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»Fuchsjagd in Mons Tabor« Ingeborg Schewior

 

1

Endlich sah ich sie wieder, meine Heimatstadt.
Die aufgehende Sonne schien auf die Stadtmauer, die sich hoch oben auf dem Bergsporn entlang zog. Dahinter waren die steilen Giebel und die mit Stroh oder Schindeln gedeckten Dächer der Häuser aufgereiht, überragt von den beiden hohen Kirchtürmen der Pfarrkirche St. Peter, den aufstrebenden Türmen der Stadttore und den Türmchen auf der Mauer. Am mächtigsten reckte sich der gerundete Bergfried in den Himmel, der die Burg auf dem Felsen beherrschte.
Ich war glücklich, alles wieder vor mir zu sehen, und auch, dass mein Städtchen nach dem schweren Stadtbrand Anno 1491 so vortrefflich wiederaufgebaut worden war. Nun kehrte ich zurück, wenn auch nur für kurze Zeit, und konnte endlich meinen beiden Begleitern all das zeigen, was ich ihnen in Erfurt schon ausführlich geschildert hatte.
Es war noch früh am Morgen. Wir waren in der Dunkelheit los geritten und hielten mit unseren Pferden auf der Limburger Straße oberhalb des Gelbachs. Vor uns lag das Gebück, das die gesamte Stadt umgab. Meine beiden Begleiter hatten nicht recht verstanden, warum ich so früh aus unserem Nachtquartier in Limburg aufbrechen wollte. Aber ich konnte einfach nicht mehr abwarten, und es drängte mich, die kurzen Ferien, die uns die Alma Mater Erffordensis über die Osterzeit gewährt hatte, vom ersten bis zum letzten Tag auszukosten. Großzügig hatte uns der Rektor der Artistenfakultät, wie die philosophische Fakultät genannt wurde, noch zwei Tage mehr gewährt, weil er wusste, dass wir eine weite Reise vor uns hatten. Wir waren ihm alle drei als gute und arbeitsame Studenten bekannt, was ihm diese Entscheidung sicherlich erleichtert hatte. Auch der Dekan der Georgenburse, in der wir lebten und arbeiteten, war uns entgegengekommen, und so hatten wir uns gemeinsam auf den Weg gemacht.
Das heißt, zu Beginn unserer Reise waren wir nur zu zweit gewesen. Mein Freund Dietrich war auf meine Bitte hin von meinen Eltern eingeladen worden, die Ferientage bei uns zu verbringen. Vor drei Tagen waren wir zusammen mit einem Warenzug Erfurter Kaufleute, die nach Köln reisen wollten, aufgebrochen. Doch kurze Zeit nachdem wir die Mauern der Stadt verlassen hatten, erschallte hinter uns lautes Rufen. Eine Stimme schrie: »Halt, wartet auf mich, nehmt mich mit!« Als wir uns umsahen, erblickten wir Simon, der auf einem Pferd hinter uns herstürmte. Seine langen Haare flatterten im Wind und sein nur lose auf dem Rücken des Pferdes befestigtes Gepäck hüpfte bei dem rasenden Lauf auf und ab und drohte herab zu fallen. Bei uns angekommen, keuchte er: »Ich darf euch begleiten! Mein Oheim Walter von Berneck ist für ein paar Wochen auf eurer Burg Montabaur, Georg. Ich will ihn mit einem Besuch beglücken, und wenn es euch recht ist, reise ich mit.«
Ich wusste nicht, was ich dagegen einwenden sollte, obwohl ich ihn nicht so gut kannte wie meinen Freund Dietrich. Er war zwar immer freundlich und gesprächig, aber irgendetwas störte mich an ihm. Genau konnte ich nicht sagen, was es war. Vielleicht lag es daran, dass er so geschwätzig war, häufig unsere Nähe suchte und sich in unsere Gespräche mischte. Weil aber die Kaufleute nichts gegen einen weiteren Mitreisenden einzuwenden hatten und sogar froh waren, dass sie bei den unsicheren Zeiten einen zusätzlichen Begleiter ihres Warenzuges gewannen, stimmten wir natürlich zu. Bisher hatte er sich auch nicht als unangenehm erwiesen. Er verhielt sich den Kaufleuten gegenüber zuvorkommend, und uns verkürzte er mit heiteren Späßen die Reisezeit.
Jetzt reckte er beide Arme in die Luft und rief: »Ahh, was für ein schönes Städtchen. Jetzt verstehe ich, warum Georg uns immerfort davon erzählt hat!« Er sah mich vergnügt an.
»Ja, in der Tat, vortrefflich!« Das wiederum war typisch Dietrich. Er machte nicht viele Worte, aber was er sagte, war immer gut durchdacht und genau beobachtet.
Ich freute mich über das Lob der Beiden. Ein wenig hatte ich mich vor ihrem Urteil über meine Heimat gefürchtet, waren sie doch die große, berühmte Stadt Erfurt gewöhnt mit ihren vielen Kirchen, hohen Häusern und mannigfaltigen Universitätsbauten. Sie waren beide von Adel und geübt in ritterlichen Fertigkeiten.
So wie sie, studierten viele Rittersöhne in Erfurt. Erst seit einigen Jahrzehnten traten nach und nach auch Bürgersöhne wie ich ein Studium an der Alma Mater an. Mit beiden war ich viel zusammen, beim Lernen und in der kargen Freizeit. Das kam, weil wir in der gleichen Burse wohnten und teilweise die gleichen Fächer belegt hatten.
Simons Eltern wohnten in der Nähe von Metz. Sein Oheim aber, bei dem er mehrere Jahre als Knappe diente, hatte seine Burg in der Nähe von Coblenz. Simon war sehr klug und uns in seinem Wissensstand voraus, aber er war gefällig und hilfsbereit. Er stand uns ohne viel Aufhebens zur Seite, wenn wir uns in den Tücken der Grammatik oder der Dialektik verfangen hatten. – Wenn er nur nicht so neugierig wäre und uns nach allem möglichen ausfragen würde. Aber vielleicht war diese Neugierde einfach nur Wissbegierde und damit auch die Grundlage für seine umfangreichen Kenntnisse auf allen Gebieten.
Der, mit dem ich mich am besten verstand, war Dietrich. Er wirkte ruhig und ausgeglichen, war nicht so groß wie Simon und ich, hatte eine kräftige Gestalt und trug sein schwarzes Haar kurz geschnitten. Er war nicht, wie Simon, aus wohlhabender Familie, hatte keinen Vater mehr und war von den Einkünften seiner Mutter abhängig.
Wie es in Erfurt für die Studenten vorgeschrieben war, trugen beide, wie ich auch, die schwarze Kleidung und die Kappen der Erstsemester. Aber ich würde sogleich nach unserer Ankunft alles außer der Kappe ablegen und mir meine braune Hose und das gewohnte grüne Wams anziehen. Erst dann konnte ich mich wieder ganz zu Hause fühlen.
 
