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»Die Sonntage von Duisburg-Beeck« Heiner Feldhoff

Der Vorort

 

Auf der Bierflasche, wo immer ich sie öffne, der Name meines Heimatorts: Duisburg-Beeck.
Ein Vorort, der mir in meiner Lebensgeschichte wie ein Vorwort erscheint, reichhaltiger, gewitzter, irritierender als der ordentliche Hauptteil.
Mein Kind, wir waren Kinder, Verwirrte im Sonntagsstaat, Kinder Gottes mit weißen Kniestrümpfen und Klämmerchen im Haar.
Hüpften über die Friedrich-Ebert-Straße, Adolf-Hitler-Straße hatten die Alten noch wenige Jahre zuvor gesagt, liefen über die ampelfreie Kreuzung am leeren Denkmalsockel vorbei zum Kindergottesdienst, zur Sonntagsschule, sagten die Alten, fröhlich soll mein Herze springen: taten wir singen.
Fröhlicher sangen wir an freieren Tagen, wenn wir uns tummelten in den Ruinen, Trümmern und Bruchbuden, im CVJM-Heim chinesisch um die Tischtennisplatte herumliefen, mit dem Rad zum Rhein fuhren, wo das Internationale gemächlich entlangtuckerte, zur Vogelwiese, zum Baggerloch, in die Schrebergärten, im Frühtau zu den Kaulquappen, Salamandern, den wilden Brombeeren, die heute wilder wachsen denn je in den verlassenen Gärten am Fuße der Schlackenberge, in den Emscherwiesen.
In den Altbauten werkelten die Schuhmacher, Sattler, Schneider, mit dicken Armen putzmuntere Heißmangelfrauen, über den Kopfstein rumpelte der Pferdewagen des Kohlenhändlers, auf dem Wochenmarkt lockte die Gratisprobe knorriger Ochsenschwanzsuppe, der Geruch von Anisbonbons kitzelte unsere Rotznasen, Marktschreier priesen ihre Ofenplattenreinigungspasten, die beinamputierten Schnürsenkelverkäufer schwiegen.
Sankt Martin trabte hoch zu Roß über die Karl-Albert-Straße bis zur uralten Adler-Apotheke der Caecilie Hufnagel am Marktplatz, vom Balkon des wundersamen Gebäudes schneite es Süßigkeiten herunter in die frierenden Hände der Martinszugkinder, in den Laternen zitterten die Wachskerzen, Stutenkerlen wurde im Schutze der Dunkelheit der Kopf abgerissen, an der Tonpfeife klebte der Teig, Russisch Brot gab’s bei Schätzlein, Seifen-Schätzlein, sagten die Alten manchmal noch, Kieler Sprotten bei Quindeau, Kwindo, sagten wir.
Wir waren Blaßfinken und hatten das Schießpulver auch nicht erfunden. Wir standen rum wie Falschgeld oder saßen da wie Ölgötzen.
Im Kindergottesdienst verteilten die Kindergottesdiensthelfer ein frommes Blatt, Der Kinderbote, auf seiner Rückseite das Suchbild: Wo hat sich der Matrose, der Schornsteinfeger, der Hund versteckt? Ach, wenn man ihn einmal gefunden hatte, konnte man ihn nicht mehr ungesehen machen, las ich später bei jemandem, der Bescheid wußte.
Mein nicht enden wollendes Suchbild Beeck, immer wieder erscheint ein neuer Kinderbote, immer wieder öffnet sich eine andere Rückseite. Beeck: so lange Beeck ausrufen, bis das Wort leer gesprochen ist: Beeck, meine lebenslange Beeckzehrung, Fisternöllekes, Victoria Beeck! Hat das alles noch einen Sinn, einen Wert, Beecker Werth?
Vergessene Dichter bewachen die alten, jetzt PS-wuchernden Straßen, das Wort Pferdestärke ist out wie ein Heimatdichter-, ein Heimatdenkerlaut, Leibniz, Fontane, Beeckbürger, Beeckburger, sprich: -börger, unser Beeck soll Döner werden, herrschaftszeitennochmal, wo ist der Halt?, wo der Halt Beeck Bürgermeisteramt geblieben? Heute vom Automatikband der Straßenbahn 901, der Elektrischen, sagten die Alten, ruft eine Frauenstimme in ahnungsloser Trauer: Brauerei.
Im Haus gegenüber war die Stadtbücherei untergebracht, auf dem Weg passierte man die Polizeiwache in jenen Zeiten von Schokoladenzigaretten, Negergeld, Akim, Fix und Foxi, Gondel, von Halbstarken mit dem imponierenden Klack-Klack der Eisenplättchen unter den Schuhabsätzen, in jenen Jahren erster Bücher, immer neuer Bücher aus der guten alten Bücherei. Ihr schönen, fleckig gelesenen Bücher! Du mir erhaltenes Bibliobeeck.
