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Leseproben ausgewählter Bücher

»Die Drückerkönigin« Michael W. Caden

Prozesstag 1

Das Böse und ihr williger Schatten

 

November 1997. Landgericht Koblenz. Saal 128. Es ist der erste Prozesstag in der Mordsache Silvio Bukowski. Sechs Verhandlungstage hat das Gericht insgesamt angesetzt, um eine plausible Erklärung für die brutale Bluttat, die sich einige Monate zuvor auf einem kleinen, abgelegenen Bauernhof im unteren Westerwaldkreis ereignet hatte, zu finden. Beinahe pünktlich mit dem Neun-Uhr-Läuten von der nahen Liebfrauenkirche sind an diesem Mittwochmorgen zwei Dutzend martialisch bewaffnete Polizisten am Landgericht in der Koblenzer Karmeliterstraße angerückt, haben akribisch die Personalien der Zuhörer kontrolliert, sie im Sekundentakt einzeln und vor laufenden Kameras der TV-Sender durch die Sicherheitsschleuse am großen Schwurgerichtssaal gelotst und sie zusätzlich noch mit hochsensiblen Sensoren abgetastet.
»Für alle Fälle! Man weiß ja schließlich nie!«, meint ein Wachtmeister zu einem älteren, weißhaarigen Herrn, der sich mit einer abgewetzten Lederaktentasche und einem grünmelierten Regenschirm durch eine dichte Menschentraube den Weg in den Zuhörerraum bahnt, und fügt hinzu: »Das Drücker-Milieu ist schließlich brandgefährlich.«
Der alte Mann mit den großen Brillengläsern und der hellen beige-
farbenen Blousonjacke ist einer der ersten Besucher an diesem Morgen gewesen, der sich ganz vorne in der Poleposition der langen Warteschlange vor dem Verhandlungssaal 128 im ersten Obergeschoss des Koblenzer Landgerichtes eingereiht hat. Der Linoleumboden ist frisch poliert; es riecht penetrant nach Bohnerwachs.
Draußen liegt ein dunkelgrauer und fast blätterloser Herbst in seinen allerletzten Zügen. Der Winter steht vor der Tür. An diesem Tag hat der Alte mit dem Dreitagebart, der in der Nacht zuvor schlecht geschlafen hatte, seine täglich zelebrierte Morgentoilette durch eine Katzenwäsche ersetzt, um zeitig beim Prozessauftakt dabei zu sein. In seiner alten, verschlissenen Aktentasche befinden sich eine Thermoskanne mit extra stark aufgebrühtem Kaffee und zwei mit einer schmierigen Wurst belegte Butterstullen. In den Jahren nach seiner Pensionierung hat der frühere Finanzbeamte sich nach dem plötzlichen Tod seiner Frau in seiner Dreizimmerwohnung in der Koblenzer Altstadt mit dem Alleinsein und der Tristesse des Alltags arrangiert. Lediglich seine Besuche bei Gericht bescheren ihm für einige Stunden eine willkommene Abwechslung. Hobbys hat er keine, die hatte er nie. Das Abarbeiten von Aktenbergen aus Steueranträgen, das war seine Welt gewesen.
Der eher unauffällige Alte mit der etwas blassen Gesichtsfarbe hat sich auf einen längeren Prozesstag eingestellt. Seit einigen Jahren schon geht er bei öffentlichen Strafprozessen ein und aus. Selten verpasst er einen brisanten Fall am Landgericht. Zwei Jahre zuvor, 1996, hatte er in einer der hinteren Zuhörerreihen gesessen, als stern-TV-Moderator Günther Jauch in eine äußerst ungeliebte Rolle schlüpfen musste. Damals verhandelte das Gericht gegen den als »TV-Fälscher« bekannt gewordenen »Journalisten« Michael Born, den »Kujau des Fernsehens«, wie ihn die Gazetten bezeichneten, der verschiedene Privatsender mit eigens inszenierten Beiträgen beliefert hatte. Allein die Redaktion von »stern-TV« kaufte und sendete aus Borns Filmwerkstatt ein rundes Dutzend Beiträge. Die Republik verfolgte vor den Fernsehern in den