»Aufruhr in Mons Tabor« Ingeborg Schewior
1
Mir brummte der Kopf. Vor meinen Augen flimmerte es und die verschnörkelten Buchstaben fingen an zu tanzen und durcheinanderzuwirbeln.
Ich sah auf und schob das alte Pergament beiseite.
Es war Zeit aufzuhören.
Seit gestern Abend saß ich hier und entzifferte die teilweise vergilbten Unterlagen. Der Tisch war übersät mit Büchern, Papieren und Pergamenten.
Doch nun war es genug. Ich musste raus, weg von den Büchern, und frische Luft schnappen. Das brauchte ich jetzt. Danach könnte ich bestimmt erfrischt weiterarbeiten.
Oder? Ich gähnte ausgiebig. Sollte ich vielleicht doch lieber ein bisschen Schlaf nachholen?
Allerdings würde das eine genauso schwierig sein wie das andere.
Das ganze Haus, mein Elternhaus, summte vor Geschäftigkeit. Es herrschte ein Trubel ohnegleichen, und in keinem der vielen Zimmer würde ich die notwendige Ruhe finden.
Heute war doch der große Tag, auf den die ganze Stadt mit Spannung gewartet hatte. In allen Häusern waren seit Tagen zahllose Vorbereitungen getroffen worden. Aber bei uns kam noch hinzu, dass ein ständiges Kommen und Gehen stattfand, weil sich in Vaters Kontor die Honoratioren der Stadt einer nach dem anderen den Türgriff in die Hand gaben. Ich fragte mich, warum eigentlich? Aber wahrscheinlich war es so, dass wegen des außergewöhnlichen Ereignisses noch viele Einzelheiten besprochen werden mussten, die man vorher nicht bedacht hatte.
Außerdem waren gestern meine Schwester Brigid und ihr Mann Konrad mit ihrem viereinhalb Jahre alten Söhnchen Lucas aus Köln eingetroffen, um an dem ungewöhnlichen Geschehen teilhaben zu können. Sie hatten sich eines dieser modernen Fuhrwerke, Kutsche genannt, gemietet und waren damit gereist. Während ihres Besuchs wohnten sie natürlich bei uns, und dadurch war es im Haus ziemlich eng geworden, wobei allerdings schon feststand, dass Konrad nur sechs Tage bei uns weilen würde. Danach würde er zunächst für zwei Wochen nach Köln zurückkehren, weil man seine Steinmetzkünste bei der Arbeit am Dom benötigte. Brigid und Lucas konnten noch zwei Wochen länger bei uns bleiben, dann würde Konrad noch einmal zu uns kommen, um auch sie zurück in ihre Heimatstadt zu holen.
Ich schob meinen Stuhl zurück und ging zum Fenster. Die Sonne stand schon über den Dächern und schien auf den Großen Markt unter mir.
Jetzt wurde die Tür geöffnet. Meine Mutter kam herein und trug ein Holzbrett mit einer Schüssel Gerstenmus und einem Krug Dünnbier vor sich her.
»Georg, du hast die ganze Nacht hier gesessen und gearbeitet«, sagte sie vorwurfsvoll. »Lass es jetzt genug sein und iss erst einmal etwas. Noch dünner, als du sowieso schon bist, darfst du mir nicht werden.«
Sie pflanzte das Brett mitten zwischen Bücher und Papiere auf den Tisch.
Entsetzt hob ich es wieder auf und stellte es auf meinen Stuhl.
