, dass man sich als Beifahrer mit in die Kurven legen musste, dass man sich nicht dagegen sträuben durfte, dass man keine Angst davor haben musste. Das hat mein Vater mir unterwegs beigebracht. »Du machst das sehr gut«, brüllte er gegen den Fahrtwind. Da war ich sehr stolz und gab mir in der nächsten Kurve noch mehr Mühe.
Wir fuhren durch fremde Dörfer, wo die Leute mitten auf der Straße gingen, auch wenn es ein Trottewar gab, aber meistens gab es in den Dörfern gar kein Trottewar. Die Bauersfrauen und die Kinder auf der Straße blieben wie angewurzelt stehen, sobald sie das Knattern hörten, und starrten uns an, als kämen wir geradewegs vom Mond, die Kinder eher neugierig, die Frauen misstrauisch, als hätten sie noch nie ein Motorrad gesehen, und die Hunde bellten wie verrückt und jagten uns wütend hinterher, manchmal sogar bis zum Ende des Dorfes, als müssten sie uns Fremde vertreiben, einige versuchten sogar, in den Hinterreifen zu beißen, ich hatte richtig Angst vor den wütenden Hunden, dass sie meine Füße erwischen, aber dann gab mein Vater nur einmal kurz Gas und die Sache war erledigt.
Als hätte er meine Angst gespürt.
Auf der Hinfahrt und auf der Rückfahrt machten wir jeweils eine Pause. Weit weg von den Dörfern, weit weg von den fremden Menschen, auf freiem Feld, mein Vater hatte Proviant eingepackt, verstaut in einer der beiden großen Ledertaschen, die seitlich neben dem Hinterrad hingen, links und rechts. Wasser für mich und kalten Kaffee für ihn und geschmierte Brote für uns beide. »Hat die Mamm extra für uns gemacht«, sagte er und grinste dabei und wuschelte mir durch die Haare. Ich hatte dicke Locken als Kind, alle Leute wuschelten mir dauernd durch die Locken. Ich mochte das später nicht mehr, deshalb klatschte ich mir, als ich älter war, die Haare mit viel Wasser eng an den Kopf, so dass die Locken zumindest für eine Weile verschwanden.
Aber von meinem Vater ließ ich mir das in dem Moment gerne gefallen. Der durfte das.
»Wenn du mal was größer bist, so groß wie dein Bruder, dann setz ich dich vor mich auf das Motorrad und du kannst selber lenken«, sagte mein Vater.
»Ehrlich?«
»Versprochen!«
Aber dazu kam es nicht mehr.
Da saßen wir also nebeneinander auf einer Wiese in der warmen Sonne und lehnten uns an einen dicken Baum und futterten und es war wunderschön. Mein Vater und ich.
Wir haben einen Bussard gesehen.
Der kreiste hoch oben am Himmel, genau über uns. Ich hab ihn zuerst entdeckt, weil ich als Kind andauernd und ausdauernd in den Himmel geguckt hab, mir zum Beispiel abends den Mond und tagsüber die Wolken angeschaut hab. Aber heute war der Himmel blau, kein einziges Wölkchen weit und breit. Der große Vogel über mir am Himmel flog immer im Kreis, ganz gemächlich, der musste gar nicht mit den Flügeln schlagen, um hoch oben in der Luft zu bleiben.
»Was ist das für ein Vogel?«
Mein Vater folgte meinem Blick und guckte ebenfalls nach oben, in den blauen Himmel, und sagte dann: »Das ist ein Bussard. Ein Raubvogel, man sagt auch Greifvogel, so wie ein Adler oder ein Habicht oder ein Milan oder ein Falke. Der Bussard ist kleiner als ein Adler, aber größer als ein Falke.«
»Und was macht der Bussard da oben?«
»Der hat Hunger. Der sucht Beute.«
»Sind wir die Beute?«
»Nein, nein, keine Sorge.« Mein Vater lachte. »Wir sind viel zu groß für den. Musst du keine Angst haben.«
»Bin ich denn auch zu groß für den?«
Mein Vater lachte.
