Leseprobe »Angekirrt«
Ein leises Knacken im Unterholz holte ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn aufhorchen. Aufmerksam lauschend atmete er die würzige Waldluft tief ein. Er versuchte zu riechen, was um ihn herum geschah. Am späten Nachmittag hatte es noch heftig geregnet und nun stieg dampfend der Duft von nassem Holz und Moos von der noch warmen Erde auf. Denn gleich nach dem ergiebigen Regenguss hatte sich die Junisonne wieder durchgesetzt für den Rest vom Tag und es war ein schwülwarmer Abend geworden. Doch noch ein anderer Geruch war es, der in der Luft lag. Volker schnupperte in die Richtung, aus der er ihn wahrnahm. Es war ein leicht modriger Geruch. Er schmunzelte und wusste sofort, wer nicht weit von ihm das Laub zum Rascheln brachte. Dann hörte er wieder ein Knacken, diesmal ganz dicht. Meister Reinecke schnürte in unmittelbarer Nähe durchs Unterholz.
Trotz der frühsommerlichen Schwüle war die Luft hier im Wald sehr viel frischer als unten im Dorf. Eine schwache Brise brachte die Wipfel der Bäume in Bewegung, sie rauschten sachte, während sie sich sanft hin und her wiegten. Herrlich. Wohlige Schauern ergriffen ihn. Einmal mehr spürte er ganz bewusst, wie wohl er sich hier fühlte. In »seinem Wald«, wie Ina immer zu sagen pflegte. Bei dem Gedanken an sie lächelte er. Unwillkürlich entfuhr ihm ein leiser Seufzer. Er wünschte, Ina hätte ihn heute Abend begleitet. Auch ihr hätten der Wald und die natürliche Ruhe gefallen. Es wäre ein schöner Abschluss ihres Sommerurlaubs gewesen. Denn schon am Montag musste er wieder in die Firma. Die Betriebsferien waren zu Ende und er war als verantwortlicher Leiter der technischen Abteilung einer großen Maschinenbaufirma unentbehrlich, wenn die Produktion wieder anlief.
»Schade«, sagte er zu sich selbst und setzte seinen Rundgang fort. Überall lagen heruntergefallene Äste auf dem Weg. Überbleibsel des heftigen Gewitters vor wenigen Stunden. Ein kleines Stück noch ging es bergan. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Lodenmantel störte, weil er viel zu warm hielt. Er hatte ihn angezogen, um nicht von einem weiteren Regenschauer durchnässt zu werden. Er stieg den als »Saarweinwanderweg« ausgeschilderten Weg hinauf, was zusätzlich schweißtreibend war. Doch schließlich hatte er eine erste Anhöhe erreicht. Dicht neben ihm flatterte eine Amsel aufgescheucht hoch und schimpfte lautstark. Wieder musste er lächeln. Denn gegen all diese Geräusche stand rings um ihn eine beeindruckende Ruhe. Natürlich. Stimmungsvoll. Mächtig.
Ein Blick zum Himmel zeigte, dass es eine gute Nacht werden würde. Eine fast sternenklare Vollmondnacht bei milden Temperaturen. Nur ein paar kleine Schleierwolken zogen durch. Das heftige Gewitter vom Nachmittag war in diesem Augenblick kaum noch vorstellbar. Fast unwirklich, wäre da nicht der feuchte, dampfende Boden. Wie weiße Watte hoben sich die wenigen Wolkenfetzen in wunderschönem Kontrast gegen das Abendblau und die dunklen Wipfel der Bäume ab. Bessere Voraussetzungen konnte sich ein Jäger kaum wünschen. Dennoch war er nicht sicher, ob er sich gleich am ersten Abend bereits ansetzen sollte. Das würde er später entscheiden. Zunächst einmal wollte er sich im kleinen Rundgang einen Überblick über das Revier verschaffen.
Ein kleines Stück hinter der Schutzhütte bog er also rechts ab Richtung dem Nachbarort Wawern und warf einen kurzen Blick auf die Wildäcker, die gegenüber angelegt waren. Der Schwarzhafer stand gut im Saft und würde bald schon seine Ähren ausbilden. Der Raps war verblüht und der rote Klee wurde noch zu dieser späten Stunde von ein paar fleißigen Honigbienen umflogen. Zufrieden ging er weiter und verließ zielstrebig linker Hand den Weg, um querfeldein mitten im Bestand seine Richtung fortzusetzen. Sicher schritt er durch dicht gewachsenes Gestrüpp weiter. Sein Ziel war der neueste Hochsitz im Revier: Der sogenannte Abi 2010. Jeder Sitz hatte einen Namen, meist den Beständen angepasst, in denen er stand. Oder auch der Gegend. Der Abi 2010 hatte seinen Namen von einer Gruppe Jungjäger bekommen, die im Frühjahr 2010 ihre Jagdscheinprüfung bestanden und anschließend alle zusammen diesen Hochsitz gebaut und aufgestellt hatten.