»Die Frauen vom Heintzenhof« Christine Kaula
Kapitel Eins
»Sub virga degere« Unter der Rute leben
Mariechen wurde in einem kleinen Dorf in der Vulkaneifel geboren. Ihre Eltern Anna und Peter, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geboren, bekamen elf Kinder: Else, Vinzenz, Karl, Hermann, Martha, Marie, Adam, Käthe, Heinrich, Martin und Johanna. Im Geburtsjahr Mariechens war Deutschland noch eine konstitutionelle Monarchie. An der Spitze stand Kaiser Wilhelm II., dessen Macht jedoch durch die Verfassung beschränkt war. Damals begann auch der Wettlauf zum Südpol zwischen Amundsen und Scott. In London erhoben sich die Frauenrechtlerinnen und verlangten das Wahlrecht. Ein Modeschöpfer namens Paul Poiret erfand den Humpelrock. Von vielem hat Mariechens Mutter, die Anna, gewiss nichts gewusst. Und wenn, wäre es ihr ziemlich gleichgültig gewesen. Sie hatte andere Sorgen. Ihre Kleidung war keiner Mode unterworfen, der Rock fiel lang bis auf die Füße, die Schürze war blaugestreift, und das Kopftuch durfte nicht fehlen. Ihr Mann Peter, Mariechens Vater, trug zu seinen Hosen einen Leinwandkittel aus blauem Stoff mit dünnen weißen Streifen. Reiche Leute kleideten ihre Kinder in den allseits beliebten Matrosenlook. Mariechens Eltern konnten das nicht. Deren Kinder waren denkbar einfach angezogen. Im Säuglings- und Kleinkindalter trugen Mädchen wie Jungen einfache Kittel, und aus ebenso simplem Grund trugen sie keine Höschen. Aber Unterwäsche war sowieso kein Thema. Auch Anna trug keine Unterhosen.
Obwohl man damals schon hätte im Krankenhaus entbinden können, war es auf dem kleinen Dorf in der Vulkaneifel nicht üblich. Es wäre auch viel zu umständlich gewesen, denn das nächste Krankenhaus lag mindestens fünfzehn Kilometer weit weg. Wie hätte man dorthin kommen sollen? Mit Pferd und Wagen? Mit der Kraftpost? Die Hebamme wurde gerufen in der Hoffnung, dass alles einigermaßen gut gehen würde wie bei den Geburten zuvor.
Mariechen lag in einer hölzernen Wiege, die neben dem Stubenofen gleich neben der Küche stand. Es war Februar und sehr kalt, und die Schlafzimmer konnten nicht geheizt werden. Der Vater war damals schon 45 Jahre alt; seine Frau 35. Mariechen war das sechste Kind nach drei Söhnen und zwei Töchtern, alle im Abstand von einem oder höchstens zwei Jahren geboren. Und so ging es immer weiter, bis elf Kinder das Licht der Welt erblickt haben. Als Letzte würde Johanna geboren werden. Johanna, das Sorgenkind, liebte seine Heimat, wurde dennoch gleich seinen älteren Schwestern hinaus in die Welt geschickt, um Geld zu verdienen. Johanna ging verloren und kehrte nie mehr in ihr Dorf zurück. Jahrzehntelang blieb sie verschollen.
Mariechens Vater wandte sich nach einem Blick auf das kleine hilflose Bündel mit der Bemerkung ab: »Ach, nur ein Mädchen.« Ein Mädchen war nicht so viel wert wie ein Knabe. Und noch hatte niemand die Missbildung beider Füße entdeckt, an der das Kind sein Leben lang leiden würde.
Der Säugling wurde gestillt, gewickelt und zum Schlafen wieder in die Wiege gelegt. Mehr Zeit für eine liebevolle Betreuung konnte Anna nicht erübrigen, obwohl sie das kleine Mädchen, wie seine Geschwister, wohl herzlich liebte. So schrie es auch oft, ohne dass gleich jemand kam und es aufnahm. Aber die Großmutter Agathe hat wohl manches Mal das Bettchen mit dem Säugling gewiegt.
Mariechen wurde in der stetig wachsenden Großfamilie schon früh zum Helfen herangezogen. Selbst für Kinder gab es in den bäuerlichen Haushalten schon allerlei zu tun: Geschwister verwahren, Vieh hüten, Spülen und Putzen. Auch bei der Feldarbeit waren die Kinder immer dabei. Unkraut jäten, beim Heuen helfen, bei der Getreideernte die liegen gebliebenen Halme aufsammeln. Damals wurde noch die Drei-Felder-Wirtschaft betrieben. Ein paar Stück Glanvieh (damalige traditionelle Hausrindrasse der Region mit einfarbigem, gelbem Fell) besaß der Hof, und die Schafe weideten auf der Brache.
Zum Spielen blieb nicht viel Zeit. Und wenn, dann wurde Verstecken gespielt oder Nachlaufen oder all die Spiele, die Kinder sich ausdenken, wenn sie kein oder wenig Spielzeug haben. Die Mädchen ahmten mit einer Lumpenpuppe ihr künftiges Schicksal als Frau und Mutter nach, die Jungen jagten sich auf Steckenpferden hinterher, kletterten auf Bäume oder bekämpften sich mit Holzschwertern. Zinnsoldaten, das Spielzeug der Knaben reicher Familien, waren teuer und wahrscheinlich in bäuerlichen Familien kaum zu finden.
