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Leseprobe »Perpel der Regenschirmverleiher«
Heute
Seine Augen sind auch nicht mehr die jüngsten. Auf dem Speicher muss er sich erst an das dämmrige Licht gewöhnen, bevor er den alten Rucksack entdeckt. Über Jahrzehnte vergessen, in einer Ecke ganz hinten, verstaubt. Er macht ihn auf. Ganz oben liegt das dünne Schulheft. Er nimmt es heraus und liest: ›Wegkreuze‹. In der Küche ist das Licht besser als hier oben, deshalb nimmt er das Heft mit runter an den Küchentisch. Er hält es wie einen Schatz, klappt es auf und blättert darin, wird ganz hineingezogen, muss an manchen Stellen lächeln, an anderen schlucken vor Rührung. Dann starrt er lange vor sich hin. Man könnte meinen, ins Nichts. Und dann weiß er, was er zu tun hat. Er holt aus dem Büro neben der Werkstatt einen Stapel Blätter und den Füllfederhalter mit der goldenen Feder, ein Geschenk Merles. Dann beginnt er zu schreiben.
Hunsrück
Als der Dorfschullehrer Hilarius Hagenbach die Schreie aus dem Schlafzimmer hörte, klangen ihm diese wie Angelusläuten. Bereits gestern hatte man ihn weggeschickt. Die Hebamme hatte gemeint, er stünde nur im Weg. Die Geburt würde nicht einfach werden und dabei könne er mit all seinem Wissen sowieso nicht helfen. Er solle sich in die Küche setzen und einen Tee trinken. Auch Beten würde nicht schaden. Viele Stunden hatte er nun schon das Wimmern seiner Frau und die beruhigenden Worte der alten Hebamme gehört, die aber, so bildete er sich ein, immer besorgter geklungen hatten. Seine Angst war stetig gewachsen: »Himmel, steh mir bei! Mach, dass alles gutgeht. Ohne sie fehlt mir mein Fundament!«
Der Lehrer war eigentlich ein strenger Mann, wenigstens versuchte er so zu wirken. Er war sich sicher, dass ihm die Plagen ansonsten irgendwann auf dem Kopf herumtanzten. Härte, Rationalität und direkte Reaktion, hatte ihnen der Professor beim Studium immer wieder eingetrichtert. Das war ihm zur zweiten Natur geworden. Er galt in dem kleinen Hunsrückort als streng, aber gerecht.
Dass es tief in ihm drin, wie bei fast allen Gottesgeschöpfen, auch noch eine weiche Seite gab, ahnten vielleicht einige Menschen, die weise genug waren, um das Leben zu verstehen; wirklich erfahren hatte diese Seite aber nur seine Frau Anna-Luise, die sehr darunter litt, dass sie, aus der Stadt kommend, hier mit ihm in Höhenthal leben musste, wo sie, auch wegen seiner Stellung im Dorf, nur schwer Kontakt zu den Leuten fand. Immerhin wurde sie gelegentlich als die Frau vom Lehrer zu irgendwelchen Feierlichkeiten mit eingeladen, aber wirklich freundschaftliche Beziehungen waren daraus nicht entstanden. Hilarius ermunterte sie, unter Leute zu gehen oder auch gelegentlich ein paar Tage mit den Eltern oder früheren besten Freundinnen in der Stadt zu verbringen, überraschte sie mit kleinen Geschenken und achtete darauf, dass sie freie Zeit, die ihm sein Beruf ließ, gemeinsam verbrachten. Ihm war, als wolle er damit sein schlechtes Gewissen beruhigen. Immerhin hatte er sie hierhergebracht.
Sie hatte nie aufs Land gewollt. Auch wenn ihr der Hunsrück mittlerweile gut gefiel und sie sich von den Menschen vielleicht etwas zögerlich, aber doch sehr freundlich aufgenommen fühlte; sie war eigentlich ein Stadtmensch. Und doch hatte sie keine Sekunde gezögert, Hilarius zu folgen, egal wohin, nur weg von zu Hause. Dabei hatte sie anfangs ihre Familie als liebevoll behütend erlebt. Die Mutter, Hausfrau mit Leib und Seele, brav, fromm, vielleicht etwas zu streng. Der Vater, ein kleiner Angestellter bei der Reichsbahn, aber durchaus mit der Absicht, es noch zu etwas zu bringen.
