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»Ich habe immer nur den Zaun gesehen« Ernst Heimes

Pfingstspaziergang

 

So hatte ein Mann zu sein. Wie Du. Ich, Dein Ältester, hatte also eine Orientierung. Da musste ich hin. So wollte ich werden. Stark, gerecht, fleißig, immer bereit zu vergeben, wissend. Wenn ich aber versuchte dahin zu kommen, zu Dir, hast Du mich zurückgewiesen. Was ich für erstrebenswert hielt, weil ich es an Dir so sah und bewunderte, wurde zum Streitpunkt zwischen uns. Du, mein Ideal, wurdest zu meinem Gegner, wenn ich mich Dir, meinem Ideal, zu nähern versuchte. Wolltest Du in mir nicht das wiederholt sehen, was Du selbst bist? Was hattest Du Dir vorgestellt, wie ich einmal werden sollte, vor dreißig, vor zwanzig, vor zehn Jahren? Heute?
Du warst der Auslöser für meine Aktivitäten, über die ich Dir berichten will. Du wunderst Dich? Das ist der Grund, weshalb ich Dir diese Geschichte erzählen werde: Du bist für mich das Bindeglied zwischen der Zeit, der ich versucht habe mich anzunähern und mir.
An einem Pfingstsonntag, das wird jetzt acht oder neun Jahre her sein, spazierten wir über den Conder Berg. Du und ich. Da sprachen wir über den Tunnel und das Konzentrationslager. Erinnerst Du Dich? Du wolltest ja meistens überhaupt nicht über diese Dinge reden. Aber dieser Morgen war günstig, das merkte ich. Ich hatte damals nicht die Absicht, umfangreichere Nachforschungen zu betreiben, wollte aber einfach alles, was mit dieser Sache zu tun hatte und in Erfahrung zu bringen war aufschreiben. Mal sehen, was dabei herauskommen würde. Meine Erinnerungen an unser Gespräch von jenem Vormittag notierte ich am Abend des gleichen Tages aus dem Gedächtnis. Hier sind sie:

