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»Hanna – Kriegsjahre einer Krankenschwester« Sandra Jungen

 


Heeresbekleidungsamt, Infanteriestraße
Hauptstadt der Bewegung München
Juni 1942

 

Schon über eine Stunde stand sich Hanna die Beine in den Bauch, ohne einen nennenswerten Schritt weiter zu kommen. Und nun rückte die Warteschlange endlich ein Stück vor. Hanna sah dem jungen Soldaten nach, der mit euphorischer Miene und einem Kleiderstapel unter dem Arm an ihr vorbeiging und sie fast umgeschubst hätte. Der war ja noch ein halbes Kind! Auch der nächste Soldat wirkte viel zu jung für einen Frontkämpfer, doch sein Gesichtsausdruck war weniger zuversichtlich. Offensichtlich waren nicht alle so erpicht darauf, in die Schlacht zu ziehen, wie es immer hieß.
Hanna konnte es ihm nicht verdenken, auch sie würde lieber im beschaulichen München bleiben, statt an die Front geschickt zu werden. Zwar hatte es im letzten Jahr zwei feindliche Luftangriffe auf die bayrische Hauptstadt gegeben, aber in diesem Jahr noch keinen einzigen. Hanna hatte munkeln hören, dass München im Gegensatz zu anderen Städten mit geringem Schaden davon gekommen sei, doch Genaueres schien niemand zu wissen.
In der Warteschlange stand nun schon wieder alles still. Deutlich hörbar stieß Hanna den Atem aus und tippte mit der Fußspitze auf den Boden. Die Dielen knarzten rhythmisch unter ihren Füßen.
»Wann geht es denn endlich weiter?«, rief ihre Kollegin Hedwig, die hinter Hanna stand. »Wir haben schließlich nicht ewig Zeit.«
»Immer der Reihe nach!«, tönte eine herrische Stimme von vorn. »Hier herrscht Ordnung!«
Bertha kicherte. »Da hörst du es wieder, besonders in der Hauptstadt der Bewegung wird Wert auf Zucht und Ordnung gelegt. Da kommt jeder dran, wenn es soweit ist.«
»Zucht und Ordnung lasse ich mir ja noch gefallen«, raunte Hanna den beiden leise zu. »Aber was haben wir mit Hitlers Bewegung zu tun? Wir sind schließlich Krankenschwestern und keine Nazis.«
Der Soldat hinter Bertha zog eine Augenbraue hoch und warf Hanna einen verächtlichen Blick zu.
Schnell sah sie weg und strich über die Schürze ihrer Schwesterntracht.
Ihr war beklommen zumute, wie sie da in der Warteschlange vor der Kleiderausgabe der Wehrmacht stand. Das Ziehen in ihrem Bauch verdichtete sich allmählich zu einem dicken Klumpen aus Zweifel und Furcht.
Bereits auf dem Weg durch das düstere Treppenhaus hatte sie eine leise Ahnung beschlichen, dass ihr bislang sorgloses Leben bald Geschichte sein könnte. Das Reich befand sich nun schon im dritten Kriegsjahr. Immer öfter wurden blutjunge Männer eingezogen, und nun geschah dasselbe mit Krankenschwestern.
Gerade erhaschte Hanna einen Blick auf den Ausgabetisch und die dahinter angebrachten Regale, da versperrte ihr der Soldat vor ihr wieder den Blick. Sein Schweißgeruch überdeckte den Duft der frischen Wäsche, den sie soeben noch wahrgenommen hatte. Sie rümpfte die Nase und ärgerte sich wieder einmal über ihre geringe Körpergröße. Unwillkürlich fasste sie an die Brosche mit dem roten Kreuz, die ihren Kragen zusammenhielt und sie als examinierte Krankenschwester auswies.
Sie war ein wenig stolz darauf, dass sie, genau wie Bertha und Hedwig, vor kurzem das Examen bestanden hatte. Obwohl sie vor zwei Jahren aus freien Stücken nach München gegangen war, um sich den Traum einer Krankenschwesternausbildung zu erfüllen, wäre sie in diesem Moment jedoch viel lieber wieder zu Hause bei ihrer Familie in der Eifel. Weit weg von München und dem angeordneten Kriegseinsatz.
Im Mai, kurz nach ihrem Examen, war Hanna in die sogenannte Freiwillige Krankenpflege eingegliedert worden, in der sie überhaupt nicht freiwillig war. Aber der Mangel an Pflegepersonal war allgegenwärtig. Sie konnte sich nicht aussuchen, ob sie in den Krieg ziehen wollte oder nicht. Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. »Warum dauert das denn bloß so lange?«
Der Soldat in der Schlange neben ihr musterte sie mit belustigter Miene. »Geduld, Fräulein. Sie kommen schon noch an die Reihe. Sie können es wohl kaum erwarten, zur Front zu gelangen, was?«
