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Ausschnitt aus »Der Doktor«

 


Götz war gerade draußen unterwegs, als sich die Nachricht verbreitete, die amerikanischen Panzer näherten sich rasch von Westen her. Die Panzersperre am Ortseingang sei schon geschlossen worden, und jeder Soldat, der sich weigere, sie zu verteidigen, werde erschossen. Der Bub rannte sofort nach Hause.
»Wir müssen abhauen«, keuchte der Doktor, dem er im Hof begegnete, »wo bleiben denn die LKWs, verdammt?«
Götz stürmte hinauf auf den Speicher, stieg auf eine Kiste und klappte das Dachfenster auf, von wo aus die Straße, die vom Nachbardorf durch ein Kiefernwäldchen heranführte, an einer Stelle zu beobachten war. Er wartete eine Weile, konnte jedoch keine Panzer erkennen. Unten fuhren jetzt zwei Lastwagen vor, also verließ er seinen Spähposten und ging hinunter in den Hof. Die Gehfähigen kamen nacheinander aus dem Schulsaal und kletterten unter die Deckplanen, die Fahrer schleppten die Schwerverwundeten auf Pritschen herbei. Nachdem die Insassen des vorderen LKWs mit den Händen signalisiert hatten, dass es darin keinen Platz mehr gäbe, fuhr dieser los. Die restlichen Soldaten bestiegen den zweiten Wagen. Götz sah Zigaretten unter der Plane aufglimmen.
»Der Doktor fehlt noch!«, rief einer.
»Oben im Saal ist er nicht«, wusste ein anderer, »vielleicht ist er schon mit einem PKW los, der Hosenschisser. Abfahren! Mann, gib Gas!«
Götz zog es wieder in die Scheune. Da von der Gemeinde sich dort nie jemand blicken ließ und auch die Eltern den düsteren, spinnwebigen Ort mieden, war dies sein Reich. Hier herrschte er, und seine scheuen Untertanen waren die Mäuse, deren raschelnde Bewegungen im trockenen Heu oder Stroh ihre Aufregung verriet, sobald er das knarrende Tor öffnete. Auch seine Freunde ordneten sich ihm unter, wenn er ihnen erlaubte mitzukommen. Durch das kleeblattförmige Fenster im Giebel zwängte sich die Sonne und zauberte schräg durch den Raum einen Lichtbalken, worin winzige Staubteilchen tanzten. Er verharrte eine Weile und schaute. Auf einmal hörte er ein Geräusch, das seine Mäuse nicht verursacht haben konnten. Den Atem anhaltend, lauschte er wie bei den Versteckspielen, dann turnte er über die Schulbänke, stieg die Holzleiter hoch und watete durch das Heu in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen zu sein schien.
»Nit erschrecken! –«
Der Doktor. Er hockte im hintersten Winkel in einer Kuhle, neben sich den Medikamentenkoffer und blickte Götz mit ängstlich aufgerissenen Augen an.
»Dös bleibt unser Geheimnis, dass i hier bin«, flüsterte er beschwörend. Er zitterte, Schweiß saß ihm im Nacken.
Ein deutscher Held ist das nicht, dachte der Junge, der hat wirklich Schiss.
»Du wirst mi doch net verraten?«, kam es stoßweise aus dem wässrigen Mund.
»Nein«, sagte Götz.
Der Doktor tupfte sich mit seinem Taschentuch den Schweiß ab: »Aber wos anderes. I werd irgendwann Hunger kriegen. Könnst mir wos bringen, bevor die Nacht kimmt?«
»Wir haben doch selbst kaum was«, sagte Götz.
»A Kartoffel un a Stickel Brot. Un oan Apfel oder zwoa, im Keller habst doch liegen.«
Götz hob den Zeigefinger vor den Mund. Durch die hintere Wand war ein helles, gleichförmiges Quietschen zu hören, und die Scheune wurde von einem leichten Vibrieren erfasst.
Der Doktor zuckte zusammen: »Jesus Maria, die Banzer!«
Götz stapfte durch das Heu zurück und rannte nach draußen. Die Mutter stand an der Haustür und wollte ihn ins Haus winken.