Auf dem Weg von Cond nach Treis kommt man an der Stelle des ehemaligen Tunneleingangs vorbei. Solange ich mich erinnere, standen dort gigantische Monumente aus Stahlbeton in der Landschaft. Als ich zuletzt dort war, dachte ich zunächst, ich sei am falschen Platz. Nichts von dem war mehr zu sehen. Ich blickte mich um, untersuchte den Boden und fand die Erde übersät von zerkleinerten Resten des Betons. An vielen Stellen war Gras darüber gewachsen.
Bei unserem Ausflug heute Morgen, fragte ich meinen Vater, ob er davon gewusst habe, dass die Betonklötze, die Reste des ehemaligen Tunnelportals, verschwunden sind. Ja, sagte er, davon habe er gehört, die seien vor kurzem gesprengt worden, er habe aber keine Ahnung, wozu das gut gewesen sein soll. Er hielte das für einen großen Blödsinn.
»Die Betonklötze«, sagte er, »stammten aber nicht von dem Tunnelportal, sondern von einem Bunker, der daneben stand.«
Davon hatte ich noch nie etwas gehört.
»Ich dachte immer, die Betonbrocken seien die Trümmer des zerstörten Tunnelportals gewesen, aber ein Bunker …?«
»Ja sicher, da stand ein Bunker direkt neben der Tunneleinfahrt. Genau wie auf der Bruttiger Seite. Die beiden Betonwürfel, die unterhalb des Bahndamms in den Bruttiger Weinbergen liegen, das sind die Reste von sogar zwei Bunkern.«
Auch diese beiden Riesenklötze hatte ich immer für die Reste des Portals gehalten.
»Wozu hat man die Bunker an den Tunnelmündungen gebraucht?«, wollte ich wissen. »Die Bevölkerung«, und das war mein erster Gedanke, »konnte doch bei einem Bombenangriff nicht in diese Bunker fliehen. Dazu war die Entfernung vom Dorf dorthin viel zu groß.«
Wenn die Bunker, überlegte ich, und mir kam nicht in den Sinn, welch anderem Zweck sie hätten dienen können, vor Angriffen aus der Luft schützen sollten, dann mussten sich doch Menschen an den Tunnelmündungen aufgehalten haben. KZ-Häftlinge? Und für diese wurden Bunker gebaut? Nein, das passte nicht. Außerdem hätte jeder Schutzsuchende sich gleich in den Tunnel flüchten können.
»Ich weiß auch nicht, was man in den Bunkern gelagert hatte«, sagte er.
»Gelagert? Bunker als Lagerräume?«
»Nach dem Krieg sind wir ja im Tunnel drin gewesen. Das muss gegen Ende 1945, Anfang 1946 gewesen sein, in der schlechten Zeit. Die Bruttiger waren alle direkt zur Stelle und haben sich, nachdem das Lager aufgelöst worden war, alles raus geholt, was sie brauchen konnten.«
»Das Lager«, wiederholte ich.
»Ja, das Lager. Während des Krieges wurde der Tunnel als Fabrik genutzt, und soviel ich weiß, sind hier von der Firma Bosch Teile für Raketen und Flugzeugmotoren gebaut worden. Die Gefangenen aus dem Lager mussten dort arbeiten.«
Er überlegte kurz: »Eigentlich war das ein Konzentrationslager.«
»Und wer waren die Gefangenen?«
»Politische, keine Juden.«
»Kriegsgefangene?«
»Wäre schon möglich, ich weiß es aber nicht.« Er erinnerte sich, wie die Gefangenen ankamen: »Die wurden am Cochemer Bahnhof aus Viehwaggons ausgeladen und dann über die Brücke, durch Cond die Mosel hinauf nach Bruttig getrieben. Das habe ich gesehen. Das hat jeder gesehen. Endlose Kolonnen waren das.«
»Wie viele Menschen waren denn in dem Bruttiger Lager untergebracht?«
»Das weiß ich nicht genau. Aber viele sind es gewesen, wirklich viele.«
»Erzähl’ mal, wie hat der Tunnel von innen ausgesehen? Warum seid ihr da hinein gefahren?«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir wollten mal sehen, ob da noch was zu holen war, das wir hätten brauchen können. Wir haben ein Waschbecken und ein Klo und so ein Zeug mitgenommen. Viel war da nicht mehr. Die besten Sachen hatten die Bruttiger schon. Der alte Schrank, der beim Jäb im Kelterhaus steht, der ist auch aus dem Tunnel. Wir konnten damals nach dem Krieg alles brauchen. Übrigens, das braune Waschbecken, das bei uns in der alten Waschküche hing, das kennst du doch noch, das hatten wir auch von da mitgebracht.«
Und ob ich es kannte! Ich versuchte, mir ihm gegenüber nichts anmerken zu lassen, aber dieses Waschbecken hatte ich plötzlich ganz klar vor Augen. Ich vibrierte innerlich. Wie oft hatte ich mir wohl darin die Hände gewaschen, wenn ich als Kind verdreckt vom Spielen nach Hause kam! Und vor mir? Wer wusch sich vor mir darin? Ich wehrte mich gegen diese, meine Gedanken und das Zittern in mir drin, atmete tief, ruderte mit den Armen, wie bei einer Gymnastik, lief ein paar Schritte, sog wieder Luft ein, legte den Kopf in den Nacken. Über mir bewegte der Wind das Adergeäst der Bäume vor dem weißblauen Himmel. Dann lief es wie ein Film vor mir ab: Häftlinge, wie auf bekannten Fotos aus Konzentrationslagern, nackt, Knochen dünn mit glänzender Haut bespannt … Solche vielleicht? Waren es Menschen vor der Exekution, womöglich ohne in diesem Moment schon davon zu wissen oder um ihr mit Würde, mit gewaschenen Händen, entgegen zu gehen? »Auf der Flucht erschossen!« Wusch sich der Lagerkommandant in diesem Becken seine Hände in »Unschuld«? Benutzten es die Männer von den Wachmannschaften, die, die souverän die tödlichen Befehle erteilten? Und dann ich, als ich Jahre später verdreckt vom Spielen nach Hause kam. Filmriss.
Ich hörte meinen Vater sagen: »Wir sind in den Tunnel hinein gefahren, von der Bruttiger Seite aus. Der war gerade so breit, dass zwei Züge hätten aneinander vorbeifahren können. Auf der rechten Seite, also bergwärts, war eine Straße angelegt, und links der Straße befanden sich gemauerte Boxen, in denen sich scheinbar die Werkstätten, vielleicht auch Unterkünfte befanden.« Mit seinem Stock kratzte er eine Skizze des Tunnels auf den trockenen Waldboden.
»Es ist verrückt«, sagte er kopfschüttelnd, »dass der Tunnel gesprengt wurde. Das geschah auf Veranlassung der Franzosen während der Besatzungszeit. Die haben nicht nur die Eingänge gesprengt, sondern auch einige Male in der Mitte. Die ganze Röhre ist hin. Gerade heutzutage, wo es wieder brenzlig werden könnte, wäre so ein Tunnel doch nützlich.«
Ich sagte, heute im Atomzeitalter sei das so eine Sache. Da sei auch ein solcher Tunnel kein sicherer Schutzraum mehr.
»Nach dem Krieg, bevor die Franzosen das Ding in die Luft gejagt haben, hatte ein Cochemer eine Champignonzucht auf der Bruttiger Tunnelseite angelegt. Das war doch eine gute Sache! Aber dann, lange nachdem der Krieg vorbei war, eine solche Zerstörung.«
»Nun, man kann die Franzosen ja auch verstehen«, sagte ich, »wenn ihre Landsleute in der Tunnelfabrik Zwangsarbeit leisten mussten oder sogar darin umgekommen sind.«
»Ja, da hast du Recht. Als Reaktion von Betroffenen kann man das natürlich verstehen.«
Nach unserem Spaziergang fuhren wir nach Bruttig. Wir wollten uns unbedingt heute noch den alten Bahndamm anschauen, der quer durch den ganzen Ort in die Weinberge hineinführt und irgendwo in der Nähe der beiden Bunkerreste endet, da, wo der Tunneleingang gewesen sein muss. Oben auf dem Bahndamm, mitten im Ort, fiel uns eine heruntergekommene Baracke auf. Mein Vater sagte, das sei eine von mehreren Unterkunftsbaracken für KZ-Gefangene gewesen. Auf einem hölzernen Schild an der Seitenmauer des Bahndamms war neben anderen Wandervorschlägen zu lesen: Tunnelweg, 20 Minuten.