Alles änderte sich, als der Vater nach Hause kam und verkündete, dass nun bessere Zeiten anbrechen würden. Er habe seine Arbeit gekündigt und diene jetzt nur noch dem Volk, dem Vaterland und der Partei. Nachdem er die Uniform angezogen hatte, wirkte er seltsam verändert, trat auf unangenehme Weise selbstsicher auf und auch seine Sprache war forsch-zackig, rau und primitiv, geworden. Anna-Luise konnte es kaum ertragen, wenn er mit Schaum vorm Mund über Judensäue, dreckiges Geschmeiß und unwertes Leben geiferte.
Die Wohnung wurde immer voller mit Dingen, die sie sich früher nicht hatten leisten können. Auf die Frage der Mutter, woher ihr Mann denn all diese tollen Sachen habe, meinte er nur grinsend: »Die Itzigs können das sowieso nicht mehr brauchen. Die bekommen schon, was sie verdienen.« Anna-Luise war entsetzt.
Ihr Bruder ging mit Begeisterung zur Hitlerjugend und sie hätte bestimmt mehr Freude beim Bund Deutscher Mädel gehabt, wenn ihr Vater nicht von ihr verlangt hätte, den Kontakt zu ihrer besten Freundin Sarah abzubrechen. Doch die verschwand sowieso irgendwann ganz plötzlich, und so sehr Anna-Luise auch fragte, sie erfuhr nicht wohin. Ein paar Tage später wurde ein Klavier ins Wohnzimmer getragen, das sehr dem glich, auf dem Sarah ihrer Freundin immer ihre Fortschritte beim Klavierunterricht demonstriert hatte.
Die Gesichtszüge des Vaters wurden härter, sein Blick kälter. Nach und nach bekam Anna-Luise mit, wie sich die Welt veränderte und welche ›Sache‹ ihr Vater vertrat und sie konnte nicht glauben, dass er wirklich Teil dieser Unmenschlichkeit sein sollte. Schon wie er auf einmal redete über die Menschen, denen er zuvor noch dienstbeflissen begegnet war. Wenn sie über die Dinge, die im Land vorgingen, sprechen wollte oder sogar Kritik übte, verbot ihr der Vater jede eigene Meinung und die Mutter stand immer bedingungslos auf seiner Seite.
An einem Mittag, als Anna-Luise von der Schule nach Hause kam, musste sie sehen, wie ihr Vater ein altes jüdisches Ehepaar, freundliche Menschen aus der Nachbarschaft, vor sich auf der Straße im Dreck kriechen ließ. Dabei mussten die beiden zur Belustigung einiger Passanten laut rufen, dass sie Judenschweine seien, so lange, bis der Vater dem grausigen Schauspiel mit Tritten in den Bauch der Frau und in die Rippen des Mannes ein Ende machte.
Anna-Luise weinte tagelang und konnte von nun an den Vater und das Zuhause kaum mehr ertragen. Das änderte sich auch nicht mehr, und als Hilarius, ein angehender Lehrer, der ihr manchmal Blicke zuwarf, um sie warb, zögerte sie keine Sekunde und sendete ihm sogar klare deutliche Zeichen, dass sie bereit sei, ihn zu heiraten. Als er sie dann fragte, ob sie seine Frau werden wolle, stimmte sie zu und verbot ihm sogar, beim Vater um ihre Hand anzuhalten. Dem Vater drohte sie einen Skandal an, falls er sich der Heirat entgegenstelle. Immerhin wisse sie einiges über ihn und seine Machenschaften, was die Öffentlichkeit und die Partei sicher interessieren würde. Der willigte dann, zitternd vor Wut, ein und die Mutter hatte nicht einmal mehr ein Abschiedswort für die Tochter. Anna-Luise wäre Hilarius ohne Zögern überallhin gefolgt, wenn der Weg sie nur von ihren Eltern entfernte, die sie übrigens nie mehr wiedersah.
Als der alte Hausarzt, Anna-Luise war es in letzter Zeit immer wieder übel geworden, ihnen zur Schwangerschaft gratulierte, konnten sie beide ihr Glück kaum fassen und wussten nicht, wohin mit der ganzen Fröhlichkeit. Anna-Luise sah in ihrem Bauch endlich den Sinn ihres Lebens heranwachsen und leuchtende Tage auf sich zukommen, ausgefüllt mit Wickeln, Stillen und ausgedehnten Spaziergängen über die Hunsrückhöhen, bei denen sie mit anderen Müttern Erfahrungen austauschte und um die Fortschritte ihrer Kinder wetteiferte. Denn nichts verbindet so sehr wie kleine Kinder. Dann würden Jahre folgen, in denen sie ihren Sohn, sie war sicher, dass es ein Junge wird, auf seinem Weg ins Erwachsenwerden begleiten würde. Himmlische Aussichten!