»Vorsicht, Mutter, das sind ganz wichtige Papiere. Wenn da etwas draufgeschüttet wird, kann ich meine Doktorarbeit vergessen.«
»Das musst du jetzt aber mal! Oder weißt du nicht mehr, was heute los ist?«
Ich musste lachen. »Wie könnte ich das wohl. Es ist Samstag, der 18. Oktober 1505 und bei uns im Haus geht es zu wie in einem Bienenstock.«
Sie trat neben mich an das Fenster. »Sieh mal, wer da schon alles unterwegs ist. Keiner will sich den Anblick entgehen lassen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich verstehe das nicht. Es war doch angeordnet worden, dass der Einzug keinesfalls durch das Peterstor und die Stadt erfolgen soll – warum auch immer. Wo laufen die Leute denn jetzt alle hin? Sie bekommen ihn ja gar nicht zu Gesicht.«
»Ach was«, antwortete Mutter. »Wer will, kriegt ihn sehr wohl zu sehen! Er kommt mit dem ganzen Gefolge über den Fürstenweg herein, und von dort aus reitet er dann hoch zur Burg.«
»Dann können doch höchstens die Leute aus Allmannshausen von weitem einen Blick auf ihn werfen.«
»Unsinn, wir alle können ihn sehen. Wenn man sich an dem Weg aufstellt, der hinauf zur Burg führt, oder, besser noch, am Vorderen Rebstock, und da hinter der Absperrung bleibt, bekommt man den Einzug auch mit – wenigstens teilweise.«
»Na gut«, brummte ich und musste wieder gähnen.
Ungeduldig rückte sie Brei und Bier noch einmal zurecht.
»So, jetzt wird erst einmal gegessen! Und dann schläfst du ein Stündchen oder zwei, sonst wird aus beidem nichts, weder aus der Doktorarbeit noch aus dem Anblick, der dir wahrscheinlich nur einmal im ganzen Leben geboten wird.«
Ergeben nickte ich und griff nach dem Löffel. Sie ging hinaus. Ich setzte mich mit der Schüssel auf das Bett und schaufelte mir etwas Mus in den Mund.
Auf einmal wurde ich durch eine laute, heitere Stimme aufgeschreckt: »Nun sieh dir das mal an! Da hängt einer auf seinem Bett, schnarcht vor sich hin und hat dabei eine Breischüssel in der Hand. Auf mit dir, du Faulpelz, jetzt ist Schluss mit dem Nichtstun, jetzt wird was unternommen! Oder glaubst du, der hohe Herr wartet auf dich?«
Erschrocken fuhr ich hoch und stieß mich an der schrägen Zimmerdecke über meinem Bett. Ich rieb mir den Kopf und sah mich verwirrt um. Wo war ich überhaupt?
Langsam kam ich zu mir: Ich war ja gar nicht in Erfurt! Ich lag zu Hause in Montabaur auf meinem Bett und vor mir stand Freund Simon und hielt lachend meine halb volle Breischüssel in der Hand. Er war festlich gekleidet. Offensichtlich wollte er mich abholen.
Widerwillig raffte ich mich auf, verließ ächzend meine Bettstatt und schlurfte zu meiner Kleidertruhe.
Simon zeigte keinerlei Ehrfurcht vor meiner Arbeit und stellte die Schüssel mitten auf die Papiere. Er ging zum Fenster und sah hinaus. »Ha, sieh mal, was sich da unten tut! Sowas habe ich ja noch nie gesehen!«
Das war typisch für ihn. Er wusste immer, wie er mich in Gang setzen konnte.
Ich tappte zu ihm hinüber.
Da bot sich uns aber wirklich ein seltsamer Anblick! Ein Karren war die Kirchstraße heruntergekommen und hielt direkt vor unserem Haus. Auf dem Bock saß ein fremdartig gekleideter Mann mit einer Narrenkappe auf dem Kopf. Seine Kleidung war knallrot und dazu mit schwarzen Längsstreifen versehen. Mit seiner Peitsche versuchte er, das magere Pferd anzutreiben, das den klapprigen Wagen zog. Das half aber nichts. Auf dem Markt herrschte ein derartiges Menschengetümmel, dass das Fuhrwerk mitsamt seiner Ladung steckengeblieben war.
»Na und?«, sagte ich, »ein Gauklerwagen! Die Frage ist bloß, wo kommt der her? Die Tore sind doch heute alle verriegelt und es wird streng kontrolliert. Kein fremdes Volk darf in die Stadt herein!«
Kopfschüttelnd wandte ich mich ab und goss Wasser in meine Waschschüssel.
»Vielleicht machen sie ja Ausnahmen und lassen ein paar Gaukler durch, um das wartende Volk zu belustigen«, meinte Simon und beugte sich weiter aus dem Fenster.
