»Fachwerkmord« Regine Brühl
Kapitel 1
Durch Münstereifels Gassen
Den Entschluss fasste ich einen Tag vor Heiligabend 2014. Mir kam der spontane Einfall, als ich durchs Städtchen schlenderte, um die letzten Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
Bad Münstereifels Gassen entlang des Flüsschens Erft waren eingerahmt von Holzbuden, in denen dick eingemummte Verkäuferinnen ihre gestrickten Socken, Sterne, Tonwaren und andere Weihnachtsartikel anboten. Es duftete nach gebrannten Mandeln, Zuckerwatte und gerösteten Maronen. Das Outlet-Center war vor Kurzem eröffnet worden, viele Geschäftshäuser waren aufgekauft worden und wurden noch ausgebaut. Das Konzept der Planer war, die alten Geschäfte aufzukaufen, sie zu renovieren und darin Markenware zu Outletpreisen anzubieten. Im Stadtgebiet wurde viel über das Für und Wider diskutiert. Ich fand es gut, dass nun wieder mehr Leben und viele neue Geschäfte in das eher verschlafene Eifelstädtchen kommen würden, und sah der Entwicklung positiv entgegen.
Das Kopfsteinpflaster glitzerte vom zuvor gefallenen Schnee, der ganz dünn die Straße bedeckte. Die Pfützen waren zugefroren und ich liebte es, mit den Stiefeln aufs Eis zu gehen, bis die Oberfläche Risse bekam und brach. Das Geräusch des Knirschens und Krachens erinnerte mich an meine Kindheit. Die Brücken aus Stein, die schon viele hundert Jahre genauso aussahen, waren beleuchtet und die Steinmauern am Flüsschen wurden erhellt durch Tausende kleiner Lichter. »Have yourself a merry little Christmas« von den Pretenders ertönte aus den Lautsprechern der Holzbuden. Ich kaufte an einem Marktstand einen Engel aus Ton für meine Nachbarin. Jedes Jahr an Weihnachten überraschte ich sie mit einem kleinen Geschenk und hängte es an ihr Gartentor. Zumeist fand ich ein ebenso nettes Präsent am Morgen des ersten Weihnachtstages vor meiner Haustüre.
Der Engel lag in einer geöffneten Hand und schlief. Ich fand ihn einfach schön, so wie er da lag. Sorglos und geborgen. Die Verkäuferin wickelte ihn in Papier ein, wünschte mir ein frohes Fest und mit ihm schlenderte ich weiter.
Meine Freundin erwartete mich im Café am Salzmarkt. Ich ging über eine der kleinen Brücken und stand vor einem alten Haus, das mir noch nie aufgefallen war, mich aber irgendwie anzog. Es hob sich vermutlich nur deshalb von den anderen Häusern ab, weil es eine heruntergekommene, noch nicht renovierte Fassade besaß und eine braune Haustüre, an der ein Schild aus Schiefer hing. Darauf war mit weißer Kreide geschrieben: »Käufer oder Mieter gesucht.«
Das Haus war ein dreistöckiges Fachwerkhaus, das nur etwa sechs Meter breit war und mich mit seinen kleinen weißen Fenstern gleich ansprach. Es war einmal senfgelb angestrichen worden, jedoch blätterte die Farbe längst ab. Die braunen Balken und das kleine Vordach sahen auch verwittert aus. Ich lugte hinein und sah, dass es aus einem großen und vielleicht noch einem weiteren Raum bestand. Vor meinem geistigen Auge entstand ein kleines Geschäft, in dessen Schaufenstern Bücher ausgestellt sind und allerlei Zuckerzeug wie ausgesuchte Schokoladen und Lollies, die rot-weiß-gestreift und rund waren und so groß, dass sie nicht in den Mund passten. Die beiden Fenster unten würde man in eines umwandeln müssen und bis auf den Boden herab reichen lassen, so dass man in dem großen Schaufenster seine Ware zur Schau stellen könnte.
