»Wagen wir endlich die Vereinigten Staaten von Europa!« Michel Dévoluy
Warum brauchen wir die Vereinigten Staaten von Europa?
Schauen wir uns die Welt an. Werden wir sie gestalten oder sind wir nur Zuschauer? Dieses Buch ist ein Aufruf zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa, und zwar schnell. Dabei werden wir nicht unsere nationalen Identitäten aufgeben müssen. Im Gegenteil, wir wollen die Menschen davon überzeugen, dass es dringend notwendig ist, einen echten europäischen politischen Raum zu schaffen.
Europa hat alles, was es braucht, um ein mächtiges, geeintes und vorbildliches politisches Ganzes zu werden. Aber es ist erst auf halbem Weg. Nach fast 70 Jahren Entwicklung ist es unvollendet und bleibt deshalb zerbrechlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Europäer nicht bereit, direkt mit dem Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa zu beginnen. Indem sie einen zwischenstaatlichen Ansatz wählten, taten sie realistisch das Bestmögliche. Seitdem haben sich die Mitgliedstaaten darauf geeinigt, bestimmte Befugnisse an die Europäische Union zu übertragen, einschließlich der Schaffung und Kontrolle des Binnenmarkts und des Euro. Aber diese Union verfügt nach wie vor nur über einen sehr kleinen Haushalt und hat keine Kontrolle über wichtige souveräne Bereiche wie Verteidigung und Außenpolitik. Sie ist daher nach wie vor nicht in der Lage, alle ihre Kräfte und Fähigkeiten für ihre Bürger einzubringen. Die Union, die durch den Egoismus der Mitgliedstaaten behindert und durch den Inhalt der europäischen Verträge blockiert wird, ist nur teilweise souverän und demokratisch. Ohne eine eigene Regierung hängt sie zu sehr von den einzelnen Staaten und nicht genug vom Willen ihrer Bewohner ab.
Darüber hinaus verändert sich unsere Welt. Angesichts der großen Umweltprobleme und geopolitischen Herausforderungen (ungezügelte Globalisierung, Druck der Weltmächte, Folgen der Migrationsströme) hat ein gemeinsames Europa die richtige Größenordnung für effizientes Handeln. Kein europäischer Staat wird allein in der Lage sein, die Zukunft zu meistern. Wenn wir die Realität der Welt und die Unvollständigkeit des heutigen Europas betrachten, kann es nur eine Lösung geben: Lasst uns die Staaten und Völker Europas vereinen. Die zwischenstaatliche Zusammenarbeit des jetzigen Europa hat zweifellos Fortschritte gemacht. Ferner haben wir uns daran gewöhnt, dass die gegenseitigen Abhängigkeiten zu Kompromissen führen, die durch die Vorherrschaft der Nationalstaaten bedingt sind. Aber das System ist veraltet und jetzt ist es an der Zeit, einen echten europäischen Föderalismus zu schaffen; und das schnell. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass jeder Rückschritt unsere wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen schwächt. Darüber hinaus führt eine destruktive Haltung zwangsläufig dazu, dass die einzelnen betroffenen Staaten international an Bedeutung verlieren werden. Zu warten oder zu langsam voran zu schreiten mag bequem erscheinen, aber nur dem Anschein nach. Es bedeutet in Wirklichkeit jedoch, dass alle wirtschaftlichen sozialen und politischen Vorteile einer echten Union nicht genutzt werden. Auf halbem Weg beraubt sich Europa selbst aller seiner Möglichkeiten. Schlimmer noch, indem die Mitgliedstaaten sich weigern, der Union die für die ordnungsgemäße Verwaltung der Eurozone wesentlichen demokratischen Befugnisse zu übertragen, verpflichten sie sich Regeln zu befolgen, die ihren eigenen Handlungsspielraum einschränken.
Die Schwächen des heutigen Europas werden bei internationalen Schocks oder Spannungen deutlich. Ein föderales Europa hätte die Finanzkrise von 2007 besser gemeistert. Ein föderales Europa wäre angesichts der Migrationsströme der letzten Jahre effizienter und menschenwürdiger vorangekommen. Ein föderales Europa würde auf der internationalen Bühne gehört und respektiert werden. Das ist doch offensichtlich. Die größten unserer Staaten sind heute nur noch Mittelmächte gegen Riesen wie China, Indien oder die USA. Im Jahr 2050 wird in einer Welt von fast 10 Milliarden Menschen jeder europäische Staat zum Zwerg. Zusammengefasst: nur der Übergang zu den Vereinigten Staaten von Europa ist eine vernünftige Lösung. Dieses Ziel können wir Europäer und unsere Mitgliedsstaaten am Ende erreichen.