Gleich darauf stieß er einen Pfiff aus. »Komm nochmal her, das musst du dir ansehen, hinten auf der Fuhre liegt was Komisches!«
Dazu hatte ich nun wirklich keine Lust. Lieber wollte ich mir den Schlaf aus dem Gesicht waschen und mich frisch anziehen.
»Ja, was denn? Ist da so was Besonderes?«
»Da liegt ein Kopf, du Ignorant! Aber was für einer!«
»Ja und? Wird ein Schweinskopf sein, den er sich zum Nachtmahl kocht.«
Aufgebracht drehte er sich zu mir um. »Nix Schweinskopf. Guck dir das endlich mal an.«
Nun hatte er meine Neugierde geweckt. Halb angezogen und mit dem Handtuch um den Hals ging ich wieder zu ihm und sah hinaus.
Auf der Ladefläche des Gauklerfuhrwerks herrschte eine fürchterliche Unordnung. Wild durcheinander gewürfelt lagen da Kisten, Säcke und Beutel, teilweise mit einer Plane bedeckt. Und zwischen den Säcken ragte im Morgenlicht aus einem grauen Sack – ich rieb mir die Augen – tatsächlich ein Kopf, ein menschlicher Kopf mit strubbeligen roten Haaren. Daneben thronte eine komische Mütze mit lauter großen, schreiend bunten Pompons.
Der Kopf lag unbeweglich. Die Augen sahen geradeaus, aber irgendwie kamen sie mir ungewöhnlich vor. Es hatte den Anschein, als ob sie etwas in weiter Ferne erblickten. Aber plötzlich schnellten die Blicke zur Seite und richteten sich direkt auf unser Fenster. Ich erschrak und trat rasch einen Schritt zurück.
Simon schien nichts bemerkt zu haben. Er lachte: »Was hast du denn? Der liegt doch still da und tut nichts.«
Vorsichtig näherte ich mich wieder dem Fenster, blieb aber seitlich stehen, sodass ich von unten nicht zu erblicken war.
Die Menschen auf der Straße bemerkten den Kopf gar nicht. Er lag zu hoch auf dem Gerümpel der Ladung, als dass sie ihn hätten sehen können. Der Fuhrmann vorne auf dem Bock beschimpfte den Gaul immer noch und schlug auf ihn ein.
»Ob der Kopf tot ist?« Simon schüttelte sich.
»Unsinn, der hat doch eben die Augen bewegt, das kann kein Toter!«
»Ja, aber wie der jetzt guckt. Irgendwie komisch.«
»Hast recht! Ist wirklich ein eigenartiger Blick. Wirkt ein bisschen abwesend. Beinahe unheimlich.«
Simon wurde unruhig. »Vielleicht sollten wir mal rausgehen und nachsehen, was es damit auf sich hat. Vielleicht liegt da ein Gefangener und der grobe Gaukler hat ihn entführt.«
»Nein, lass uns abwarten, was noch passiert. Weit kommt der mit seinem Karren sowieso nicht.«
Der Gaukler traktierte das Pferd weiter mit Flüchen und Schlägen. Dann stand er auf, um abzusteigen, und blickte sich um. Er stierte auf das Haupt, das da oben auf der Ladung von Säcken und Bündeln lag. Wütend brüllte er auf und ließ seine Peitsche über den regungslos daliegenden Kopf knallen.
Ich fuhr zusammen. »Jetzt fällt er runter!«
Aber nicht doch. Er blieb liegen, wo er war, nur die Augen schlossen sich. Aber unter einem der vielen Säcke auf dem Wagen fing etwas an zu zappeln. Ein paar Bündel flogen zur Seite und ein dünner, weißer Arm tauchte auf. Er steckte in einem engen, braunen Ärmel und endete mit einer weißen Hand. Diese Hand tastete etwas umher, fand die komische Mütze und drückte sie mit einem Ruck auf die roten Haare. Dann verschwand der Arm wieder unter den Säcken.
Wir sahen uns an.
»Was war das denn für eine Vorstellung?«, murrte Simon. »Da hat sich einer zwischen dem ganzen Krempel versteckt und lässt nur seinen absonderlichen Schädel rausgucken.«
»Was dem Gaukler gar nicht zu gefallen scheint.«
Ich wandte mich meinem Bett zu und setzte mich, um mir eine frische Hose anzuziehen.