Der Lehrer teilte ihr Glück und ihren Optimismus, fasziniert von der Vorstellung, dass da ein neues Leben entstand, sein Kind, und dass sie dann endlich eine kleine zufriedene Familie waren. Vor allem aber freute er sich, dass seine Frau auch mal wieder lachte und aktiv wurde. Sie gab sogleich bei dem Schreiner im Ort eine Wiege aus bestem Kirschholz in Auftrag, besorgte schon mal eine Rassel, einen kleinen Stoffbären mit kariertem Halstuch, Windeln, Puder und was man sonst noch alles zur Pflege eines Neugeborenen gebrauchen konnte. Hilarius ließ sie gewähren.
Bei all der Freude meldete sich im Verlaufe der Schwangerschaft aber auch sein Verstand zu Wort und ermahnte das törichte Herz, nicht übermütig zu werden. Das Leben hatte ihm genügend Grund gegeben, vorsichtig zu sein und hatte das Füllhorn der Güte nicht gerade überreichlich über ihm entleert. Klar, er hatte großes Glück mit seiner Frau gehabt, bei ihr und mit ihr Heimat gefunden. Aber ansonsten war sein Leben doch eher entbehrungsreich gewesen und holprig verlaufen. Die verhärmte Mutter, die nach Hilarius noch sieben weitere Kinder gebar, von denen drei auch gleich wieder starben. Der Vater, der in den »großen Krieg« ziehen musste, als Hilarius gerade mal dreizehn war, und auf seinen Heimaturlauben dafür sorgte, dass der Nachwuchs gesichert war, und den Kindern gegenüber zur Härte, teils brutaler Härte, neigte. Vielleicht, weil der Krieg ihn zu einem anderen Menschen gemacht hatte, den Gefühligkeit nur in Lebensgefahr gebracht hätte und der sich Mitgefühl verbot, um nicht enttäuscht zu werden. Vielleicht hatte er aber auch nur die Kinder frühzeitig auf die Härten des Lebens vorbereiten und an die Schmerzen des Lebens gewöhnen wollen.
Hilarius’ Vater war eigentlich immer ein intelligenter und freundlicher Mann gewesen. Niemand hätte ihn einen bösen Menschen genannt, aber der Krieg verändert die Menschen und lässt einem oft keine Wahl. Will man nicht an ihm zerbrechen, muss man sich ein dickes Fell zulegen. Er war ein pflichtbewusster Mann, für ihn war es eine Selbstverständlichkeit gewesen, ihm übertragene Aufgaben zu erfüllen, ohne sie zu hinterfragen, was ihm manchmal viel abverlangte, aber die da oben würden sich schon etwas dabei gedacht haben. Wegen dieses unbedingten Gehorsams hatte man ihn auch mit der Überwachung und Kontrolle von Disziplin und Loyalität beauftragen können, ein hartes, aber notwendiges Geschäft.
Und er bekam einiges zu sehen. Der Anblick von Hinrichtungen, unzähligen Varianten an Vergewaltigungen, Plünderungen, Misshandlungen, Leichenfledderei raubten ihm anfangs jeden Schlaf, doch irgendwann war er zu müde und wurde stumpf. Im Gegensatz zu vielen seiner Kameraden konnte er den Anblick der gequälten Menschen aber nie genießen, und er versuchte, sich nicht an den grausamen Spielen zu beteiligen. Er musste zum Beispiel in Frankreich mit ansehen, wie einem Schuster, der nicht verraten wollte, wo seine Tochter sich versteckt hielt, sehr zur Freude der Soldaten, mit seinem Schusterhammer die Hoden zerschlagen wurden. Bedauern taten sie nur, dass der Schuster die Besinnung verlor und nicht zusehen konnte, wie seine Tochter geschändet wurde.
So viel Glück hatte der Mann einer Schneiderin nicht. Er hatte versucht, seiner Frau beizuspringen, als man sich an ihr verging, woraufhin die Soldaten, unter den Blicken seines wie verrückt schreienden Weibes, mit der Schneiderschere an ihm herumschnitten, bis er flehentlich darum bat, endlich sterben zu dürfen, einen Gefallen, den man ihm aber erst nach einer Stunde tat.