Als Mariechen vier Jahre alt war, begann der Erste Weltkrieg, eine schreckliche Zeit auch auf dem Lande. Kolonnen von deutschen Soldaten zogen Richtung Frankreich. Jedes Dorf musste Schlachtvieh abliefern, so dass bei Kriegsende die Bestände um die Hälfte reduziert waren. Millionen von Toten waren der Preis für vier Jahre sinnloser Stellungskriege. Das Land lag wirtschaftlich am Boden. Mariechen erinnert sich nur daran, dass es viele Bettler gab, die von Tür zu Tür wankten und um Brot baten.
Auch ihre Schulzeit in der einklassigen Dorfschule war kein Zuckerschlecken. Für Mariechen gab es nur diese Schule, in der die Kinder in einem Klassenraum vom ersten bis zum achten Schuljahr beieinander saßen und von einem Lehrer unterrichtet wurden, der selbst kein richtiges Studium vorweisen konnte. Sein Umgang mit den Schülern war militärisch-streng, Prügelstrafen gab es für das kleinste Vergehen. Es ging zu wie auf dem Kasernenhof.
Mariechen lernte Schreiben und Lesen. Der Umgang mit den Zahlen beschränkte sich auf die Grundrechenarten Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. Von allem, was darüber hinausging, verstand der Lehrer wohl selbst nicht das meiste. Religion dagegen wurde ganz großgeschrieben. Diesen Unterricht erteilte der Dorfpfarrer. Er wurde geehrt und gefürchtet zugleich, denn er hatte den direkten Draht zum Himmel. Er taufte und beerdigte, er las die Messen und hörte die Beichte. Er kannte die Sünden eines jeden Dorfbewohners und wusste um alle ehelichen (und unehelichen) Geheimnisse. Nichts blieb ihm verborgen.
War Erntezeit, wurden die Kinder im Hause gebraucht, dann fiel schon einmal die Schule aus. Auch schickte der Lehrer die Schüler im Sommer zum Blaubeeren pflücken oder Pilze sammeln in den Wald, was als Ausflug deklariert wurde. Die Ausbeute gehörte natürlich ihm selbst. Die männlichen Schüler waren dazu angehalten, den Lehrerhaushalt täglich mit frischem Wasser vom Dorfbrunnen zu versorgen; die Lehrersfrau brauchte dies nicht selbst zu tun. Auch an Butter, Mehl, Eiern und Fleisch hatte der Lehrerhaushalt keinen Mangel, dafür sorgten die Eltern.
Die Mädchen wurden schon früh angehalten, sich im Handarbeitsunterricht die ersten Fertigkeiten im Nähen, Stricken, Stopfen und Weißwäscheflicken anzueignen, sofern sie dies nicht schon zu Hause erlernt hatten. Diesen Unterricht gab eine Schneiderin, die dafür einen kleinen Obolus erhielt. Mariechen wurde von ihrer Großmutter, später von ihrer älteren Schwester Else mit den ersten Arbeiten dieser Art vertraut gemacht. Auch ein Spinnrad war im Haus, das Spinnen erlernte Mariechen ebenfalls schon früh.
Handarbeiten wurden auch als Strafarbeit verordnet, aber es gab auch Strafen anderer Art. Zum Beispiel das Knien auf Holzscheiten. Auf der spitzen Seite, versteht sich. Marie hat es einmal als Strafe bekommen, weil sie dem Lehrer ein Widerwort gegeben hatte, und sie hat diese Marter nie vergessen. Als sie es zu Hause erzählte, hat sie gleich noch einmal Schläge einstecken müssen, da die Eltern dem Lehrer für seine Maßregelung recht gaben. Mariechens Schulzeit war keine schöne Zeit, beileibe nicht. Wegen der ständigen Angst vor Strafe machte ihr das Lernen nicht viel Freude, und ihr Zeugnisheft hatte sie gut versteckt, so dass es nie gefunden wurde.
Marie war froh, als die Schulzeit vorbei war. Inzwischen war das letzte ihrer Geschwisterkinder, Johanna, fünf Jahre alt. Einige Brüder waren schon aus der Schule entlassen und hatten sich als Knechte verdingt. Heinrich war der Einzige, der sich für Politik interessierte. Else war schon verlobt. Auf dem Hof, im Stall und auf dem Feld gab es viel zu tun.
Der Vater machte den Vorschlag, dem fünfzehnjährigen Mariechen auf dem Dingmarkt einen Arbeitsplatz zu suchen (Kram- und Viehmarkt mit angeschlossenem Platz, an dem Dienstboten standen, die eine Anstellung suchten). Aber sie wehrte sich mit Händen und Füßen. Nur nicht von zu Hause fort, lieber alle Arbeit tun.
Auf der Kirmes verliebte sie sich in einen Burschen aus dem Nachbardorf, der sie zum Tanzen geholt hatte, dann aber feststellte, dass sie wegen ihrer deformierten Füße keine gute Tanzpartnerin war und nicht noch einmal an ihren Tisch kam. Einige Wochen schmachtete sie sich die Seele aus dem Leib, dann war dieses Thema vorerst für sie abgehakt. Sie wollte sich nie wieder verlieben, beschloss sie, lieber allein bleiben, als sich lächerlich zu machen.