Simon gab keine Ruhe: »Aber kurios ist es doch. Zu dem Kopf gehört ganz gewiss ein Mensch, eine Frau vielleicht, und die verbirgt sich unter dem Gerümpel.«
Er grübelte vor sich hin. »Und noch etwas ist komisch. Denk mal dran, an welcher Stelle der Arm auftauchte. Das war ziemlich weit von dem Kopf entfernt, so als gehörten beide, Kopf und Arm, gar nicht zusammen.«
»Jetzt hör’ aber auf! Du witterst überall Geheimnisse, wo es gar keine gibt. Vielleicht ist die Frau, zu der Kopf und Mütze und Arm gehören, einfach besonders gelenkig.«
Er seufzte auf. »Wahrscheinlich hast du recht! Sie wird eine Gauklerin sein, denn die bunte Mütze gehört bestimmt zu einem Gauklergewand.«
»Dann stellt sich bloß noch die Frage, warum sie sich unter all dem Gerümpel verstecken muss, zumal das doch ein Gauklerkarren ist und sie offenbar zu dem Mann gehört, der den Wagen fährt.«
Simon drehte sich zu mir um.
»Das möchte ich auch gern wissen. Hoffentlich führen die nichts im Schilde. Gerade heute wäre das fatal.«
»Da geschieht nichts«, beruhigte ich ihn.
Ich war sicher, dass heute einfach nichts passieren konnte und auch nicht durfte. Von meinem Vater, der Stadtratsmitglied und Almosenmeister war, wusste ich, dass alle möglichen Sicherheitsmaßnahmen eingesetzt worden waren, damit das Gastspiel der hohen Person ohne Störung stattfinden konnte. Alle Büttel, Stadtknechte und Stadtschützen waren aufgeboten worden, um eine friedliche Atmosphäre zu garantieren. Sogar zuverlässige Zunftmitglieder hatten sich bereit erklärt, mitzuhelfen und an den Absperrungen Aufsicht zu führen.
»Jetzt fährt er los«, rief Simon mir zu.
Ich war inzwischen mit meiner Garderobe fertig und kehrte zum Fenster zurück. Der Wagen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Der Mann schien zu wissen, wohin er fahren musste und lenkte den Karren nach links in den »Trichter« hinein, wie die Straßenverengung zwischen dem Großen und dem Kleinen Markt genannt wurde, in Richtung auf den Vorderen Rebstock.
»Der will hoch zur Burg«, meinte Simon.
»Sieht so aus!«, sagte hinter uns eine Stimme, »aber die lassen ihn bestimmt nicht rein!«
Elisabeth, meine Schwester, war unbemerkt hinter uns getreten und sah ebenfalls hinaus.
»Wer weiß«, lachte ich, »die Ritter übernachten doch alle hier unten in der Stadt. Fast jedes Haus hat eine Einquartierung bekommen. Der Kurfürst nächtigt sogar beim Pfarrer. Nur der hohe Besuch bleibt in der Burg. Aber denk doch mal an die Pferdeknechte, die oben bei den vielen Pferden bleiben müssen. Die freuen sich bestimmt über eine Abwechslung!«
Ich drehte mich zu Elisabeth um. »Reitet der Ritter, den ihr aufnehmen wollt, auch im Gefolge mit?«
Sie lächelte. »Natürlich, was denkst du denn. Er ist sogar der Fahnenträger seiner Mannschaft!«
Zum Gefolge König Maximilians, der heute auf Schloss Montabaur erwartet wurde, gehörten natürlich ausgewählte Ritter. Von denen brachte jeder wieder seine eigenen Ritter und Bediensteten mit. Auch einige Burgmannen der Burg Montabaur, die aus dem Adel der Umgebung stammten, durften am Einzug teilnehmen. Sie alle würden dem König folgen, wenn er zusammen mit unserem Kurfürsten Jakob von Baden hinaufritt, um auf dem Schloss festlich empfangen zu werden.