»Die anderen Kinder«, rief er, »laufen auch runter zur Straße!«
Drei Buben – Mädchen waren weit und breit keine zu sehen – standen bereits an der Ecke neben der Löschsandkiste, Einnehmers Horst, Willi, der Metzgersohn und Werner, ein schon etwas älterer Bauernjunge, und alle blickten sie gespannt nach rechts, von wo der erste Panzer jeden Moment um die Ecke biegen musste. Götz fielen die weißen Tücher, zumeist Bettlaken, auf, die die Leute aus ihren Fenstern gehängt hatten. Als er mit fragendem Blick darauf zeigte, sagte Werner: »Das bedeutet, sie ergeben sich.«
Vielleicht, dachte Götz, war die Panzersperre nicht geschlossen worden oder die Tanks hatten sie durchbrochen. Doch das wäre bestimmt zu hören gewesen, denn es war so eigenartig still geworden, die üblichen Geräusche waren wie abgeschaltet, selbst Hühner und Gänse hielten ihr Gegacker und Geschrei zurück, weil dieses unbekannte, fremde Geräusch immer stärker anschwellend ins Dorf kroch: das Sirren und Malmen der herannahenden Panzer.
Jetzt, endlich, bog der erste mit vorgestrecktem Rüssel um die Ecke. Wie groß er war und welch gewaltigen Lärm seine Ketten auf dem Kopfsteinpflaster verursachte, vor allem, als er an den Buben vorbeifuhr. Dem zweiten Panzer folgte ein Mannschaftswagen mit aufgepflanztem Maschinengewehr, das, bedient von einem GI in grüngelber Uniform und mit Helm, die umliegenden Häuser abtastete. Aus der Luke des nächsten Panzers ragte ein schwarzer Kopf.
»Ein Neger«, sagte Willi, und alle glotzten, in ihren Augen eine Mischung aus Angst, Neugierde und Bewunderung. Keiner von ihnen hatte jemals einen schwarzen Menschen zu Gesicht bekommen. Götz nur auf einem Foto in dem Bildband seiner Eltern mit dem Titel »Rassen«.
Der Panzer schwenkte sein Geschützrohr über ihre Köpfe hinweg Richtung Schulhaus, während der Schwarze den Buben mit den Fingern einer Hand quasi beschwichtigend zuwinkte.
»Mensch Meier, hat der weiße Augäpfel!«, staunte Einnehmers Horst.
Und schon rollte der nächste Panzer heran, aus dem ein hellhäutiger Soldat schaute. Der winkte nicht. Dahinter kam ein Jeep mit vier GIs, die Gewehre schussbereit, dann der nächste Panzer und wieder einer. Das metallische Geratter war irrsinnig laut, aber für Götz irgendwie schön, er spürte es als kribbelndes Brausen im ganzen Körper. Lärm wollen die Erwachsenen immer verbieten oder abschalten, dachte er, aber gegen den hier sind sie machtlos. Er wandte den Kopf dem Lehrerhaus zu und sah seine Mutter hinter dem etwas zur Seite geschobenen Vorhang stehen, eine Hand vor dem Mund.
»Ergeben wir uns nicht?«, sagte er, als er sie später im Wohnzimmer antraf und musste daran denken, wie er von ihr angeleitet worden war, auf einer Landkarte die Frontlinie der in Russland vorrückenden deutschen Wehrmacht mit bunten Stecknadeln zu markieren, und dass sie bis vor kurzem immer wieder gesagt hatte, wenn Hitler seine Wunderwaffen einsetze, würden wir doch noch siegen.
»Wieso fragst du das, Götz?«
»Weil wir kein weißes Tuch hinausgehängt haben wie fast alle.«
»Bei uns oben hängt doch noch eine Rotkreuzfahne.«
»Die tu ich lieber weg, sonst kommen die Soldaten und fangen an herumzusuchen.«
Der Vater trat in die Stube: »Wann gibt’s denn was zu essen?«
»Dass du jetzt daran denken kannst«, sagte die Mutter.
»Essen muss man auch an so einem Tag.«
Später gab es Pellkartoffeln mit Sauermilch. Bevor sie sich niedersetzten, griff sich Götz, ohne dass es auffiel, zwei Kartoffeln aus dem Eisentopf und ließ sie in seiner Hosentasche verschwinden.
»Diese schrecklichen Panzer«, jammerte seine Mutter, »merkt ihr, wie die Bestecke zittern? Ich spüre es im Kopf und an den Zähnen. Und draußen die gelben Blüten der Forsythien, als ob nichts wäre.«
»Ich habe einen Schwarzen gesehen«, sagte Götz, »einen Neger und er hat uns gewinkt.«
»So weit ist es mit uns gekommen«, stöhnte sie auf. »Wie wird es weitergehen?«
Der Vater pellte sich Kartoffeln und schwieg.
»Wo jetzt die Verwundeten sind?«, überlegte sie.