Viele der Bilder, die er um des Überlebens willen an der Front in einem hintersten Winkel der Seele abgelegt hatte, verschafften sich während der Heimaturlaube wieder Raum. Er merkte, wie mit jedem Schritt, dem er seiner Heimat näherkam, die Gedanken und Gefühle schwerer auf seinen Schultern lasteten und, wenn er dann endlich zu Hause war, fast erdrückten, sodass er sich, endlich angekommen, wünschte, an der Front geblieben zu sein. Das Leben bei der Familie war schwerer zu ertragen als die Grausamkeiten der Schlachtfelder. Irgendwann konnte er nicht mehr erkennen, was richtig war und falsch, gut oder böse. Klar, er wollte leben, doch er wollte auch nicht leben.
Manchmal, wenn Hilarius von seinem Vater mit dem Ledergürtel verprügelt wurde, wenn er Glück hatte, mit der Seite ohne Eisenschnalle, und wenn es ihm gelang, aus Trotz jedes Jammern und alle Tränen zu unterdrücken, glaubte er in den Augen des Vaters ein Glitzern zu sehen. Als sei dieser froh darüber, dass seine Abhärtungsmethoden endlich fruchteten. Als die Mutter ihren Mann einmal bat, doch etwas gnädiger zu sein, meinte dieser: »Bei Mädchen kommt es ja nicht so drauf an, aber die Burschen müssen lernen, sich durchzusetzen. Da braucht es eine harte Hand!«
Nachdem er die Volksschule mit sehr guten Noten beendet hatte, ging er gelegentlich dem Metzger im Ort bei Hausschlachtungen zur Hand und verdiente so etwas Geld, das er seiner Mutter geben konnte. Er fand die Arbeit allerdings eklig und hoffte, dass ihm der Metzger nicht irgendwann eine Lehrstelle anbieten würde. Da unterstützte er schon lieber seine Mutter, die vor lauter Arbeit kaum eine freie Minute hatte. Er war ja nun vorübergehend der Mann im Haus.
Anfangs hatte Hilarius sich auf die Heimaturlaube seines Vaters gefreut, gleichzeitig fürchtete er sie. Irgendwann sah er den Ankünften seines Vaters nur noch mit wachsender Angst entgegen und schämte sich für seinen Wunsch, dass dieser nicht mehr heimkomme.
Einmal, nachdem er, mittlerweile schon sechzehn und genauso groß wie sein Vater, besonders heftig verprügelt worden war, lief er hinters Haus in den Garten und biss sich dort, im Schutz des alten Apfelbaumes, fest in den Daumen. Erst als das Blut aus dem Nagelbett quoll, konnte er über diesen Schmerz schreien und fluchen. Dann betete er zum lieben Gott, dass dieser den Vater doch bitte sterben lassen soll. Und der liebe Gott erfüllte ihm diesen Wunsch. Zu seinem nächsten Heimaturlaub war der Vater nicht mehr erschienen, weil er vorher im Schützengraben gefallen war. Als der Brief kam, war Hilarius erleichtert und erschrocken zugleich. Hatte er mit seinen Gebeten den Vater in den Tod geschickt?
Diese Erlebnisse mit dem traumatisierten Vater und vor allem die prompte Erfüllung seines Wunsches nach dessen Tod machten Hilarius immer noch zu schaffen. Er tat sich schwer damit, andere an sich heranzulassen, erstickte Gefühlsregungen schon im Keim und achtete darauf, nicht zu hohe Erwartungen an das Leben zu stellen, denn auf gute Zeiten folgen immer schlechte und für jedes Wohlbefinden erhält man irgendwann die traurige Rechnung.
Weil die Mutter nun allein mit den Kindern war, kamen der Lehrer und der Pfarrer überein, man müsse sie unterstützen und etwas für die Kinder tun. Da Hilarius ein pfiffiger, wenn auch trauriger Junge war, ermöglichten sie ihm den Aufenthalt in einer Klosterschule, wo er das Abitur machen und dann entscheiden könne, ob er lieber Kinder unterrichten oder Christenseelen auf dem rechten Weg begleiten wolle. Er entschied sich für die Kinder. Wie sollte auch jemand anderen Menschen Moral predigen, der seinen eigenen Vater auf dem Gewissen hatte? Wissen zu vermitteln und auf die strikte Einhaltung von Regeln zu achten, das lag ihm. Diese Aufgabe begeisterte ihn und darin ging er auf.