Einer dieser Ritter hatte mitsamt seinem Knappen bei Simon und Elisabeth Quartier bezogen. Simon und meine Schwester waren seit ein paar Monaten verheiratet und lebten in dem großen Haus, das links neben dem Rathaus gelegen war. Dieses Gebäude gehörte früher unserer verstorbenen Freundin Mailin, jetzt war unser Freund Dietrich, der inzwischen Mediziner wurde, Eigentümer des Hauses. Er hatte es an Simon und Elisabeth vermietet, zur großen Freude meiner Mutter. Auf diese Weise blieben doch ihre Tochter und deren Ehemann ganz in ihrer Nähe. Beide arbeiteten nämlich in unserem Elternhaus, das an die andere Seite des Rathauses angebaut war, in Vaters Tuchmacher-Kontor.
Das von Simon und Elisabeth gemietete Haus war sehr groß, und außer einer weiteren Mieterin, Madame Beaurivage, die ich früher wegen ihrer Kleidung ungehörigerweise oft »die Rote Wolke« genannt hatte, gab es keine weiteren Bewohner. Madame wohnte im Erdgeschoss, sodass dem jungen Ehepaar das gesamte übrige Haus zur Verfügung stand.
»Wie heißt eigentlich euer Ritter und wie ist er denn so?«, wollte ich wissen.
»Ach«, meinte Simon, »er heißt Burchhardt, stammt von Burg Hagenwerth und ist immer noch so schüchtern wie früher, obwohl er doch vor kurzem erst zum Ritter geschlagen wurde!«
»Ich glaube nicht, dass er schüchtern ist«, sagte Elisabeth, »er ist einfach etwas zurückhaltend, weil ihm alles noch neu ist.«
»Ich weiß nicht, so neu kann es ihm eigentlich nicht sein. Auf der Burg seines Vaters ist er doch unter Rittern aufgewachsen. Zumal er seit vielen Jahren bei Raimund von Deigenwald lebt und auf dessen Hof ausgebildet wurde. Und der lobt ihn über den grünen Klee. Er hat sogar dafür gesorgt, dass ihm vorzeitig der Ritterschlag erteilt wurde. Auch einen Knappen bekam er zugewiesen. Außerdem hat Deigenwald ihn für den heutigen Tag als Bannerträger seiner Truppe ausgewählt. Das ist eine große Ehre und wird normalerweise nicht einem so Frischgebackenen übertragen.«
Elisabeth drängte: »Jetzt kommt aber, wir müssen uns beeilen, sonst sind wir zu spät und die besten Plätze sind weg. Du kannst uns ja unterwegs mehr über unseren Gast erzählen.«
Es wurde wirklich Zeit. Wir liefen die Treppe hinunter, verließen das Haus und begaben uns auf den Weg zum Rebstock, von wo aus man, wie Mutter gemeint hatte, einen guten Blick auf den Einzug des hohen Gastes haben würde. Auf dem Großen Markt waren immer noch viele Menschen unterwegs.
Rasch überquerten wir den Marktplatz, eilten an der Gerichtssäule mit dem roten Löwen vorbei, liefen durch den Trichter und dann den Vorderen Rebstock hinauf. Dort hatte sich schon so viel Publikum versammelt, dass mehrere Stadtschützen für Ordnung sorgen mussten, damit der Weg hinauf zum Schloss frei blieb.
Auch der Gauklerwagen stand hier, von der Menschenmenge eingekeilt. Aber der Gaukler und sein Fahrgast mit der bunten Mütze waren nicht mehr zu sehen. Stattdessen machten sich zwei uns gut bekannte Persönlichkeiten am Wagen zu schaffen: Navarro und Boso.
Mit Navarro war ich schon lange befreundet. Er war recht klein, aber ein vielseitig begabter Gaukler. Mit seinem bunten Wagen und seinen Mitspielern Rocco, dem Feuerschlucker und Sabina, der Sängerin zog er durch die Lande und gab hervorragende Vorstellungen. Er selber konnte jonglieren und erstaunliche athletische Leistungen vorführen.
Erstaunt sah ich, dass mein kleinwüchsiger Freund dem Pferd einen Getreidesack hinhielt, aus dem es sich hungrig sein Futter holte.