»Die Panzer sind verdammt schnell«, sagte Götz, »aber sie werden die LKWs nicht einholen.«
»Hoffentlich!« Sie zeigte zur Decke. »Sieht schlimm aus da oben, und dieser Mief! Hab mal die Fenster sperrangelweit aufgemacht. Ganz hinten an der Wand steht noch eine Pritschenreihe voll mit Decken. Haben sie nicht mehr mitgenommen bei ihrer überstürzten Flucht.«
»Mich kriegt keiner da rauf«, brummte der Vater mit vollem Mund, »kann mir den Saustall nicht antun.«
»Die Gemeinde wird sicherlich den Saal wieder in Ordnung bringen«, sagte die Mutter, »aber an Schule ist vorläufig nicht zu denken. Vielleicht wird der Raum von den Amerikanern belegt, das könnte passieren. Hoffen wir mal, dass uns das erspart bleibt.«
Der Bub hatte nicht viel essen können und rückte jetzt unruhig auf seinem Stuhl herum.
»Ich muss mal dringend«, sagte er schließlich, die heißen Kartoffeln in seiner Hose peinigten ihn, brannten auf seinem Oberschenkel. Er rannte zu einem der Klos im Hof, holte sie heraus, wickelte sie in sein Taschentuch und steckte sie zurück in die rechte Hosentasche, in die linke stopfte er zwei kühle Äpfel aus dem Vorratsraum.
»Aber nicht wieder auf den Balken herumturnen«, rief ihm seine Mutter nach, als sie ihn durch das offene Küchenfenster auf die Scheune zugehen sah.
Der Doktor war bis zum Hals im Heu versunken. Erst als er den Jungen wahrnahm, verschaffte er sich mehr Luft: »Und?«
»Was und?«
»Sie san do. Dös Banzergedröhn bresst mir’s Mark ausen Knochen, aber nu is der Scheißkrieg vorbei.«
»Fast«, sagte Götz, griff in seine Hosentasche und wickelte die Kartoffeln aus. »Und zwei Äpfel hab ich auch noch.«
»A Zigaretten müsst i bald mal rauchen. Aber zu gefährlich hier drinnen.«
»Am besten auf dem Pissoir«, schlug Götz vor, »da kommen meine Eltern nie hin. Aber erst, wenn es dunkel ist.«
»Hör mal, mei Liewer, i hätt noch e große Bitt. Auf eierm Speicher obn hats doch gewiss noch olde Kleider vom Vadder, a Jackett un a Bux. Könnst mir do was besorgen? I mecht net noch in Gfangenschaft kumme. I mecht ham, mein Buam wieder sehn, dös verstehst doch. Er is jetzt fünf. Un wie alt bicht du?«
»Zehn, am vierten Juni werde ich elf.«
»Also schaust mal! Un dass die Eltern nix merken.«
Der Junge versprach nichts. Weshalb hat sich der Doktor in der Scheune versteckt, fragte er sich auf dem Weg zur Straße. Wovor hat er Angst? Könnte er wirklich in Gefangenschaft kommen, er ist schließlich Sanitätsarzt. Er hätte doch auf einen der Lastwagen steigen können. Wahrscheinlich befürchtete er, trotz Rotkreuzkennzeichen könnten sie von amerikanischen Flugzeugen beschossen oder bombardiert werden. Götz wusste es nicht. Jedenfalls, dachte er, hat der Doktor sich aus Angst versteckt. Angst hatte er ja schon zuvor gezeigt, immer wenn Alarm ertönte.
Unten rollten noch immer Fahrzeugkolonnen vorbei. Götz musste unbedingt wieder hin, gucken. Auch sein Vater stand jetzt da im Gespräch mit anderen Männern. Die Buben kauten alle, ohne zu schlucken. Triumphierend blickten sie dem ahnungslosen Ankömmling entgegen.
»Kaugummi vun de Ameriganer«, sagte Willi, »da!«
Götz betrachtete das dünne Päckchen. Chewinggum stand darauf.
»Guck, ich zeich ders, du muscht des äfach uffklabbe un des Blättche rausziehe. Un jetzt e bissje im Maul wäch werre losse un dann kaue, immer kaue.«
Götz befolgte die Anweisung. Was allein schon für ein wunderbarer Duft!, staunte er.
»Klasse, was?«, sagte Einnehmers Horst.
Die GIs auf den Fahrzeugen kauten, die Buben kauten. Das war das erste Gemeinsame.
Götz musste wieder an den Doktor im Heu denken. Was sollte er seinen Freunden sagen, wenn sie wieder einmal den Wunsch äußerten, mit ihm in der Scheune Verstecken zu spielen? Er könnte vielleicht sagen, überlegte er, die Gemeinde habe seine Familie gebeten, die Scheune nicht zu betreten. Eine Begründung dafür fiel ihm allerdings nicht ein. Diese Notlüge wäre ohnehin nicht besonders klug, denn die Scheune gehörte ja der Gemeinde, und seine Eltern hatten sowieso keinen Grund hineinzugehen.

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