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Leseprobe »Der Stuhl«

 

Vorwort

Wie glücklich müssten wir eigentlich sein! Fast siebzig Jahre leben wir in einer Demokratie. Für die Diktatur des Dritten Reiches haben wir wohl büßen müssen: materiell und ideell. Aber mehr beiläufig. Unsere Eltern und Großeltern hatten die schwerste Last zu tragen. Vor allem den Weltkrieg und die Nachkriegszeit. Von Begeisterung war da nichts mehr zu spüren. Von Mühen, Sorgen und Verletzungen war der Alltag geprägt.
Nicht nur ein paar Verrückte, eine ganze Gesellschaft wurde mehr oder weniger zum Komplizen eines verbrecherischen Systems. Die Väter wurden hart bestraft, nicht zuletzt mit Verachtung. Das kann einen wütend machen. Denn wir haben ja erlebt, wie die Väter mühsam die Existenzgrundlage für die meist großen Familien herbeibrachten. Kriminelle waren unsere Väter nicht. Aber nicht anders erging es ihnen, als sie »gesäubert« wurden. Eindeutige Demokraten hat man damit nicht herangezogen, auch wenn das das Ziel der Sieger war. Dass die Entnazifizierung auch die Familien traf, ist ein trauriges Kapitel unserer Geschichte. Frauen und Kinder mussten für etwas büßen, das sie nicht zu verantworten hatten. Diesem Thema geht »Der Stuhl« nach. Man könnte aus der Geschichte lernen. Tut es aber nicht. Eigentlich schade!

 

 

Der Stuhl

Bei der Auflösung einer Wohnung in Moselweiß stellte sich heraus, dass niemand etwas von der Einrichtung haben wollte. Nicht einmal karitative Organisationen wollten Stücke des meist handgearbeiteten Mobiliars. Dabei hätte man mit der kompletten Zimmereinrichtung eine ganze Wohnung ausstatten können. Also wanderte alles in einen Container, dessen Abtransport noch einen höheren Geldbetrag verschlang.
Bei der Aktion fiel ein Stuhl auf, dessen Entsorgung unbedingt vermieden werden sollte. Man brauchte nichts weiter zu tun, als den Stuhl zu holen und im Kofferraum zu verstauen. Dieser Stuhl war aus verschiedenen Gründen wichtig. Im Rheinland kennt man die Firma Thonet aus Boppard. Dieser Stuhl wurde als ein solcher »Thonet« identifiziert. Zwar war er nicht der legendäre Stuhl Nr. 14, der in alle Welt exportiert wurde und als Caféhaus-Stuhl berühmt wurde. Das sieht man gleich. Vor allem die Lehne ist viel rustikaler als bei den bekannten Modellen. Aber das Unterteil zeigt alle Merkmale von Bugholzstühlen: Der Sitzring ist gebogen und eingenutet für den Sitz. Statt eines stabilisierenden Fußreifens werden die ausgestellten Stuhlbeine von vier rund gebogenen Teilstücken stabilisiert. Ursprünglich bestand die Sitzfläche aus Sperrholz, das aber schon bei Inbesitznahme des Stuhles defekt war und irgendwann erneuert werden musste, sofern man den Stuhl benutzen wollte. Ein zweiter Grund, diesen angejahrten und leicht defekten Stuhl in meinen Besitz zu bringen, war das Sitzverhalten des vorherigen Eigentümers: Seit Jahrzehnten hatte er gewissermaßen diesen Stuhl »besetzt«. Niemand außer ihm hatte das Recht, diesen Stuhl zu benutzen. Besuchte man ihn, so konnte man ihn grundsätzlich hinter dem Tisch auf diesem Stuhl sitzen sehen, Kreuzworträtsel lösend, die »Bild-Zeitung« lesend oder sich dem Fernsehen zuwendend, dessen Sportschauen damals dürftig, schwarzweiß und in immer währender Konkurrenz mit populären Jux-Sendungen waren. Diese aber waren während der Sportsendungen für den Rest der Familie gesperrt. Immerhin ein Fortschritt, den Fernseher in der eigenen Wohnung zu haben und nicht auf den Nachbarn angewiesen zu sein, bei dem man sich in den Anfangsjahren des Fernsehens selbst einladen musste, um Sport, beliebte Krimis wie »Stahlnetz«, »Frankenfeld«, »Einer wird gewinnen« und anderen Klamauk fernsehen zu können. Verwunderlich ist ferner, dass ein solcher Stuhl, Thonet A 383, Küchenstuhl aus den 30er Jahren, relativ hart und unnachgiebig, auch für das Lese-, Seh- und Ess-Vergnügen verwendet wurde. Geschätzte Gebrauchszeit: über vierzig Jahre durch ein und denselben Besitzer. »Besitzer« war echt verdient. Es war nie die Rede von diesem Stuhl, also weiß man heute nicht, wann er gekauft oder geschenkt wurde, was er gekostet hat, was mit ihm alles passiert ist, wo er nach der Evakuierung nach Thüringen hingekommen war, wer ihn sich »organisiert« hatte und später wieder herausgeben musste. All das liegt im Dunkel. Macht auch nichts. Es wäre denn, wenn einen die Neugier plagen sollte, welcher Hintern die Sitzplatte abgewetzt hat.

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