Und aus einem der umliegenden Häuser schob sich gerade Boso heraus, der allerseits beliebte Medicus. Er schleppte einen Eimer mit Wasser herbei.
»Ist das nicht unerhört!«, rief Navarro uns empört zu, »wie der Unmensch sein Pferd behandelt? Das ist ja der reinste Tierquäler.«
»Wir haben es von meinem Fenster aus gesehen«, rief ich zurück. »Wo ist der denn jetzt?«
»Bestimmt gaffen gegangen, wie alle hier«, knurrte Boso.
»Und ihr? Ihr kommt doch bestimmt nach, wenn ihr das Pferd versorgt habt!«
»Also, ich schon mal nicht!« Boso stellte dem Pferd den Eimer hin. »Ich bleibe hier und warte auf den Unmenschen. Der kriegt von mir was zu hören! Vielleicht ziehe ich ihm eins über, wenn er frech wird. Er soll ruhig mal spüren, wie sich Hiebe hiermit anfühlen!« Wütend riss er die Pferdepeitsche aus ihrer Halterung am Wagen und schlug damit durch die Luft.
Simon grinste mich an. »Na, der Kutscher kann sich auf was gefasst machen.«
Wir eilten weiter.
Oben angekommen trafen wir auf die schon versammelte Menschenmenge und reihten uns ein. Wir hatten es nicht nötig, uns durchzudrängeln, waren wir doch größer als die meisten anderen Zuschauer. Nur Simon versuchte, für Elisabeth einen Platz weiter vorne zu ergattern, damit sie auch etwas sehen konnte.
Auch meine Mutter, Konrad und Brigid mit dem Kind hatten ganz in unserer Nähe einen guten Standplatz gefunden.
Am besten hatte es der Kleine. Konrad hatte ihn auf seine Schultern genommen, sodass er die anderen Zuschauer überragte und alles überblicken konnte.
Ich wandte mich an Simon: »Wie war das denn nun mit eurer Einquartierung? Du wolltest mir doch noch etwas von ihm erzählen.«
»Ach ja! Seine Familiengeschichte ist ziemlich verzwickt. Das ist nämlich so: Der Hagenwerther hat zwei Söhne, Thomas und Burchhardt. Thomas stammt aus der ersten Ehe des Alten und ist als ältester Sohn sein Erbe. Auch er hat einige Jahre, wie das so üblich ist, auf Deigenwalds Burg gelebt, wurde von ihm ausgebildet und zum Ritter geschlagen. Jetzt ist er aber wieder auf Hagenwerth. Als die erste Frau starb, heiratete der Vater noch einmal. Die zweite Frau, Ellis von Seefels, war eine äußerst gute Partie. Sie brachte Grundbesitz in die Ehe ein, der an die Ländereien des Alten grenzte. Mit der Eheschließung ging der Besitz der Frau in den des Hagenwerthers über, sodass sich dessen Grund und Boden erheblich vergrößerte. Und aus dieser zweiten Ehe stammt nun Burchhardt, und das ist der, der bei uns übernachtet. Seine Mutter ist inzwischen aber auch verstorben.«
»Wenn sich Hagenwerthers Grund und Boden durch die zweite Heirat so sehr vergrößert hat, dann wartet ja auf den Ältesten, Thomas, nach dem Tod des Vaters ein ganz schönes Erbe!«
Simon wiegte den Kopf hin und her.
»Das glaube ich nicht. Die zweite Frau hat nämlich ein Testament hinterlassen, nach dem der Grundbesitz, den sie in die Ehe mitbrachte, nach ihrem Tod an ihren Sohn Burchhardt übergehen soll.«
»O weh, das wird dem ersten Sohn aber gar nicht gefallen! Der hat doch bestimmt damit gerechnet, dass ihm nach dem Tod des Vaters die Burg und der gesamte Grundbesitz einschließlich der Mitgift der zweiten Frau zufallen werden.«
»Ich weiß nicht. Man blickt da nicht so recht durch. Thomas scheint seinem Bruder gegenüber ziemlich unfreundlich aufzutreten und ihn häufig zu maßregeln. Aber Burchhardt nimmt das anscheinend gelassen hin, zumal sie nicht oft zusammentreffen, weil der Jüngere, wie ich schon sagte, bis jetzt bei dem Deigenwalder lebt.«
Jetzt tat sich etwas auf der Straße, die vom Tal herauf zur Burg führte. Wir waren keine Minute zu früh gekommen. Laute Fanfarenklänge ertönten und kündigten den festlichen Zug an. Gespannt reckte alles die Hälse. Der König und der Kurfürst waren natürlich noch nicht zu sehen, aber die Fanfarenbläser tauchten auf, die in prächtigen, roten Livreen heranmarschierten.