Ich hatte gerade meinen Job in einem Bonner Buchladen verloren, denn der Besitzer wollte aufgrund rückläufiger Umsätze mit weniger Personal auskommen. Mein Herz hängt aber an Büchern, ein eigener Laden wäre so ein toller neuer Anfang für mich. Ich hatte sehr lange in diesem Buchladen gearbeitet und immerhin eine gute Abfindung erhalten. Mit dieser und meinem Ersparten zusammen müsste man schon so einen Laden finanzieren können, bis er laufen würde …
Noch in Gedanken versunken erreichte ich das Café, in dem meine Freundin schon auf mich wartete.
»Da bist du ja endlich! Hab schon eine halbe Ewigkeit auf dich gewartet, Inga!«, stöhnte sie und umarmte mich zur Begrüßung. Ihre langen blonden Haare flogen mir ins Gesicht.
»Hallo Babs, ich weiß, bin wieder zu spät, aber ich wurde noch aufgehalten – ich muss dir gleich erzählen, von was!« Ich zog meine Daunenjacke und den roten Schal aus und hängte beides über meine Stuhllehne.
»Wer war’s denn diesmal? Eine Politesse, die dir wieder einen Strafzettel verpasst hat und mit der du dich über diese Ungerechtigkeit ausgetauscht hast?« Damit zog sie mich immer wieder auf, nur weil ich ein- oder zweimal über einen Strafzettel so in Rage geraten war.
»Nee, ich hab einen Engel gekauft und dabei ein Haus entdeckt. Hier am Markt. Da hängt ein Schild dran…« Babs Gesichtsausdruck sprach Bände. Sie wollte gerade etwas entgegnen, als sich hinter mir jemand räusperte.
»Hallo, was darf ich Ihnen bringen?«, unterbrach mich die Bedienung freundlich, eine ältere Dame mit schwarzer Schürze und weißer Rüschenbluse, die durchaus zum Stil des Cafés passte. Es war das älteste Café der Stadt und hatte seinen Charme bewahrt. Hier war die Zeit stehen geblieben. »Einen Cappuccino, bitte«, sagte ich und Babs bestellte einen Kakao mit Rum. Die Bedienung verschwand. »Da hing ein Schild, dass ein Käufer gesucht wird. Ist eine alte Hütte, ziemlich altes Fachwerk, aber ich glaube, das wäre was für mich!«
Babs kannte meine Sprunghaftigkeit und meine spontanen einsamen Entschlüsse bereits und fragte: »Und was willst du damit machen?«
»Na, das wäre eine gute Möglichkeit, aus meiner Wohnung herauszukommen und ein kleines Geschäft zu eröffnen. Unten Laden, oben Wohnung. Es hat drei Stockwerke und liegt zentral, direkt am Markt. Ich würde doch so gerne wieder etwas mit Büchern machen …«
»… und da einen Buchladen eröffnen, meinst du?«, fiel Babs mir ins Wort. »Ja, und wie willst du das alles finanzieren?« Babs war immer so euphorisch und positiv!
»Ich werde sehen. Erst mal drüber nachdenken, vielleicht gehe ich morgen mal hin und erkundige mich nach dem Preis. War ja auch nur so eine Idee!« Die Getränke wurden gebracht. Am Nachbartisch saß eine Familie mit Kind. Der etwa fünfjährige Junge plapperte immerzu: »Ich habe Hunger, ich habe Durst, ich habe Hunger, habe Durst …« Hoffentlich kommt die Bedienung bald, dachte ich leicht genervt und nippte an meinem heißen Getränk.
»Und was sagt Max dazu? Der wollte doch, dass du zu ihm ziehst?«, gab Babs zu bedenken.