Dass seine Frau überzeugt schien, einen Jungen zu bekommen, freute Hilarius, wenngleich ihm auch ein Mädchen recht, vielleicht sogar lieber gewesen wäre. Vielleicht hatte er ja damals schon geahnt, dass es mit diesem Jungen noch die ein oder andere Schwierigkeit geben würde.
Während der Schwangerschaft hatte er sich die Frage gestellt, wie er es denn mit der Erziehung der eigenen Kinder halten werde. Sollte er liebevoll sein oder streng, konsequent oder nachsichtig, herzlich oder sachlich? Da er der Überzeugung war, dass beide Elternteile ihre Gaben und Fähigkeiten in die Erziehung einbringen sollten, und seine Frau von eher herzlichem Naturell war und ganz sicher nicht mit Liebe und Zärtlichkeit knausern würde, beschloss er, die Rückseite der Medaille ihres Erziehungskonzepts zu sein. Keinesfalls in der unberechenbaren Art seines Vaters, sondern verlässlich, präsent, leitend und Richtung weisend, aber konsequent. Hart, aber gerecht.
Als er nun in der Küche auf und ab gehend das Geschrei eines Neugeborenen hörte und die Hebamme ihm durch den Türspalt zu einem kräftigen Jungen gratulierte, übermannte ihn eine Welle der Erleichterung. Gefühle drängten wie ein sich auflösender Kloß vom Magen nach oben, schoben jede Abwehr beiseite und verschafften sich Raum. Hilarius konnte nichts dagegen tun. Er sank schluchzend am Küchentisch in sich zusammen. Wäre noch jemand anderes in der Küche gewesen, hätte der ihn leise flüstern hören: »Papa, ich habe einen Sohn!«
In Höhenthal freute sich das ganze Dorf, dass die Frau des Lehrers einen gesunden Sohn zur Welt gebracht hatte und dass sie, trotz aller Bedenken, die Geburt doch ganz passabel überstanden hatte. »Das ist ja ein sehr zierliches Frauchen, aber zäh«, meinten die Frauen und waren sicher, dass letztlich ihre Bittgebete in dem kleinen Heiligenhäuschen und die Kerzen, die sie dort aufgestellt hatten, den Ausschlag für den guten Ausgang gegeben hatten. »Da musste der arme Mann ja einiges mitmachen«, sagten die Männer und waren froh, dass ihnen das Kinderkriegen erspart blieb.
Eine Zeit lang war Anna-Luise noch sehr schwach und an der Tauffeier ihres Kleinen konnte sie drei Tage nach der Geburt natürlich noch nicht teilnehmen, aber Freude und Dankbarkeit überwogen, wenngleich die Hebamme ihr und ihrem Mann eröffnet hatte, dass eine weitere Schwangerschaft unkalkulierbare Risiken berge und deshalb besser zu vermeiden sei. Anna-Luise hatte sich immer einen Stall voller Kinder gewünscht, deshalb traf sie die Empfehlung der alten Hebamme hart. Ihr Mann versuchte sie zu beruhigen und meinte, die Alte wisse ja auch nicht alles und sei schließlich keine Ärztin. »Anna-Luise, das wird doch alles nicht so heiß gegessen wie gekocht.« Und dann fügte er noch hinzu: »Der Herr lenkt, der Herr schenkt.« Insgeheim war er zwar nicht so zuversichtlich, wie er sich nach außen gab, aber auf keinen Fall wollte er seiner Frau zumuten, noch einmal eine solch strapaziöse Geburt zu durchleiden. Und Anna-Luise war vorerst einfach nur froh mit ihrem Neugeborenen, das jetzt ihre ganze Aufmerksamkeit brauchte. Sie war sicher, die Gottesmutter würde ihr, wenn es soweit war, den richtigen Weg zeigen. Die hatte noch immer gewusst, was zu tun und was zu lassen ist. Und so begann die junge Mutter, sich nun ganz auf ihre neue Aufgabe zu konzentrieren und dafür zu sorgen, dass es dem Kleinen an nichts fehlte.