Da entstand plötzlich hinter uns ein Tumult.
Es wurde geschubst und geschoben und ärgerliche Stimmen wurden laut. Jemand drängte rücksichtslos durch die Menge.
Ich sah mich um. Zu meinem Erstaunen entdeckte ich die mit bunten Pompons besetzte Mütze, die sich schonungslos einen Weg durch die Menge bahnte. Als sie bei mir angekommen war, sah ich, dass die groteske Kopfbedeckung zu einem kleinen, noch ziemlich jungen weiblichen Geschöpf gehörte, das sich mit kräftigen Ellbogenstößen einen Weg nach vorne bahnte.
Trotz ihres dreisten Auftretens tat sie mir leid, denn sie war recht klein und dünn, nicht gerade ein Zwerg, aber doch nicht so groß, dass sie über die Menge hinweg überhaupt etwas sehen konnte.
So machte ich ihr Platz und schob sie vor mir her bis nach vorne, damit sie ebenfalls einen Blick auf den festlichen Vorbeizug haben konnte. Sie stand dann in der ersten Reihe direkt hinter dem Absperrseil, das sie mit beiden Händen umklammerte.
Sie warf mir einen Blick zu. »Danke, Herr«, murmelte sie und sah dann wie alle anderen gebannt dem Zug entgegen.
Und dann kamen sie.
Hinter den Bläsern ritten etliche Ritter des Königs in voller Rüstung. Einer von ihnen hielt das Banner des römisch-deutschen Königs mit dem schwarzen Adler auf gelbem Grund.
Dann nahte seine Majestät, angekündigt durch immer lauter werdendes Jubelgeschrei der sich am Rand der Straße drängenden Menge.
Der König war zu Pferde, genau wie der Kurfürst.
Wie sollte es auch anders sein bei einem Herrscher, der das Rittertum verherrlichte und auch liebend gern ein Ritter gewesen wäre. Es hieß, dass er selbst so oft es ging an einem Ritterturnier teilnehmen würde, und zwar nicht als Zuschauer, sondern als Kämpfer!
Ob man hier bei uns auch so einen Wettkampf veranstalten würde?
Wir würden sehen!
Jetzt schwoll der Jubel ohrenbetäubend an. Endlich war der Erwartete bei uns angelangt und wir sahen ihn aus allernächster Nähe.
Schön sah er aus, wie er in stolzer Haltung heranritt! Eine vollständige Ritterrüstung trug er nicht, nur einen Brustharnisch. Darauf konnte man deutlich das an einem breiten Band befestigte Goldene Vlies erkennen, das ihm anlässlich seiner Heirat mit Maria von Burgund 1477 verliehen worden war. Unter dem Harnisch trug er eine Tunika in roter Farbe, darüber einen pelzverbrämten Umhang und auf dem Kopf mit den halblangen Haaren einen Hut aus kostbarem Pelz.
Seine Gesichtszüge waren markant, wobei das herausragende Kinn besonders auffiel – ein Merkmal der Angehörigen des Hauses Habsburg, wie von Eingeweihten erzählt wurde.
Insgesamt war er eine wahrhaft königliche Erscheinung, und er gefiel den Leuten, wie der bei seinem Anblick einsetzende Beifallssturm bewies.
