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Leseproben ausgewählter Bücher

»Sturz vom roten Felsen« Klaus Greichgauer

 

Kapitel 1

Ich gehe gerne in den Zoo. Ich liebe Tiergesichter. Den strengen Blick der Raubvögel in den Volieren. Die kantigen Schädel der Löwen, gelbbraun und knochig, wie staubige afrikanische Masken. Die Pappmacheköpfe der Feneks mit den versunkenen Augen. Die erschrockenen Mienen der Makas und Lemuren. Die flachen, im Weiß verschwimmenden Gesichter der Schneeeulen. Im Winter, in der Arktis, sind sie kaum zu sehen. Als wären sie verschwunden. Nicht mehr da.
Vor den Tieren sind die Gräben. Die Zäune. Die Panzerglasscheiben. Der Schutz vor den Löwenpranken. Den Messerzähnen der Krokodile. Dem peitschenden Elefantenrüssel. Dem tödlichen Rammstoß des Nashorns.
Vor den Käfigen spazieren die Frauen. Plaudernd, lachend. Junge Frauen mit schulterlangen Haaren oder einer gestylten Stufenfrisur. Mit blonden oder ockerfarbenen Strähnen. Auch rothaarige Frauen. Rothaarige. Manchmal sehen sie mich kurz an. Ich wende den Blick ab. Dann gehen sie weiter und ich auch.

Ich bin 28, seit kurzem Beamter mit festem Einkommen. Ich bearbeite Steuerfragen nach den Anweisungen meines Vorgesetzten. Ich bin weder groß noch klein, weder dick noch dünn. Schwarzhaarig, Rechtshänder, Schuhgröße 43. In einer Menschenmenge falle ich nicht auf. Ich arbeite 36 Stunden in der Woche und verdiene 3400 Euro im Monat. Alle zwei Wochen gehe ich ins Kino, allein, und am Freitag abend in die Kneipe, gewöhnlich mit Kumpels. Ein paarmal im Jahr gehe ich ins Fußballstadion, auch mit Kumpels, und manchmal ins Theater, allein oder mit Cindy und Lisa, zwei Kolleginnen aus dem Büro. Beide sind verheiratet, aber ihre Männer machen sich nichts aus Theater, und deswegen darf ich sie ab und zu begleiten. Wenn die Vorstellung zu Ende ist, trinken wir gewöhnlich noch etwas zusammen, und dann gehen sie nach Hause und ich auch.
Es ist nett im Theater, aber im Zoo bin ich viel lieber, fast jedes Wochenende. Nur den Fütterungen weiche ich aus. Mir wird übel, wenn sich ein Klumpen schwitzender Leiber vor den Gehegen drängt und schreit und lacht. Oder Beifall klatscht, wenn ein silberner Fisch in das Maul eines Seelöwen fällt. Diese ewigen Familien, grinsende Väter, lächelnde Mütter, rechthaberische Omas, die endlose Reihe rotziger Kindervisagen, die ungewaschenen Hälse nach vorne gereckt. Manchmal spüre ich die Versuchung, auf die andere Seite des Grabens zu wechseln und die ganze Horde mit einem Kanonenschuss zu zerteilen. Am liebsten wäre ich auch im Zoo allein.
Auf den Wegen ist es erträglich, wenn aus Menschenknäueln wieder Einzelne werden, triefnäsige Alte, verschnupfte Ehemänner, plärrende Bälger. Wenn die letzte halbe Stunde angesagt wird und alles zum Eingangstor strömt, drehe ich mich um und laufe in die Gegenrichtung, noch einmal allein an Zäunen und Gräben vorbei. Dann halte ich eine letzte Zwiesprache mit Zebras und Gnus und knochenzermahlenden Tigern.
Am vergangenen Samstag bin ich dabei einer Frau begegnet. Einer jungen, rothaarigen Frau. Sie hat mich um Feuer für ihre Zigarette gebeten, mich angelächelt und sich bedankt. Ich habe ihr nachgesehen, wie sie hinter den Büschen am Gepardengehege verschwunden ist. Es war schön, dass ich ihr behilflich sein konnte. Ich rauche nicht, habe aber immer ein Feuerzeug in der Tasche. Nur so. Um die Welt anzuzünden.

Eigentlich kann ich es nicht leiden, wenn Tiere eingesperrt sind. Jeder Zoo ist ein Zuchthaus mit unschuldigen Gefangenen. Löwen, die nicht jagen, Geier, die nicht fliegen dürfen. Otter, die im Kreis schwimmen und Elefanten, die nicht wandern. Seehunde, eingepfercht in eine betonierte Waschschüssel, fern vom offenen Meer.
Am meisten leiden die Wölfe. Sie sind geboren, um zu laufen. Dreißig Kilometer am Tag, vierzig. Ruheloses, ungebundenes Umherstreifen, ohne Mauern und Hindernisse. Nicht wie im Wolfsgehege, dem kargen, engen Ersatzrevier. Hier stößt sich die Meute an Drahtverhauen blutig, und die Einzelgänger werden ins Rudel gepresst. Fressen gibt es in blutigen, rothaarigen Brocken. Vor den Augen fröhlicher, lachender Besucher. Fröhlicher, lachender Frauen.
Wenn es kein Panzerglas gäbe? Keine Gräben, keine Zäune? Wenn man die Gräben überspringen könnte, das Glas und die Zäune durchbrechen? Dann Wolf zu sein. Aufmerksam dazusitzen. Die Nase im Wind. Witterung aufzunehmen von Stein und Gras, Steppenträumen, rothaarigem Fleisch.
Dazusitzen. Die Vorderläufe auf die Erde gestemmt. Mit lauernden gelblichen Augen, die sich langsam aufschieben und Frauen erspähen und die breite Lücke im Zaun. Wolf zu sein. Den Zaun hinter mir zu lassen und dann ohne Eile der panisch fliehenden Beute nachzusetzen, in dem behaglichen Bewusstsein, dass sie nicht entkommen kann. Für mich ein spielerischer Wettlauf, für sie letzte, äußerste Anstrengung und tödliche Qual. Mit drei, vier Sätzen bin ich neben ihr. Umkreise sie mehrmals, wittere den Geruch von Angst und Blut. Dann der Sprung. Und der Biss in die Kehle.

Die Öffnungszeit ist zu Ende. Hinter mir schließt sich das große Eisentor. Der Bus wartet. Und heute abend die Kneipe. Und am Montag der Dienst im Büro. Es ist gut so, wie es ist. Es ist ganz gut so.

Einmal habe ich in einem heruntergekommenen Zoo in Tschechien einen Wolf gesehen. Allein, in einem viel zu kleinen Gehege. Er lief den Zaun entlang, immer wieder entlang an dem endlosen Drahtgeflecht, an den tausenden von eisernen, schmutzgrauen Rauten. 120 Meter nach links, 120 Meter nach rechts. In der Mitte blieb er jedes Mal stehen, hob den Kopf und setzte dann seinen Lauf fort, immer weiter, in alle Ewigkeit. Irgendwo, an einem vorstehenden Drahtende, hatte er sich den linken Hinterlauf aufgerissen. Blut lief aus der Wunde, sickerte und krustete ins Fell. Der Wolf scheuerte die Wunde immer wieder auf, das Blut quoll erneut heraus, lief und lief und wollte gar nicht mehr aufhören.

 

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