»Ach, weißt du, in seiner Wohnung in Rodert ist es etwas zu eng für Zwei. Mir gefällt’s hier in Münstereifel einfach besser und so ein eigenes Häuschen wäre eine neue Perspektive. Außerdem werde ich nächstes Jahr dreißig, irgendwann muss man doch mal Nägel mit Köpfen machen. Einen neuen Job zu finden ist auch nicht so einfach. Aber wenn ich mich selbständig machen könnte, …«
Babs lachte: »Müsste man denn noch renovieren oder ist das Haus in einem Topzustand?«
»Die Fassade ist renovierungsbedürftig, aber dafür wird es auch vielleicht nicht so teuer sein. Zuerst muss ich mal einen Blick ins Innere werfen, bevor ich das überhaupt richtig einschätzen kann.« Ich sah schon, dass Babs nicht meine Euphorie teilte, und wechselte das Thema. »Was gibt’s bei dir Neues?«, fragte ich. »Habt ihr schon Pläne für Silvester?«
»Ja, wir fahren zum Skilaufen nach Obertilliach. Mark und ich haben gestern gebucht. Ich bin froh, dass wir uns mal etwas länger sehen können. Seit er in Essen arbeitet, führen wir nur noch eine Wochenendbeziehung.«
Babs kannte ich schon seit der Grundschule. Sie war seit zwei Jahren mit ihrem Freund zusammen und arbeitete als Zahnarzthelferin in einer Praxis am Werther Tor.
Wir unterhielten uns noch einige Zeit, bis sie auf die Uhr schaute und sagte, dass sie nun los müsse.
Ich ging zurück zum Auto und fuhr zum Supermarkt. Natürlich waren viele Kunden im Markt und an den Kassen längere Schlangen. Doch keiner der dort Wartenden war ungehalten und genervt. Ich beobachtete die anderen Leute, die lächelnd miteinander redeten, und dachte: »Typisch Eifel. Hier bricht nicht einmal kurz vor Heiligabend die Hektik aus.« Kurz bevor ich meine Einkäufe aufs Band legte, fiel mir ein, dass ich das Katzenfutter vergessen hatte. Ich drehte, schob den Einkaufswagen an und sprang auf. Ich sauste bis kurz vors Tierfutterregal, bremste etwas zu spät ab und rammte einen Ständer mit Tierspielzeug. Es flogen Bälle, Gummimäuse, Futtertröge und Fellbürsten mit lautem Geschepper herunter. Die bunten Bälle verteilten sich hüpfend in alle Richtungen und ich begegnete dem verärgerten Blick eines älteren Herren mit Hut in Jägeroutfit, der sich kopfschüttelnd und vor sich hinbrabbelnd über mich aufzuregen schien. »Tschuldigung«, murmelte ich schuldbewusst und errötend. Schnell sammelte ich die Artikel auf, nahm noch eine graue Plüschmaus für meinen Kater mit und legte ein Paket Whiskas in den Wagen.
Zu Hause wartete Mikesch schon auf mich, mein rot getigerter Kater lief mir um die Beine herum, bis ich beinahe beim Suchen des Haustürschlüssels über ihn stolperte. »Mikesch!«, fluchte ich laut »du dämliches Viech!«
Mein Nachbar, Herr Johann, zerrte nebenan im Hof etwas Menschenartiges aus seinem Golf heraus. Er war um die 50 und eingefleischter Junggeselle. Nett, aber etwas eigenbrötlerisch.
»Hallo, Herr Johann!«, grüßte ich. Er guckte mit verdrehtem Rücken zu mir herüber und rief: »Frau Meyer, könnten Sie mir mal gerade mit anfassen?« Ich ging zu ihm, Mikesch miaute empört, da er Hunger hatte und nun warten musste. Mein Nachbar war dabei, zwei nackte Schaufensterpuppen, die er in seinem Golf transportiert hatte, heraus zu befördern. Es wehte ein starker Wind, die zufallende Tür behinderte sein Vorhaben. Ich hielt sie fest und schaute ihm dabei zu, wie er fluchend die Puppe aus dem Auto hievte.
»Was tun Sie mit denen?«, fragte ich ihn.