Wo mir Mark Twains Prinz und Bettelknabe in die Hände fiel, ab 11 Jahre, hieß es eingangs darin, war das richtig?, doch was er im Vorwort schrieb, daß es nämlich egal sei, ob sich die Geschichte so zugetragen habe oder nicht, leuchtete mir sofort ein; es hätte so sein können, darauf kam es an. Und abenteuerlich durfte, mußte es schon sein, der Vaterbruder Dieter überließ mir sein zerlesenes Exemplar von Albert Sixtus’ Die wilden Jungen von der Feuerburg, in der ein unheimlicher Dr. Teufel vorkam und ein uralter Schatz entdeckt wurde. In einer verstaubten Truhe auf dem Dachboden fand ich die Bildergeschichten von Ferdinand Barlog, ohne Text, ohne Sprechblasen, waren die nicht viel lustiger, fantasievoller als die Micky-Maus-Hefte? Das querformatige Großbuch Die 5 Schreckensteiner ließ in einem Schloß fünf Gemäldefiguren in der Geisterstunde aus ihren Rahmen heraustreten und die komischsten Streiche verüben, drei Brüder, zwei dicke, davon einer mit getollter ausladender Halskrause, und ein langer dünner, karnevalistisch gewandet wie ein Musketier, dazu ein hübsches Burgfräulein, das zur nächtlichen Stunde in der einen oder anderen Episode seine körperlichen Reize herzeigt, und ein fröhlicher Knabe mit einem Piepmatz auf dem Handrücken.
Und dann Schloß Wildenstein von Johanna Spyri: wie es den Kindern, dem Mäzli, dem Lippo, der Leonore gelingt, in das alte, föhrenumrauschte, von einem finsteren Kastellan bewachte Spukschloß zu gelangen, wo der zurückgekehrte vereinsamte Baron Bruno am Ende doch noch so etwas wie Lebensfreude wiederfindet – ach ja, das nahm mein junges Leserherz gefangen. Prinz oder Bettelknabe oder das holde Bescheiden in der Mitten? Abzählverse halfen fürs erste weiter: Kaiser, König, Edelmann, / Bürger, Bauer, Bettelmann, / Schuster, Schneider, Leineweber, / Bäcker, Kaufmann, Totengräber. Den Bettelmann sprachen wir Bedelmann aus, der Bedelmann trug uns dank seiner lustigen Mitlauterweichung locker über das offene Grab hinweg, das dem Kaufmann bevorstand. Auch der edle Odysseus kam in Bettlergestalt zu uns ins Haus, von seinen Irrfahrten erzählte das Tchibo-Magazin, das den Kaffeesendungen beilag, echten Bohnenkaffee bestellten die Eltern, bestellte man damals per Post.
Schon bald aber lernte ich ein Bettelweib kennen, hinter dem sich kein edles Fräulein verbarg und welches der Dichter zum Tode verurteilt, mußte das sein?, hatte er’s denn nicht in der Hand?, ausgerechnet in einem Schloß, ein Dichter namens Heinrich, ausgerechnet Heinrich, Heinrich von Kleist, man weiß es längst, und ihnen ist es hernach übel ergangen, dem Schloßherrn wie dem Dichter. Just jene Schriftsteller, die als die großen, die bedeutenden galten, schienen eigentümlich versessen darauf, gottähnlich in ihren Werken die Menschen sterben zu lassen, nur viel schneller als im wirklichen Leben, am Ende weniger Lesestunden waren die Hütten und Paläste ihrer Helden niedergebrannt, ihre Tempel und Türme eingestürzt, ihre Schiffe in Meeresstürmen untergegangen, und auch Vrenchen und Sali, als Romeo und Julia auf dem Dorfe, suchten im Wasser den Tod.
Aber die Dichter erfanden doch immer auch Sonntagsgeschichten, in denen die Taugenichtse ihr Glück machen, wußten immer wieder diese Welt zu verwandeln mit Hilfe magischer Wörter wie Mutabor, oder ihr zu trotzen: Bassa Teremtetem, und dann blieb mir immer noch der einzigartige Johann Peter Hebel. In seinem Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes erzählt er nach einer wahren Begebenheit, unvergeßlich und auf ewig weiterklingend im Chor der Toten, von einem Bergmann, der in Falun, und es hätte auch wenige Meter von meinem Elternhaus entfernt im Schacht 3/7 passieren können, kurz vor seiner Hochzeit verschüttet wird unter Tage, und wie es dann nach fünfzig Jahren zu einem unverhofften Wiedersehen mit der Witwe kommt und die Gemüter aller Umstehenden von Wehmut und Tränen ergriffen werden.
So kam ich unter die Bücher.

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