Lucas war ebenfalls begeistert. Er schrie in einem fort »der König, der König« und schwenkte seine Ärmchen so heftig durch die Luft, dass Konrad Mühe hatte, ihn festzuhalten. Als der König auf seiner Höhe war, schrie er noch lauter: »Hier, König, guck mal, hier bin ich, hier ist Lucas, Huhuu!«
Man kann nicht sagen, ob Maximilian das kleine Kinderstimmchen bei dem großen Lärm überhaupt gehört hatte. Weil er aber seine Blicke ständig nach allen Seiten schweifen ließ und ab und zu die Hand grüßend hob, schien er gerade, als er an uns vorbeikam, das Kind anzusehen und ihm lächelnd zu winken.
Lucas strahlte und klatschte in die Hände.
Neben seiner Majestät sah man unseren Kurfürst-Erzbischof Jakob II. von Baden. Er war mit bischöflichem Ornat bekleidet und machte ebenfalls einen stattlichen Eindruck.
Erst vor zwei Jahren war er seinem verstorbenen Oheim Johann II. von Baden als Erzbischof und Kurfürst von Trier gefolgt und deshalb bekamen viele Einwohner unserer Stadt ihn jetzt nach seiner Huldigung 1503 zum ersten Mal wieder zu Gesicht. Auch er wurde mit Beifallsstürmen bedacht.
Inzwischen hatte der kleine Lucas die Geduld verloren. Das große, von ihm heiß ersehnte Ereignis war vorbei: Er hatte seinen König gesehen! Er plapperte unablässig, dass der König ihm zugewunken habe und hopste aufgeregt auf Konrads Schultern herum, sodass der Mühe hatte, ihn zu halten. Schließlich hob er den Kleinen von den Schultern auf den Arm und schob sich mit ihm durch die Menge zurück in die Stadt. Brigid und Mutter folgten ihm.
Der Festzug war aber noch nicht zu Ende.
Auf die beiden Fürsten folgten Ritter des königlichen Hofes und ebenfalls Herren in vornehmer Kleidung. Bei ihnen handelte es sich wahrscheinlich um Ministeriale, also Beamte, ohne die ein König nicht zu reisen pflegte, wenn er sich politische Verhandlungen vorgenommen hatte.
Einer der Herren fiel dadurch auf, dass er ein mit überaus vielen Schleifchen verziertes Wams, einen breiten Gürtel und ein Schwert an seiner Seite trug. Er war von stämmiger Gestalt, hatte einen Bart, kurze Haare und auf dem Kopf ein Barett.
»Wer ist das denn?«, flüsterte Elisabeth mir zu.
»Das ist doch Kunz von der Rosen!«
Sie sah mich fragend an.
»Des Königs sogenannter Hofnarr. Sein Vertrauter und Berater. Er soll sehr schlagfertig, witzig und intelligent sein und Maximilian schon oft gute Ratschläge gegeben haben. Dabei neigt er zu scherzhaften Späßen und nennt sich selber zuweilen einen ›Narren‹, meint das aber nur ironisch und ist keineswegs ein Hofnarr im eigentlichen Sinne.«
»Er ist ein Günstling des Königs, hat einen ehrenwerten Charakter und ist beim Volke sehr beliebt«, fügte Simon hinzu, »weil er trotz seiner bevorzugten Stellung ein großes Gerechtigkeitsgefühl und Mitgefühl für notleidende Mitmenschen zeigt.«
Das Volk hatte schon von ihm gehört und jubelte auch ihm begeistert zu.
Da nun der Hof des Königs vorbeigezogen war, näherten sich Burgmannen, die zu Montabaur gehörten. Auch sie wurden von Mitgliedern ihrer eigenen Ritterschaft begleitet. Vorneweg ritt jedes Mal ein Fahnenträger, der das Banner seines Herrn hochhielt.
»Jetzt bin ich auf unseren Gast gespannt«, flüsterte Elisabeth mir zu. »Er ist ja der jüngste Bannerträger und war heute früh schon ziemlich aufgeregt.«
»Er wird es gut machen«, äußerte Simon zuversichtlich.
Einer nach dem anderen zogen sie vorbei. Als Erstes erschien der Nassauer mit seiner Gefolgschaft. Stolz trug der Bannerträger das blaue Banner mit dem goldenen Löwen voran. Die Zuschauer klatschten begeistert, waren es doch ihre eigenen Burgmannschaften, die heute im Gefolge des Königs mitreiten durften.