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»Ins Herz gestellt« Kajo Nelles

November 2018

Liebe Frau Merkel, schon wieder zieht am Horizont dort drüben, wo das Meer in den Himmel übergeht, eine schwarze Gewitterfront auf. Jetzt kann es nur noch Minuten dauern bis auch hier über einem kleinen Frühstücksrestaurant auf Koh Samui der Regen mit aller Gewalt niederprasseln wird.
Als ich Anfang der Achtzigerjahre hier am Strand saß, hörte ich von den thailändischen Fischern, dass sich wieder einmal ein toter menschlicher Körper in ihren Netzen verfangen hatte. Aus Vietnam und Kampuchea jenseits des Horizonts machten sich Hunderttausende in überfüllten, seeuntauglichen Booten auf in Richtung Thailand und Malaysia: die Boatpeople!
Obwohl auch hier am Strand hin und wieder menschenüberladene Boote an Land gingen, waren diese Menschen für mich, den Globetrotter, sehr weit weg. Sie gehörten nicht zu meiner Welt. Jetzt, vierzig Jahre später, sind sie ganz nah. Sie kommen über das Mittelmeer und sie finden ihren Weg bis in mein kleines Eifeldorf.

Ich muss Ihnen heute einfach schreiben, um Sie wissen zu lassen, dass Sie mein Leben – ohne dass Sie mich kennen – vom Kopf in das Herz gestellt haben.

Als ich die Bilder des Willkommen-Heißens der ersten Flüchtlinge in Bayern sah, habe ich erstmalig in meinem Leben so etwas wie Freude verspürt, dass ich einer dieser Landsleute bin.
Ich muss diese Aussage etwas einschränken. Mir ist das bei einer anderen Gelegenheit schon einmal passiert. Ich nahm in Schottland an einer internationalen Konferenz mit Menschen aus dutzenden Ländern teil. Bei dieser Konferenz stand eine ehemalige irische Nonne, die zur Sängerin mutiert war, auf und zollte der deutschen Sprache ihren Respekt. Als Beispiel der Schönheit der deutschen Sprache, sagte sie Worte wie: »Liebe«, »Schönheit«, »Zärtlichkeit«. Beim Klang dieser Worte und beim Nachklang ihrer sanften Stimme lief mir ein heißer Schauer über den Rücken. Im Ausland war ich, zumindest noch bis in die Siebzigerjahre, meist mit knappen Worten wie »Achtung«, »Verboten« und »Ordnung« konfrontiert worden. Die Worte der ehemaligen Nonne versöhnten mich mit meinem Land. Ich merkte, wie eine große Scham und Schuld von mir abfiel und ich mich freuen konnte dazuzugehören.

Es gibt aber auch noch einen anderen Grund, weshalb ich mich hingesetzt habe, um Ihnen diesen Brief zu schreiben.
Als ich noch im Tanztheater arbeitete, erlebte ich Abend für Abend ein begeisternd klatschendes Publikum, zumeist jedenfalls. Und dann kamen von den hunderten Zuschauern vielleicht zwei, vielleicht fünf hinter die Bühne, um dem Tänzer zu gratulieren oder um ihm mitzuteilen, was sie so sehr an seiner Performance berührt hatte. Und ich spürte, wie dieses direkte Sprechen, das Miteinander des Künstlers und des Zuschauers beide jenseits des allgemeinen Applauses katapultierte. Die Begegnung Mensch zu Mensch ist eine vollkommen andere als die Begegnung Mensch zu Masse. Das Zweite ist eine allgemeine Anerkennung einer Leistung, das Erste ist die Versicherung: »Ich bin da, ich sehe dich und du bist da, du siehst mich.«

So möchte ich diese Zeilen an Sie verstanden wissen, Frau Bundeskanzlerin. Hinter allen Rollen, die wir in unserem Leben spielen, steht immer der Mensch, der nackt geboren wurde und der allein sterben wird, eine Plattitüde.
Der- oder diejenige, der oder die aus der Masse hervortritt, spricht in vielen Fällen das aus, was viele, viele andere denken und fühlen und, aus welchem Grund auch immer, nicht direkt kommunizieren.
Warum aber kommen nur so wenige Menschen aus dem Publikum zum Künstler? Natürlich aus dem gleichen Grund, weswegen so wenige direkt zur Bundeskanzlerin gehen. Auch wenn das Publikum von dem, was es erlebt hat, begeistert ist und es spontan den Künstler in die Arme schließen will, sagt sich doch der überwiegende Teil der Zuschauer, dass eine persönliche Gratulation für den Künstler zu viel ist – was ja auch stimmt! Wenn das alle täten, würde der Künstler überwältigt. Wie Recht sie haben! Dennoch, gäbe es nicht den einen oder anderen ganz normalen Zuschauer, der aus der Menge hervortritt, würde der Künstler schnell abheben und den Kontakt zu seinem Publikum verlieren. Er wäre nur noch auf die mehr oder weniger wohlwollenden oder kritischen Ansichten der Kritiker oder Journalisten angewiesen, um seine Kunst einordnen zu können. Und wohin führt das? Heute nennen wir das abgehobene Kunst auf den Stadttheaterbühnen, abgehobene Ausstellungen mit geistreichen Konzepten in den Museen, oder in Ihrem Fall: abgehobene Politik mit abgehobenen Politikern. Dabei wollten und wollen die meisten Künstler und auch die meisten Politiker doch etwas Gutes für die Menschen
schaffen.

Also erlaube ich mir, das Wort an Sie zu richten und zu versuchen, Ihnen zu erzählen, wieso Sie mir mit Ihrer Offenheitsentscheidung so sehr ins Herz getroffen haben. Ihre Entscheidung führte zu einer eigenen Offenheitsentscheidung mir selbst, dem Leben und meinen Mitmenschen gegenüber. Das ging ja vielen hunderttausenden unserer Landsleute damals so!

Die täglichen Bilder der fliehenden Frauen, Männer und Kinder, die auf mich einströmten, wurden immer unerträglicher. Hier lag ich auf meinem schönen Sofa in meinem schönen Haus, das ich nach einem wahrhaftigen Geistesblitz mit sehr viel Liebe vor fünfzehn Jahren gebaut hatte: eine Oase am Rande meines Geburtsortes in der Eifel.

Die Wiese hatte ich von meiner Mutter als vorzeitiges Erbe geschenkt bekommen. Hier hatte ich als Kind mit meinem Vater Heu gemacht. Hier war ich im Sommer in kühlen Morgenstunden mit meiner Mutter unsere zwei Kühe melken gegangen. Der Acker gehörte schon seit Generationen unserer Familie. Das Feld gleich neben dem unsrigen gehörte meinem Ohm. Aus der Konstellation, wem die Felder rechts und links neben dem eigenen Feld gehörten, konnten auch die nachfolgenden Generationen sofort erkennen, aus welchem Familienteil das eigene Grundstück vererbt worden war. Dafür mussten sie nicht in einem Grundbuch nachschauen.

 

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