Ich hoffte, dass meine beiden Begleiter noch weitere gute Eindrücke von Montabaur gewinnen würden, wenn ich ihnen die Stadt erst aus der Nähe mit seinen schönen, nach dem Brand neu errichteten Gebäuden zeigen konnte.
Nun wollte ich aber weiter, um endlich nach oben zu meinem Elternhaus am Großen Markt zu gelangen. Wir lenkten unsere Pferde durch die Untere Sauertalpforte im Gebück. Eigentlich hätten wir den steilen Weg vom Sauertal hoch zur Oberen Sauertalpforte erklimmen müssen. Doch gerade bewegte sich auf ihm eine sechsspännige Frachtfuhre mühsam vorwärts und versperrte den Zugang. So ritt ich mit meinen Begleitern auf dem ebenen Weg nach Allmannshausen, der östlichen Vorstadt. Von hier konnte man durch die Rebstockpforte ebenfalls in die Stadt gelangen.
Als wir das Tor hinter uns gelassen hatten, kamen wir in den Hinteren Rebstock, der ältesten Straße unseres Städtchens, mit seinen kleinen, bescheidenen Häuschen. Wegen der frühen Morgenstunde lag die Gasse noch ruhig da. Nichts war zu hören außer den Tritten unserer Pferde.
Mit einemmal aber stürzte aus einer Haustür eine groteske Gestalt hervor. Sie war in schwarze Röcke gekleidet, graue Haarzotteln hingen ihr um das Gesicht, der Kopf war mit einem zerlöcherten Kopftuch bedeckt. Sie rannte auf mich zu und hielt mein Pferd mit einem Ruck am Zügel fest.
Margeth! Das war doch Margeth! Was wollte die denn hier? Warum hielt sie mich an? Und warum trug sie diese Fetzen? Ich wusste, dass sie eine Meisterin der Verkleidung war und in Wirklichkeit viel besser aussah als in dem schrecklichen Gewand.
»Weg da, alte Hexe«, rief Simon. Er lenkte sein Pferd dicht neben meines und schwang warnend seine Peitsche.
Ich machte ihm ein Zeichen, dass keine Gefahr drohe, und beugte mich zu Margeth hinunter, die mit einer Hand meinen Zügel festhielt und die andere auf den Hals des Pferdes legte, das ruhig stehen blieb.
»Georg! Oh, gut dass Ihr wieder da seid. Ich habe Euch erwartet, denn ich wusste, dass Ihr kommt. Navarro schickt mich, Euch zu holen. Er hat Euch etwas Wichtiges zu sagen!«
»Wo ist Navarro, und wo ist sein Wagen? Kann er nicht selber kommen?«
Margeth schüttelte heftig den Kopf. »Er ist verletzt, kann nicht laufen und liegt mit einem verstauchten Bein danieder. Es geht nicht anders, Ihr müsst zu ihm gehen!«
»Margeth, ich bin doch gerade erst angelangt. Ich werde ihn aufsuchen, so bald ich kann, glaubt mir. Aber nun will ich erst zu meinen Eltern, das seht Ihr doch ein?«
Sie ließ den Zügel los und trat einen Schritt zurück. Enttäuscht sah sie mich an.
»Ja, das sehe ich ein. Aber kommt. Und kommt bald! Navarro sagt, dass es wichtig ist, für ihn und für Euch.«
»Natürlich komme ich. Aber wo kann ich ihn denn finden?«
Sie blickte auf meine beiden Begleiter. Dann kam sie näher und flüsterte, so dass nur ich es hören konnte: »Im Hause neben der alten Gritt. Aber kommt allein, und seid vorsichtig!« Rasch drehte sie sich um und verschwand.
Bei Gritt nebenan. Neben »Dull Gritt«, wie sie auch genannt wurde, weil sie dem Weingenuss nicht gerade abhold war. Ach ja, das war das Haus am Rebstock, an dem wir grade vorbeigeritten waren. Dort lag also Navarro, mein kleinwüchsiger Freund, krank und unbeweglich, wie es schien. Ich war recht bestürzt über diese Neuigkeit. Was war nur mit ihm geschehen? Er war doch so wendig und geschickt, der reinste Akrobat. Ich wollte ihn so bald wie möglich aufsuchen.