heimischen Wohnzimmern verwundert Beiträge über verschwörerische Ku-Klux-Klan-Aktivitäten in der Eifel. Brutale Katzenjäger wurden gehetzt oder man stieg mit vermeintlichen Heroinabhängigen hinab in die Kloaken der Frankfurter Drogenszene. Was zunächst niemand ahnte: Die vermeintlich hoch investigativen Reportagen waren reine Fantasieprodukte, an ihnen stimmte so gut wie kaum ein Detail, es waren allesamt Hirngespinste eines bis dahin wenig erfolgreichen Journalisten. Unter den weißen Kapuzen des Ku-Klux-Klans steckten zum Teil Laienschauspieler aus Borns Bekanntenkreis. Seine Mutter hatte die Kleidung für den furchterregenden Geheimbund zu Hause in der Stube genäht, in dem guten Glauben, ihr Michi brauche sie für die Theateraufführung einer Laienspielgruppe. Für die Wachtmeister ist der Alte einer der zahllosen Berufszuhörer, die bei den großen und spektakulären Prozessen wie kleine Heuschreckenschwärme, Voyeuren gleich, in die Gerichtssäle einfallen. Die Justizbeamten schenken ihnen kaum Beachtung, den Alten kennen sie lediglich mit Vornamen, Heinrich heißt er.
Heinrich ist Anfang siebzig und redet nie allzu viel. Um seine Person macht er kaum Aufhebens. Heinrich hört lieber zu, und er beobachtet alles akribisch genau. Das hat er schon sein ganzes Leben getan. An diesem Morgen konnte er sich hinter einer Meute Journalisten ganz vorne im Zuhörerraum einen Platz ergattern. Hier sitzt er gerne. Irgendwie fühlt er sich dort in unmittelbarer Nähe der Pressebank unter seinesgleichen. Der Mann mit dem sauber gezogenen Mittelscheitel und der beinahe pergamentartigen Gesichtshaut mag es, wie die Reporter an den Worten der Angeklagten kleben. Er liebt es geradezu, wie sie begierig alles aufsaugen – jedes Wort, das fällt, jede noch so unauffällige Geste, kaum etwas bleibt in den späteren Beiträgen unerwähnt. Schon ein leiser Seufzer hat das Zeug zur Mega-Schlagzeile. Und jeder Prozesstag kann neue Details der menschlichen Verrohung und Gewalt zutage fördern. Darin liegt für ihn die Spannung.
In diesem Moment betreten zwei junge Frauen den Verhandlungssaal durch einen Nebeneingang, der den Angeklagten vorbehalten ist. Sie sind in Begleitung von mehreren Justizbeamten, während augenblicklich ein grelles Blitzlichtgewitter über sie hereinbricht, flankiert von lautem Getuschel in den Zuhörerreihen. Die Pressebank ist dichtbesetzt mit Journalisten. Kameras surren. Regina Leininger, in der Szene nur kurz Gina genannt, schreitet in Handschellen vorneweg, die Kapuze ihres schwarzen T-Shirts tief ins Gesicht gezogen, wie ein Boxer, der den Ring betritt: aufrecht, die Beine schüttelnd. Sie wirkt taff. Doch sie ist angeschlagen. Es wird ihr letzter Kampf sein. Und eigentlich hat sie ihn schon verloren. Das weiß sie nur zu genau. Ihr Gesicht ist vom Krebs gezeichnet, das Endstadium der Krankheit sichtbar nahe. Die Blitze, die Kameras, die Reporter – sie nimmt kaum Notiz davon. Für die gerade einmal fünfundzwanzig Jahre alte Frau ist dieser Prozess ein lästiges Übel. Noch eine letzte Runde, die ein paar Verhandlungstage anhält. Und bloß nicht zu Boden gehen, sich abducken und den juristischen Schlägen, die sie in diesem Strafverfahren über kurz oder lang vernichten könnten, ausweichen – ausweichen, so lange noch die Zeit dafür vorhanden ist. Eigentlich will sie nur noch eins: In Würde aus dem Ring, der Leben heißt,
abtreten.