Das Lachen ärgerte mich.
Deshalb entgegnete ich empört: »Aber ich bin doch noch klein!«
»Du bist aber schon viel zu groß für den. Außerdem würde ich dich ja beschützen.« Mein Vater zwinkerte mir zu.
»Und wer ist die Beute?«
»Vielleicht sucht er eine Feldmaus. Greifvögel können alles gut sehen, von da oben.«
»Sogar eine kleine Maus?«
»Sogar eine Maus!«
Dann fuhren wir weiter.
Eine richtige Grenze mit Schlagbaum und Zöllnern in Uniform habe ich nicht in Erinnerung. Aber das ist ja auch kein Wunder. Denn sowohl auf dem Hinweg als auch auf dem Rückweg fuhren wir in der Nähe unseres Ziels jeweils ein gutes Stück mitten durch einen Wald. »Das hier ist die grüne Grenze«, sagte mein Vater und lachte. Ich hatte damals keine Ahnung, was eine grüne Grenze ist. Das war ganz schön holprig auf den Waldwegen und ich bin auf und ab gehüpft auf dem harten Notsitz.
In Luxemburg fuhren wir in eine Stadt. Vielleicht war es auch nur ein großes Dorf. Aber es gab einen schönen Marktplatz mit einem großen Brunnen, vielleicht war es also doch eine kleine Stadt. In einer der vom Marktplatz abzweigenden Gassen stoppten wir vor einem der Fachwerkhäuser.
Ein Mann trat aus der Tür des Hauses und nickte meinem Vater zu. Der Mann war älter als mein Vater. Er trug eine Zimmermannshose und eine Arbeitermütze, so eine, wie sie auch die Steinhauer bei uns zu Hause trugen. Außerdem hatte er einen Schnurrbart im Gesicht, der war so riesig und struppig, dass man seine Lippen gar nicht mehr sehen konnte. Mein Vater stellte den Motor ab, schob die Brille in die Stirn, bockte die Maschine auf, hob mich vom Sitz und sagte, er müsse jetzt mal da rein in das Haus, mit dem Mann, aber ohne mich, es dauere auch gar nicht lange, ich solle mir solange ein bisschen die Beine vertreten, aber auf keinen Fall zu weit weggehen.
Ich nickte.
Ich hatte keine Angst.
Höchstens ein bisschen.
Ich ging überhaupt nicht weg, sondern blieb die ganze Zeit wie angewurzelt neben der NSU stehen.
Sicherheitshalber.
Eine Frau kam vorbei und blieb vor mir stehen, die war sehr nett und lachte und wuschelte mir durch die Haare, na gut, was soll ich sagen, das war ich ja gewöhnt. Aber ich verstand kein Wort von dem, was die Frau zu mir sagte, in der fremden Sprache. Sie hatte schöne Zähne. Ganz glatt und gerade und weiß. Viele Erwachsene damals hatten längst nicht mehr alle Zähne im Mund. Und schöne Haare hatte sie. Zum Glück wartete die Frau gar nicht auf eine Antwort von mir, sondern ging gleich weiter. Sie drehte sich aber noch einmal um, nach ein paar Schritten, und winkte mir zu. Ich winkte zurück, damit sie sich freute.
Sonst passierte nichts.
Langsam machte ich mir Sorgen.
Nach ungefähr einer halben Stunde kam mein Vater wieder aus dem Haus. Ohne den fremden Mann mit dem Schnäuzer. »Da bin ich wieder, mein braver Junge«, sagte er und verstaute allerlei Sachen, die in braunes Packpapier eingewickelt waren, in den geräumigen Seitentaschen der NSU.
»Hat sich gelohnt diesmal.«
Er grinste breit und zufrieden. Er war bester Laune.
»Jetzt geht es aber schleunigst wieder nach Hause.«
Das war’s.
Ich habe keine weitere Erinnerung an meinen Vater.
Nichts sonst ist von ihm geblieben.
Nicht mal das Motorrad.
Ich war fünf.
Nur ein paar Wochen später wurde mein Vater ermordet.

 

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