15. Kapitel
In der Natur lernten wir Kinder mit den Jahreszeiten zu leben. Jede Zeit brachte besondere Feste und besondere Spiele mit sich. Im Frühling freuten wir uns auf die Ostereier, dann war »Eier-Ditschen« angesagt: Jeder von zwei Spielern nahm ein gekochtes Ei in die Hand und schlug sie mit dem spitzen Ende gegeneinander. Wessen Ei dabei zerbrach, der musste es seinem Gegner zum Verzehr überlassen. Eines Tages hat uns Matzarems Edi, der jüngste Sohn des Schreinermeisters, mit einem angemalten Gips-Ei übers Ohr gehauen. Ehe es einer von uns bemerkte, hatte er bereits schon vier gegnerische Eier erobert und aufgefuttert.
Die Nacht zum 1. Mai wird auch im Hunsrück als Hexennacht gefeiert. Kinder und Jugendliche ab zwölf waren dann nachts unterwegs, um mit allerlei Schabernack die Gelassenheit der Bauern zu testen. Wenn unsere Streiche zu dreist wurden, wenn die Grenze zum groben Unfug überschritten war, herrschte am nächsten Tag dicke Luft im Dorf, und der Bürgermeister war bemüht, den Hergang aufzuklären und die Verantwortlichen zu ermitteln. Einmal hatten die Kerle im Preel etwa fünfzig Schweine aus zehn verschiedenen Ställen zusammengetrieben. Anschließend stritten sich die Besitzer tagelang, »will Sou wemm woar« (welche Sau wem gehörte). Der Pastor schlichtete den Streit schließlich, indem er die Tiere segnete und mit Gottes Hilfe zuordnete. Ich kann mich nicht erinnern, dass das Dorf zur Regelung interner Konflikte die Polizei oder die Justiz oder sonst eine externe Instanz hätte bemühen müssen. Sogenannte »kriminelle Energie« wurde im Beichtstuhl vom Pfarrer neutralisiert. Krankheiten behandelte die Schwester Rosina. Die »Verrückten« wurden von den Nachbarn in Schach gehalten. Nachbarschaftliche Reibereien wurden sonntags nach der Messe vor der Kirche bei Aussprachen beigelegt. Und wenn die Kinder allzu frech waren, stellten der Scheffe oder ein anderer Erwachsener die Ordnung durch eine Tracht Prügel wieder her. Mir ist nicht in Erinnerung, dass je einer im Dorf gegen einen anderen Anzeige erstattet hätte. Konflikte wurden dort gelöst, wo sie auftraten: unter den Beteiligten. Das Einschalten der Justiz hätte man als Kapitulation verstanden. Der Bürgermeister Pinger: »Mir brauche lo käne Schandarm!«
Ein schöner Brauch am »Tag der Arbeit« war, dass die Autos mit frisch belaubten Buchen- und Birkenzweigen geschmückt wurden, die vorne hinter die Stoßstangen geklemmt wurden. So wurde das Fest zum 1. Mai zum Tag der Reiselustigen und Übermütigen. Für uns Kinder, die wir für schlimmere Streiche noch zu klein waren, war es der Tag der Maikäfer, von denen es damals noch sehr viele gab. Dann versammelten wir uns gegen Abend unter einer Kastanie, verbrannten einen Pappkarton, dass das Feuer das Blattwerk beschien, und innerhalb weniger Minuten schwirrten die Maikäfer herbei. Wir fingen sie und steckten sie einzeln in eine Streichholzschachtel, zusammen mit einem Blatt von der Kastanie. Zuweilen trug ich ein halbes Dutzend dieser kleinen Maikäfergefängnisse in der Hosentasche herum, um sie nach und nach an Freunde zu verschenken.
...
In den frühen fünfziger Jahren war mein Vater einmal zu einer Treibjagd nach Beulich eingeladen. Der kleine Ort liegt jenseits des Baybachtales. Von Sabershausen waren das etwa acht Kilometer zu Fuß. Er packte Patronentasche und Verpflegung ein, vergaß den Flachmann nicht und machte sich, Drilling und Rucksack geschultert, in aller Früh auf den Weg. Nach drei Stunden Fußmarsch durch hohen Schnee lag das Baybachtal hinter ihm, und er erreichte die Jagdgesellschaft. Bei der Jagd hatte er Erfolg, denn er erlegte ein Wildschwein. Am Abend blieb er zum Schüsseltreiben, machte sich aber schon bald auf den langen Heimweg. Das Kleine Jägerrecht steckte im Rucksack, es gehört traditionell dem Schützen. Als er nach zwei Stunden endlich aus dem verschneiten Baybachtal bei Dorweiler auf freies Gelände trat, sah er, dass bei der Familie Müller auf der Weitscheid noch Licht brannte. Es war weit nach Mitternacht. Den Müller Jupp kannte der Förster, er war ein Nerother der ersten Stunde, der den Krieg über in Südafrika gewesen und der erst vor ein paar Jahren zu seiner Familie nach Dorweiler zurückgekehrt war. Vater klopfte an das von Eisblumen bewachsene Fenster und der Jupp öffnete ihm. Die Männer tranken einen Schnaps und dann wurde die Frau Müller aus dem Bett geholt. Der Förster hatte nämlich die Leber ausgepackt, und einen solchen Leckerbissen wollte sich seinerzeit niemand entgehen lassen. So stand die Hanna mitten in der Nacht in der Küche und legte die in Mehl gewälzte Wildschweinleber in die Zwiebelpfanne. Man aß, man redete, man prostete sich zu. Gegen fünf Uhr früh verließ der Förster, von Leber und Bauernbrot gesättigt und vom Trester erwärmt, das Haus. Eine Stunde später war er daheim, stochte als erstes den Küchenherd und kuschelte sich dann zu seiner Frau ins warme Bett.
Manchmal brachte der Vater, wenn er von einer Treibjagd heimkehrte, einige seiner belegten Brote wieder mit nach Hause. Dadurch, dass er sie den ganzen Tag im Rucksack durch Wald und Feld getragen hatte, erhielten sie einen beonderen Wert: Als »Hasenbrote« wurden sie uns Kindern als besondere Deliktesse angepriesen, die wir uns am nächsten Tag zum Frühstück schmecken ließen.