Hanna presste die Lippen aufeinander. Die Front! Was das wohl bedeutete? »Wissen Sie«, antwortete sie zögerlich, »die Bilder der Wochenschau zeigen immer nur fröhliche Soldaten, und man könnte fast meinen, der Krieg wäre ein spannendes Abenteuer. Aber wenn ich daran denke, was meine Großmutter früher von den schlimmen Zeiten während des Großen Kriegs erzählt hat, kann ich mir nicht vorstellen, dass es an der Front allzu lustig sein wird.«
»Ach, hat Ihre Frau Großmutter etwa gedient?«, fragte er mit spöttischem Lächeln.
»Natürlich nicht. Von den verwundeten Kriegsheimkehrern hat sie gesprochen.«
Er setzte eine ernste Miene auf und straffte die Schultern. »Für den Soldaten steht an erster Stelle die Ehre, dem Führer zu dienen!«
»Hm, meine Großmutter hat immer gesagt ›Im Krieg werden die Menschen zu Bestien, da geht es nur noch ums Überleben‹.«
Sofort sandte er ihr einen scharfen Blick, geradeso als sei sie ein unmündiges Kind.
Hanna senkte den Kopf. Vielleicht sollte sie sich einen Ruck geben und wenigstens versuchen, sich auf den kommenden Einsatz zu freuen.
Endlich ging es weiter. Sie konnte das Geschehen an den Tischen jetzt überblicken und beobachten, was an der Kleiderausgabe vor sich ging. Die Regale hinter den Ausgabetischen waren zum Bersten gefüllt mit unterschiedlichen Uniformen, Helmen und sonstigen Gegenständen, deren Zweck sich ihr nicht erschloss.
Sie drehte sich zu Bertha und Hedwig um, die unentwegt tuschelten, und fragte: »Wisst ihr, warum die Männer verschiedenfarbige Uniformen bekommen? Der da vorne links hat einen Stapel beiger Kleidung, und der hier vor uns bekommt alles in grau.«
Bertha hob die Schultern. »Vielleicht verschiedene Dienstgrade?«
»Die Farben haben mit dem Dienstgrad nichts zu tun«, klärte Hedwig sie auf. »Es ist der Einsatzort, der den Unterschied macht.«
Als die Reihe endlich an Hanna war, legte sie ihren Bezugsschein für Spinnstoffwaren auf den Tisch. Der übellaunig dreinblickende Mann dahinter warf einen kurzen Blick darauf und ging zielstrebig zu einem Regal, gleich danach kam er mit einem Stapel ockerfarbener Kleidung sowie einem beigen Helm zurück und legte alles vor sie hin.
Hanna besah sich ihr Bündel genauer und bemerkte, dass eines der Kleidungsstücke notdürftig ausgebessert war.
»Warum ist denn da ein Flicken drauf?«, fragte sie den Mann. »Ist das gebraucht?«
»Freilich«, knurrte er. »Wir müssen die Kleider schließlich verwerten. Ist es schlecht gemacht? Dann wird es reklamiert und geht sofort nach Theresienstadt zurück.«
»Nein, nein, das ist schon in Ordnung. Theresienstadt, sagten Sie?« Hanna meinte, schon mal von diesem Ort gehört zu haben. »Wo liegt das denn?«
Er zuckte die Schultern, aber sie glaubte, in seinem Blick zu sehen, dass er keine Lust hatte, ihr zu antworten.
»Können Sie mir wenigstens sagen, wohin es jetzt geht?«, wollte sie noch von ihm wissen.
Er wandte sich Hedwig zu, die als nächste an der Reihe war, bedachte deren rotblonde Locken mit abfälligem Blick und meinte beiläufig: »Wohin schon? Afrika.«
»Afrika?«
»Afrika!«, kreischten Bertha und Hedwig gleichzeitig, wobei Bertha jedoch mehr erschrocken als erfreut wirkte.
Der Mann händigte ihnen nacheinander ihre Bündel aus.
»Stellt euch vor: Afrika! So weit weg, das wird bestimmt aufregend!«, rief Hedwig.
»Ich weiß nicht«, wandte Bertha ein, während sie ihre dichten Augenbrauen zusammenzog. »Die sehen alle so schwarz aus da. Außerdem gibt es dort Löwen und Schlangen.«
Hanna fächelte sich Luft zu. »In Afrika muss es doch fürchterlich heiß und trocken sein. Mir ist es hier eigentlich schon warm genug.«
Sie lachten, und Hanna war froh, ihre Bedenken überspielen zu können. Doch auch jetzt, da sie Gewissheit über den von oben anberaumten Einsatzort hatte, wollte dieses bange Gefühl nicht weichen.

 

Wie ihre anderen Kolleginnen, erhielt Hanna zwei Tage darauf die Nachricht, dass sie alles wieder zurückgeben müsse. Stattdessen erhielten sie Kleidung, die ein ganz anderes Ziel vermuten ließ: Eine Jacke mit Kaninchenfell, pelzgefütterte Stiefel und sogar eine lange Hose. Keine der Münchner Behörden hatte auch nur einer von ihnen mitgeteilt, wohin der Befehl sie nun führte.

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