Dieses gemeinsame Haus ist der einzige Weg, uns in unserer Verschiedenheit zu vereinen und unser Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Aber wir müssen es wollen. Von Herzen. Es gibt Hindernisse. Einige sind in unseren Köpfen: Gewohnheiten, Gleichgültigkeit, oder einfach die Angst, den Sprung zu wagen, obwohl wir tief im Inneren spüren, dass ein föderales Europa die einzig vernünftige Lösung ist. Selbstverständlich steht diese Notwendigkeit eines Europas in keiner Weise im Widerspruch zu unserer tiefen und legitimen Bindung an unsere Regionen und Staaten. Andere Widerstände ergeben sich aus den persönlichen Interessen einiger nationaler Politiker. Sie werden sich die Kirche nicht leer predigen und nicht den Ast absägen, auf dem sie sitzen. Es ist klar, dass die Verlagerung hoheitlicher Befugnisse auf eine föderale Regierung und ein föderales Parlament Macht, Positionen und Ämter in den Nationalstaaten verändern wird. In der Gesamtbetrachtung ist dies jedoch ein kleines und vorübergehendes Problem. Gehen wir davon aus, dass die betroffenen nationalen Staats- und Regierungschefs die tatsächlichen Herausforderungen erkennen und die geeigneten Maßnahmen werden ergreifen können. Aber die stärksten Widerstände liegen woanders. Sie kommen von denen, die kein Interesse daran haben, dass das politische Europa Gestalt annimmt. Der Grund dafür ist, dass sie dann etwas von ihrer Macht, ihren Vorteilen und vor allem ihrer Daseinsberechtigung verlieren.
Die Anti-Europäer machen Europa für alle Übel verantwortlich. Sie nutzen die Verwirrung der Bürger in einer chaotischen Welt und halten die Rivalitäten zwischen den europäischen Völkern und Staaten aufrecht. Wenn wir unsere Vergangenheit betrachten, kann man doch den Nationalismus nicht noch verschärfen. Wie paradox ist das: in Blick auf unsere Vergangenheit erzeugt gerade die Perspektive der Vereinigten Staaten von Europa bei vielen Europäern Unsicherheit und Zurückhaltung. Andererseits sind auch viele Europäer an einer Weiterentwicklung Europas interessiert. Aber sie zweifeln, warten ab und wollen überzeugt werden.
Für sie ist dieses kleine Buch in erster Linie geschrieben. Ich möchte sie in die Lage versetzen, ihr Zögern und ihre Ängste zu überwinden und ihnen zeigen dass jeder Europäer von der Existenz der Vereinigten Staaten von Europa profitieren wird, außer denen natürlich, die von der Ablehnung Europas und dem Kult der Nationalismen profitieren. Scheuen wir uns nicht, weiter voran zu gehen und den Ansatz der europäischen Völker nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende zu führen. Die Vereinigten Staaten von Europa führen nicht ins Unbekannte sondern zu einem soliden, geeinten und respektierten politischen Raum. Darüber hinaus zeigt die langjährige Erfahrung mit der europäischen Integration eindrucksvoll, dass Projekte der Zusammenarbeit intensiv zum Wohl der Allgemeinheit beitragen können. Denken wir hier zum Beispiel nur an die Maßnahmen zur Unterstützung benachteiligter Regionen und an das Erasmus Austauschprogramm.
Am Ende eines totalen und verheerenden Krieges wagten es die Mütter und Väter Europas den Grundstein für die Annäherung von »Erbfeinden« zu legen. Dies wurde von vielen als Herausforderung empfunden. Aber ihr visionärer Mut hat sich ausgezahlt. Der Frieden ist etabliert. Wir tauschen uns aus. Wir reisen. Wir bezahlen in der gleichen Währung. Wir fangen sogar an, uns mit Europa zu identifizieren. Und die Europäische Union wird oft von außen mit Hochachtung und Dankbarkeit betrachtet. Aber all diese Fortschritte müssen gesichert werden. Es genügt, die Gegner der europäischen Integration anzuhören, um zu verstehen, dass das Erreichte nicht selbstverständlich und schon gar nicht dauerhaft sicher ist. Machen wir uns klar: wenn Europa Verwirrung und Ernüchterung hervorruft dann deshalb, weil es unvollendet ist und noch nicht alle Befugnisse in der Hand hält. Europa befasst sich manchmal mit Kleinigkeiten, während die großen Bereiche wie Verteidigung, Justiz und Außenpolitik nicht behandelt werden dürfen. Europa braucht selbstverständlich unbedingt einen echten Haushalt, eine von allen anerkannte europäische Öffentlichkeit, eine Regierung und eine lebendige Demokratie. Mit der Schaffung eines echten Föderalismus wird die Kompetenzverteilung zwischen Europa und den Mitgliedstaaten klar, stabil und effizient sein. Der Weg ist also vorgezeichnet und wir kennen ihn. Aber wir müssen ihn mit Herz und Verstand zu unserer eigenen Sache machen. Wagen wir also endlich die Vereinigten Staaten von Europa. Aber um es klar zu sagen, die Eurozone und die anderen Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Prioritäten. Was wir heute brauchen ist ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten.