»Verrat in Mons Tabor« Ingeborg Schewior
Es war so schön, wieder zu Hause zu sein.
Das Fenster meiner Kammer unter dem Dach war weit geöffnet und ließ kühle, frische Abendluft herein. Die untergehende Sonne beleuchtete die Giebel der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite des Großen Marktes, und nur noch gelegentlich hörte man Schritte von Passanten, die den Platz überquerten und nach Hause eilten. Ich beugte mich vor und blickte auf den Marktbrunnen hinunter, dessen Wasser friedlich vor sich hinplätscherte, darauf sah ich nach oben zur Dachkante. Ja, die Rotschwänzchen waren auch in diesem Jahr wieder da. Gerade kam eins der Eltern angeflogen und fütterte die Jungen. Sicher war das die erste Brut, die da mit weit geöffneten Schnäbeln hungrig piepte. Der Frühling ging schon in den Sommer über, und bald würden die Vogeljungen flügge sein.
Plötzlich hörte ich hinter mir eine Stimme: »Das ist wieder mal typisch für meinen Freund Georg. Reckt die Nase hoch in die Luft und sieht nicht, was sich da unten auf unserer Erde tut.«
Ich fuhr herum. Hinter mir stand mein Gefährte Simon, der mit mir zusammen in Erfurt studiert hatte. Zwei Tage nach mir war er in Montabaur eingetroffen und wollte nun die vorlesungsfreien Tage bei seinem Oheim Walther von Berneck verbringen. Dieser besaß bei Coblenz eine Burg und außerdem, als Burgmann auf Burg Montabaur, ein Haus in der Stadt, das ganz in der Nähe meines Elternhauses gelegen war.
Er lachte mich an und schlug mir seine kräftige Hand auf die Schulter.
Ich musste ebenfalls lachen und knuffte ihn gegen die Brust. »Stimmt doch gar nicht! Ich hab’ den Marktplatz unten genauso im Blick wie den Himmel oben.«
»Na, jetzt schau trotzdem mal genau hin. Da sind nämlich ein paar Gestalten, die mir merkwürdig vorkommen.« Er schubste mich in Richtung Fenster.
Ich blickte hinunter. Das vergitterte Drillhäuschen war leer, zum Glück, denn ich sah nicht gerne zu, wenn Übeltäter in dem drehbaren Käfig immer schneller herumgewirbelt wurden, bis ihnen schlecht wurde oder sie hilflos auf dem Boden landeten. Auch aus dem Pranger ragte kein einziger Kopf eines Verurteilten hervor. Was gab es denn da sonst noch?
»Du siehst sie nicht? Dann fass mal das Drillhäuschen genau ins Auge und vor allem, was sich dahinter tut.«
Ich sah wieder hinunter und wusste, was er meinte.
Genau unserem Haus gegenüber, durch das Drillhäuschen fast verdeckt, saßen zwei Bettler. Der eine hatte eine schwarze Binde über den Augen und schien blind zu sein. Er hielt den Kopf starr in eine Richtung gedreht, es sah aus, als blicke er ständig unser Haus an. Aber das konnte ja nicht sein, er war doch blind.
Dass die beiden da saßen war deshalb außergewöhnlich, weil sie genau dort ihre Bettelkunst betrieben, wo es für sie gefährlich war, nämlich gegenüber dem Rathaus unserer Stadt. Sie mussten damit rechnen, dass jeden Augenblick der Stadtbüttel oder einer der Stadtknechte heraustreten konnte und sie verjagte, wenn nicht sogar einsperrte.
»Ist schon komisch«, gab ich zu. »Bevor der neue Kurfürst unsere Stadt aufsuchte, hatte der Stadtrat doch alles darangesetzt, die Bettelei einzuschränken. Noch sorgfältiger als sonst hatte man die fremden Bettler aufgestöbert und sie zum Almosenhof gebracht, von wo sie wie üblich innerhalb von Tagesfrist fortgeschickt wurden.«
Jetzt setzte sich der sehende Bettler in Bewegung. Er hatte einen seltsamen Gang, es wirkte, als schwanke er hin und her.
»Sieht aus, als wäre er mal Seemann gewesen«, meinte Simon. »Die gehen oft so. Und wo will der denn jetzt hin?«
Der Bettler schaukelte auf den Gasthof »Zum Roten Ochsen« zu und verschwand darin, während der Blinde sitzen blieb und weiter steif den Kopf auf unser Haus gerichtet hielt.
»Der schlingernde Seemann hat mir übrigens was für dich mitgegeben«, sagte Simon und fischte ein zerknittertes Stück Papier aus seiner Tasche.
»Kann nicht sein, der kennt mich doch gar nicht!«
»Muss er ja auch nicht. Vielleicht ist er nur ein Bote.«
Simon gab mir einen gefalteten Zettel mit der Aufschrift »geork«.
Ich verzog mein Gesicht. »Könnte tatsächlich für mich sein.« Dann riss ich den Fetzen auf.
»finger wek von die frau«, stand da. Unter die krakelige Schrift war eine Fratze gezeichnet, die, mit einiger Phantasie, einem Totenkopf ähnelte.
Simon lachte schallend. »O Georg, du Herzensbrecher. Welche deiner vielen Liebchen ist damit denn gemeint? Und welcher Schriftkundige hat sich hier so erfolgreich im Schreiben geübt? Vielleicht ein eifersüchtiger Ehemann?«
»Quatsch!« Ich schoss ihm einen bösen Blick zu. »Liebchen hab‘ ich nicht, das weißt du ganz genau. Das ist nur ein übler Scherz. Oder ein anderer Georg ist gemeint, so selten ist mein Name ja nun wirklich nicht.«
»Ich will dir mal glauben.« Simon setzte sich auf meinen Tisch, nachdem er einige Bücher beiseitegeschoben hatte. »Doch jetzt interessiert mich etwas anderes.« Er grinste. »Sag mal, ist es wirklich wahr, dass ihr Montabäurer so unverschämt wart, eure eigene Burg zu besetzen, alle Eingänge zu versperren und nicht mal den Amtmann hineinzulassen?«
Ich war immer noch leicht verärgert. »Frag doch deinen Onkel. Der hat ja mit dringesessen in der Burg!«
»Ach, den habe ich nur ganz kurz gesehen. Der musste weg und hatte keine Zeit, meine Wissbegierde zu stillen.«
Wir hatten schon in Erfurt von dem sensationellen Ereignis gehört, aber die näheren Einzelheiten erfuhr ich auch erst hier. Verständlich, dass Simon nun etwas über die Hintergründe des beispiellosen Vorfalls hören wollte.
Ich machte es mir auf meinem Bett bequem.
»Nun ja, das war schon ein starkes Stück!« Ich musste selber schmunzeln. »Also, du musst wissen, dass unser verstorbener Kurfürst Johann von Baden als sorgsamer Landesvater rechtzeitig für seine Nachfolge sorgte. Er hatte seinen Neffen, Jakob von Baden, zu seinem Koadjutor ernannt. Mit diesem Amt ist übrigens auch das Recht der Nachfolge verbunden. Das war dem Domkapitel wohl bekannt und die Mehrheit war mit der Ernennung auch einverstanden. Als nun Johann Anfang des Jahres gestorben war, wollten sich aber einige der erlauchten Herren des Domkapitels, die den neuen Erzbischof wählen mussten, nicht daran halten. Sie beharrten auf einem anderen Nachfolger.«
»Und wer sollte das sein? Vielleicht war der ja besser geeignet.«
»Sie wünschten sich den Pfalzgrafen Georg, Sohn des Kurfürsten Philipp von Kurpfalz. Und der ist 17 Jahre alt.«
»Was?« Simon war empört. »So ein Jüngelchen als Erzbischof und Kurfürst? Das gibt es doch nicht!«
»Na, erlaube mal«, ich tat so, als sei ich ganz erbost. »Wir sind nur ein ganz klein wenig älter als der. Würdest du dich ein ›Jüngelchen‹ nennen lassen? Wir sind doch gestandene Männer. Oder?«
Simon stand auf und versetzte mir einen Schubs, dass ich auf mein Bett zurückfiel. »Klar sind wir das«, rief er, und dann mussten wir beide lauthals lachen.
Ich wurde wieder ernst und richtete mich auf: »Das Ganze war eine politische Angelegenheit. Wahrscheinlich wollte die Kurpfalz mit Pfalzgraf Georg ihre Position am Mittelrhein stärken. Allerdings hatte Jakob von Baden tatsächlich schon seit zwei Jahren im Kurerzbistum Trier die Regierungsgeschäfte geführt, und er hatte, nach Studien in Rom und Bologna und bevor er in Trier zum Koadjutor ernannt wurde, etliche hohe geistliche Ämter innegehabt. Außerdem war er Kammerrichter am Hofgericht König Maximilians!«
»Also durchaus geeignet«, meinte Simon. »Aber warum habt ihr denn nun die Burg oben besetzt und wie ging das vor sich?«
In diesem Moment war es mit der Stille vorbei. Im Hause wurde es laut, Stimmen waren zu hören und Schritte, die von der Küche zur großen Stube heraufeilten. Meine Eltern hatten eine Zusammenkunft mit einigen Freunden geplant, für die meine Mutter mit der Köchin einen Imbiss vorbereitete.
Ich freute mich schon auf das Wiedersehen mit alten Bekannten, Freunden, und besonders auf Aenlin, meine Liebste. Sie hatte vor einem Jahr ihren Vater durch ein heimtückisches Fieber verloren und lebte und arbeitete nun ganz bei Base Gunte im Spital. Schon vor dem Tod ihres Vaters hatten wir uns heimlich versprochen, aufeinander zu warten! Niemand wusste davon. Vielleicht ahnte Mutter etwas, oder meine Schwestern Elisabeth und Brigid, aber wir hielten unser Versprechen noch geheim. Wenigstens so lange, bis ich mir sicher war, dass mein Vater mich nicht in sein Tuchmachergeschäft zurückholen würde und ich, was ich mir am meisten wünschte, meine Laufbahn an der Universität in Erfurt fortsetzen konnte.
»Komm, gehen wir hinunter«, sagte ich zu Simon. »Ich soll meinem Vater beim Ausschenken der Getränke helfen. Wir haben nur mehr ein einziges Küchenmädchen, das überdies neu ist, und unsere gute Köchin Hilda ist noch nicht wieder zurück.«
Ich seufzte. »Du weiß ja, dass hier im vergangenen Winter wieder die Pest zu wüten begann. Mein Vater hatte, als die Seuche ausbrach, allen Hausleuten freigestellt, zu ihren Familien heimzukehren, falls sie dort gebraucht wurden. Manche, so auch Hilda, gingen, einige blieben aber bei ihm. Doch hatte er darauf bestanden, dass diejenigen, die bei ihm ausharrten, nicht das Haus verlassen durften, zumal er rechtzeitig für genügend Vorräte gesorgt hatte. So wurde keiner der Zurückgebliebenen von der Krankheit befallen.«
»Auch deine Familie nicht?«
»Zum Glück nicht! Brigid heiratete im letzten Jahr den Steinmetz Konrad und wohnt nun mit ihm und ihrem Söhnchen in Cöln. Mutter und Elisabeth schickte Vater nach Heiligenroth auf den Bauernhof, der Mutter gehört. Er meinte, in der gesunden Landluft seien sie vor Ansteckung sicher, weil die Seuche vorwiegend in den Städten mit ihren eng beieinanderstehenden Häusern, den Menschenansammlungen und dem vielen Unrat auftritt. Nach dem Abklingen der Krankheit kehrte Mutter gesund zurück.«
Simon warf mir einen Blick zu und fragte zögernd: »Und Elisabeth? Kam sie auch gesund zurück?«
Ich wusste, warum er fragte und musste lachen. »Ach die, die weigerte sich überhaupt fortzugehen. Sie blieb hier und ging zu den Beginen am Rebstock. Sie half ihnen, den Erkrankten beizustehen und kümmerte sich um die Kinder, die ihre Eltern durch die Krankheit verloren hatten.«
Simon stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wie tapfer von ihr. Aber auch unvorsichtig. Wie leicht hätte sie sich anstecken können!«
»Nun, sei unbesorgt, ihr ist nichts geschehen. Sehen werden wir sie heute allerdings nicht, sie ist im Beginenhof, dort gibt es immer viel zu tun.«
Er machte ein enttäuschtes Gesicht, sagte aber nichts.
Ich sah rasch wieder aus dem Fenster. Der Blinde saß immer noch da und es sah so aus, als hielte er seinen Blick nun geradewegs auf unsere Haustür gerichtet. Rasch strich ich mir mit den Händen die vom Wind zerzausten Haare glatt und ging zusammen mit Simon die Holztreppe hinunter in die große Stube mit der schönen Täfelung und den dicken Balken, die die mächtige Holzdecke zierten.
Mutter und die Küchenmagd waren dabei, die Tafel herzurichten. Sie stellten die guten Weingläser aus grünem Waldglas auf den Tisch und ordneten Zinnlöffel, Zinnteller für Brot und Fleisch und kleine Salzfässchen. Heute wurde aufwendig gedeckt, wie ich sah.
»Hoffentlich ist mit dem Essen alles in Ordnung«, sagte meine Mutter. »Die neue Köchin scheint nicht so viel vom Kochen und Braten zu verstehen wie unsere gute Hilda. Ach, wenn die nur bald zurückkäme!«