Meine beiden Begleiter blickten mich fragend an. Simon zog eine angeekelte Grimasse: »Wer war das denn? Die Alte sah ja grässlich aus. Kennst du die?«
Ich trieb mein Pferd an. »Ja, ich kenne sie. Und sie ist alles andere als grässlich. Sie ist eine Kräuterfrau und Heilerin und hat mich im vergangenen Jahr von einer schweren Krankheit befreit.«
»Und wohnt sie da?«, er zeigte mit dem Kopf auf das Häuschen, aus dem sie herausgekommen war.
»Nein, nein. Sie wohnt in Neudorf. Da hat sie ein Haus mit einer großen Kammer für ihre Kräuter und all die Geräte, die sie für ihre Heilmittel braucht.«
Aber auch Dietrich konnte seine Neugierde nicht zügeln.
»Und wer ist dieser Ma-, Mavero, oder wie er heißt?«
»Navarro heißt er. Navarro! Ein Gaukler, den ich kenne. Auch er hat mir schon einmal sehr geholfen
Mehr wollte ich nicht verraten.
»Du verkehrst mit Gauklern?«
Beide machten ein zweifelndes Gesicht. Ich antwortete nicht. Dann setzten wir schweigend unseren Weg fort. Die freudige Stimmung aber war uns durch die plötzliche Begegnung irgendwie abhandengekommen.

 

Als wir den Vorderen Rebstock erreichten, der zum Großen Markt mit seinen hohen Häusern führte, zeigte ich Simon, wie er zur Burg gelangen konnte. Er schwenkte grüßend seine Kappe und machte sich auf den Weg den Berg hinauf. Dietrich und ich ritten über den Kleinen Markt, dann den Steinweg hinunter und linker Hand in die Spitalgasse hinein. Weil wir die Pferde bei uns hatten, mied ich den Vordereingang unseres Hauses am Großen Markt und suchte unseren Garten hinter dem Hause mit seinen Ställen und Nebengebäuden auf.
An der Gartenpforte traf ich auf Kobus, unseren Großgesellen. Es gab eine überaus herzliche Begrüßung. Er rief einen Pferdejungen und übergab ihm die Pferde, die sogleich in das Sauertal zum Umspannhof gebracht werden mussten. Unser Gepäck trugen wir dann gemeinsam durch den hinteren Eingang in unser Haus. Das bot auch auf seiner Rückseite einen hervorragenden Anblick mit seinen roten Balken und der großen Eichentür. Unsere frühere Heimstatt war bei dem Stadtbrand ein Opfer der Flammen geworden, aber man hatte es, wie so viele Häuser unseres Städtchens, mit vieler Mühe wiederaufgebaut. Und nun stand es da, größer und – wie ich fand – schöner als sein Vorgänger.
Seit vielen Monaten war ich nicht zu Hause gewesen, nicht einmal zum Weihnachtsfest, denn der strenge Winter mit seinem vielen Schnee hatte die weite Reise von Erfurt nach Montabaur für mich unmöglich gemacht. So empfingen mich meine Mutter und meine beiden Schwestern Elisabeth und Brigid mit großer Freude, und auch Dietrich wurde mit liebenswürdigen Worten willkommen geheißen.
Endlich schwang ich mir mein Reisebündel auf den Rücken. »Nun will ich aber Vater begrüßen«, rief ich. »Er ist doch sicher im Kontor, weil ihm die Arbeit keine Ruhe lässt!«
Meinen Freund nahm ich gleich mit. Stolz führte ich ihn durch die geräumige Werkstatt, in der die Webstühle klapperten, die Treppe hinauf in die Arbeitsstube meines Vaters. Etwas bänglich wurde mir dann aber doch, denn ich kannte zur Genüge das kritische Auge des Hausherrn, mit dem er Menschen wie auch Waren zu beurteilen pflegte. Zusammen mit einem Kunden prüfte er gerade mehrere auf dem großen Tisch liegende fein gewalkte Wolltuche. Etwas zerstreut sah er auf. Dann erhellte sich seine Miene, als er uns erblickte. Er umarmte mich und richtete an Dietrich freundliche Begrüßungsworte. Es schien, als habe auch er gleich Gefallen an ihm gefunden.

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