Dahinter schlängelt sich in drei, vier Schritten Entfernung Franziska Obermaier durch die schmale Seitentür in den Verhandlungssaal. Sie ist Anfang zwanzig, eine leicht pummelige Frau mit einem extremen Kurzhaarschnitt. Auch sie hat man fixiert, auch sie trägt Handfesseln. Ihre von Natur aus dunkelblonden Haare hat sie in der Untersuchungshaft gothic-schwarz gefärbt. Die vielen Blitzlichter nehmen der jungen Frau mit dem runden Waschbär-Gesicht für den Bruchteil einer Sekunde die Orientierung. Vor dem Tisch, an dem die Angeklagten mit ihren Verteidigern Platz nehmen, stößt sie an eine Stufe, sie strauchelt, kann sich aber sofort wieder fangen.
»Das Böse in Person«, wie eine überregionale Zeitung Gina Leininger in dicken Lettern titulierte, sitzt indes fahl, abgemagert und mit starren Gesichtszügen auf der Anklagebank, einem Kaninchen gleich, das ahnt, dass es über kurz oder lang von der Schlange den tödlichen Biss erhalten wird. Diese Schlange, die Giftnatter, wie sie sie jetzt nennt, das ist ihre ehemalige Kollegin und Freundin Franzi Obermaier. »Sie war wie ein Schatten, der mir folgte, solange die Sonne schien«, zitierte sie ein Reporter der Bild-Zeitung.
Beinahe regungslos hockt die einstige Drückerchefin zwischen ihren beiden Verteidigern, schutzsuchend wie ein Kind vor den Dämonen der Nacht. Dort fühlt sie sich abgeschirmt.
Einer ihrer Anwälte erzählt einem Kollegen beiläufig von seinem Seychellenurlaub, dass die Mädchen, die dort am Straßenrand Passionsfrüchte oder Avocados verkaufen, hübscher seien, als so manches hoch dotierte europäische arrogante Laufstegmodell. Und sie seien leicht ins Bett zu bekommen, versichert er dem Anwaltskollegen in der schwarzen Robe, der die Arme vor der Brust verschränkt hat und begierig lauscht. Beide haben die junge Frau neben sich in der Anklagebank vollkommen verdrängt. Sie scheint in diesem Augenblick keine Rolle zu spielen.
Während der U-Haft ist das einstige Schwarz aus Ginas Haaren beinahe verschwunden, es hat sich ausgewachsen. Sie starrt auf ihre Hände. Kein einziges Mal wird sie zu der Frau mit dem Waschbär-Gesicht blicken, die jetzt vom Nachbartisch mit leicht gesenktem Kopf herüberschaut. »Das kleine Dreckstück kann mir gestohlen bleiben«, hatte sie sich in einem Interview verbittert einem Reporter gegenüber geäußert. Für Gina, die seit der Untersuchungshaft um Jahre gealtert zu sein scheint, ist Franzi »tote Materie«. Erledigt. Abgeschrieben. Biomüll. Nicht mehr unter den Lebenden. Die einstige enge Freundschaft von Gina und Franzi, sie ist Geschichte.

Franzi Obermaier und Gina Leininger gingen einen Sommer lang zusammen auf Abonnenten-Jagd, schwatzten unbedarften Leuten alle erdenklichen Hochglanzzeitschriften auf, indem sie ihnen die haarsträubensten Märchen auftischten. Gina war die ungekrönte Königin in der Szene, Franzi ihre rechte Hand, ihre »kleine Abo-Kröte«, wie sie die Einundzwanzigjährige gerne scherzhaft nannte. In ihr schlummerte ein Riesentalent, wenn es darum ging, den Kunden ein schnelles Abonnement aufzuschwatzen. Franzi machte mit Abstand die meisten Scheine und brachte Ginas Kolonne finanziell auf Vordermann. Scheine waren ihr Kapital. Wie man am Geschicktesten an sie rankommt, hatte sie von der Pike auf gelernt. Durch Scheine ließen sich Träume erfüllen. Franzi und Gina waren unzertrennliche Freundinnen, für kurze Zeit teilten sie miteinander ihr Leben. Und sie bestraften gemeinsam die Erfolglosen, wenn sie nicht lieferten, was von ihnen erwartet wurde. Doch das ist jetzt Vergangenheit.

»Erheben Sie sich bitte!«

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