 

Bis zu diesem Tag hattest Du mir nie etwas vom Tunnel und den Lagern erzählt und seitdem auch nichts mehr. Nur an dem Abend des besagten Pfingstsonntages, ich war gerade dabei, unser Gespräch zu notieren, riefst Du mich an und machtest mich auf eine Zeitschrift aufmerksam, die im Dezember 1978 erschienen war.
»Da steht etwas über das Lager Bruttig drin.«
»Welche Zeitschrift ist das?«
»Zündkopf heißt sie. Die Jusos haben sie herausgegeben. Ich komme morgen bei dir vorbei und bringe sie dir mit.«
Zündkopf. Dieser hatte eher den Charakter eines im Selbstdruckverfahren hergestellten, mehrseitigen Flugblattes, als den einer Zeitschrift. Auf DIN-A4-Blättern wurde unter der Überschrift Was nicht im Heimatbuch steht über das KZ Cochem berichtet. Für mich war das die erste gedruckte Information zu dem Thema.
»Wegen des Artikels hat es damals ziemlich viel Aufregung gegeben«, wusstest Du. »Hier, lies mal: Die Außenkommandos sind in ihrer nächsten Umgebung unbekannt geblieben und wurden und werden bewusst totgeschwiegen. Wie gut diese kollektive Verdrängung von Schuld und schlechtem Gewissen nach dem Krieg bis heute funktioniert …« An dieser Stelle hörtest Du auf, vorzulesen, blättertest hin und her und sagtest dann: »Hier noch was. Da steht: In unserer Gegend betrug die Zahl der Familien, die in einem Dorf wie Bruttig als Gegner des Naziterrors bekannt waren, eins bis zwei. Das ist doch kein Wunder, dass sich die Leute über den Artikel aufgeregt haben.«
»War es denn nicht so?«, fragte ich.
»Viel anders war es sicher nicht. Aber das waren ja auch extreme Zeiten, davon macht ihr euch heute ja gar kein Bild mehr.«
»Mir ein Bild machen«, sagte ich. »Das ist es. Genau das will ich versuchen.«

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