»Nun, da zuletzt noch in unserer Straße eingebrochen wurde, werde ich mich zur Wehr setzen und diese Puppen ankleiden und dann in mein Fenster stellen, so als Abschreckung, wenn ich im Schichtdienst bin und keiner zu Hause ist.«
Okay, dazu fiel mir nun auch nichts mehr ein. Diese Plastikdinger wollte der sich in der Wohnung aufstellen. Eifler sind komische Menschen, dachte ich bei mir. Ich musste ihn etwas irritiert angeschaut haben, denn er fügte noch entschuldigend hinzu: »… auch, wenn ich nächste Woche in Urlaub fahren möchte. Zwei Wochen nach Baden-Baden.« In Urlaub nach Baden-Baden, aha. »Ich möchte Sie dann auch bitten, nach meinen Haustieren zu sehen, wäre das möglich?« Bittend schaute er mich an und ich nickte. »Eine kurze Einweisung werde ich Ihnen dann noch geben.«
Eine Einweisung. »Um welche Tiere handelt es sich denn?«, fragte ich vorsichtig nach. »Um Wilhelmine, meine Schildkröte, und um … najaa, ich besitze ein Terrarium, darin lebt meine Isobelle, sie ist eine Kornnatter.«
»Eine SCHLANGE!?«, stieß ich hervor. Alles würde ich füttern, aber vor Schlangen fürchtete ich mich. »Sie ist ganz pflegeleicht und sehr genügsam«, versuchte er zu beschwichtigen. »Kommen Sie doch herein, ich zeige Ihnen meine Isobelle.« Sehr unwillig und zögerlich folgte ich meinem Nachbarn. In seiner Wohnung sah es ziemlich unordentlich aus, jedoch hatte er seiner Schlange einen schönen Platz am Fenster hergerichtet. Ein riesiges Terrarium. Ich hoffte, das Haustier würde sich heute nicht zeigen wollen, aber Isobelle sonnte ausgestreckt an der vorderen Wand und schien uns bereits gesehen zu haben. Sie hob interessiert den Kopf. Ich hielt mindestens zwei Meter Sicherheitsabstand vom Terrarium. Das Reptil war ziemlich lang, ich schätzte seine Körperlänge auf über einen Meter, es hatte eine auffällige gefleckte Färbung in Braun-Orange. Eigentlich hätte man Isobelle als schön bezeichnen können. Im Terrarium befanden sich ein ausgehöhlter Baumstamm und Äste, außerdem ein großes Wasserbecken, eine Waldlandschaft in Miniatur. »Kornnattern brauchen nicht viel zu fressen. Meine ist eine juvenile, also halbwüchsige Schlange, sie benötigt nur alle zehn bis vierzehn Tage Futter.« Er griff zum Deckel und wollte mir sein Schätzchen präsentieren, aber ich hielt ihn noch schnell zurück. »Bitte erst einmal nicht öffnen, ich muss mich erst langsam an das Tierchen gewöhnen.« Herr Johann blickte mich etwas verständnislos an und meinte: »Aber sie ist ja nicht einmal giftig und völlig harmlos für den Menschen. Ich kann das Terrarium jedoch unmöglich zu einem Freund bringen, das bedeutet unglaublich viel Stress für Isobelle.« Welchen Stress allein der Anblick dieser Schlange für mich bedeutete, konnte er sich vermutlich nicht vorstellen. »Ja, und wo steht das Futter?« Einmal in seinem Urlaub würde ich mich wohl überwinden können, ihr Futter in einen Spalt des Terrariums zu schütten … ich suchte nach einer Packung mit Schlangenfutter. »Das Futter befindet sich in der Garage, kommen Sie mit.« In einem weiteren Käfig hielt mein Nachbar Mäuse. »Hier entnehmen Sie dann eine der Mäuse und geben sie Isobelle ins Terrarium.« Ich glaubte, er scherzte. »Wie bitte? Lebend?«
»Ja, Schlangen fressen ja auch in der Natur nur lebendige Tiere. Sie brauchen das. Manche Tierhalter geben ihren Schlangen auch zuvor eingefrorene Mäuse, aber Isobelle lehnt das strikt ab. Sie liebt die Jagd. Es kann vorkommen, dass die Maus in ihrer Todesangst anfängt, Iso zu attackieren und zu beißen, dann müssen Sie sofort eingreifen und die Maus herausnehmen.« Das fehlte mir noch.
Ich sagte nichts mehr. Ich würde Max fragen, ob er diesen Part der Nachbarschaftshilfe übernehmen könnte. Schnell verabschiedete ich mich von Herrn Johann unter dem Vorwand, nun mein eigenes Haustier füttern zu müssen, und verließ fluchtartig die Junggesellenwohnung.