Bei der Suche nach einem Namen für das Kind waren sich die Eltern sehr schnell einig geworden. Einer der wenigen Menschen, die Hilarius aus seiner Kindheit in positiver Erinnerung hatte, war sein Opa Peregrin, der Vater seiner Mutter. Der hatte immer ein offenes Ohr für ihn gehabt, war mit ihm in die Natur gegangen und hatte spannend zu erzählen gewusst, hatte ihm Märchen vorgelesen, aber auch Schlehenbüchsen und Nistkästen mit ihm gebaut. Einmal hatten sie an dem kleinen Bach unter dem Dorf ein Wasserrad gebaut, das von allen, die dort vorbeikamen, bewundert wurde. Und Opa sagte ihnen, dass Hilarius das geschaffen und er selbst nur mitgeholfen habe. In Erinnerung an diesen guten Menschen würde das Kind Peregrin heißen. Ein etwas ungewöhnlicher Name, aber halt auch ein besonderer.
Während der Taufe, das halbe Dorf war in die kleine Dorfkirche gekommen, saß Anna-Luise zu Hause in der guten Stube. Ihr Mann hatte sie in den bequemen Ohrensessel gesetzt, von wo aus sie einen Blick über die weiten Hunsrückhöhen hatte. Sie betete einen Rosenkranz und dachte an all die schönen Dinge, die sie nun würde erleben dürfen. Vor sich sah sie dankbar die Bilder eines kleinen, trauten Familienglücks. Als sie einmal glaubte, einen Schatten über diesen Bildern wahrgenommen zu haben, wischte sie diesen schnell beiseite. »Das Leben ist schön!«, sagte sie sich, aber der Glanz in ihren Augen war etwas weniger fröhlich geworden.
In einem kleinen Dorf im Hunsrück aufzuwachsen war schön, angenehmer als in der Stadt. Die Landschaft war herrlich, die Luft gesund. Wanderer und immer öfter auch Urlauber suchten hier Ruhe und Erholung. Die Frau des Schreiners stellte sogar zwei Zimmer für Erholungssuchende bereit, die fast immer ausgebucht waren.
Anna-Luise fühlte sich hier im Dorf bald seltsam behütet und sicher, beschützt in einer überschaubaren Welt, in der nicht überall Gefahren lauern, jedenfalls noch nicht. Hier kannte jeder jeden. Freude und Leid wurden geteilt. Die Menschen redeten viel miteinander. Manche meinten sogar, es würde zu viel geredet. Man wusste alles voneinander. Wo Nachwuchs erwartet wurde, aber auch, um welchen Hof sich schon der Tod herumtrieb. Man kannte die Malaisen der anderen und beschrieb ausführlich die eigenen. Man beobachtete, wo sich neue Zweisamkeit anbahnte und wo Ehen zu kriseln begannen, wer gute Geschäfte gemacht und wer Geldsorgen hatte. Man wusste, wer am Samstag im Dorfkrug die Schlägerei angezettelt und wer am Sonntag beim Hochamt gefehlt hatte, wer Besuch vom Nachbardorf bekam und was diesem zum Mittagessen vorgesetzt wurde. Alles wurde in breitem Hunsrücker Dialekt geteilt und kommentiert. Kamen Fremde ins Dorf, waren die erstaunt über das ausgeklügelte Netz an Informationen und fragten, wie man unter einem solchen Mangel an Privatheit überhaupt leben könne. »Ach, was!«, sagten die Hunsrücker. »Hier ist es einfach megalisch schön!«
Mit der Geburt Peregrins, im Dorf nannten ihn der Einfachheit halber alle nur Per oder »Et Perchje«, wurde Anna-Luise Teil dieses pulsierenden Miteinanders. Na ja, sie war als Frau des Lehrers vielleicht etwas weniger gleich als die anderen und sprach halt anders. Hochdeutsch. Doch sie wurde von Tag zu Tag vertrauter mit dem Leben in Höhenthal. Ihr Peregrin war für sie, wie sie es erhofft hatte, die Eintrittskarte in die Dorfgemeinschaft geworden.
Und der gedieh prächtig. Wenn sie, anfangs mit Kinderwagen, später mit dem Kind an der Hand, durchs Dorf ging, blieben die Leute stehen, begrüßten sie freundlich und interessiert, fragten nach dem Befinden, berichteten über die eigene Befindlichkeit und sparten auch nicht mit Lob darüber, wie propper das ›Perchjen‹ wuchs und gedieh. »Ein schönes Kind!«, sagten die Frauen. »Ein kräftiger Bursche!«, meinten die Männer. Als Anna-Luise gefragt wurde, ob sie nicht im Kirchenchor mitsingen wolle, was sie gerne tat, denn sie hatte eine sehr schöne Alt-Stimme, und wenig später sogar gemeinsam mit ihrem Mann zur ›Silbernen Hochzeit‹ vom Schmied und seiner Frau eingeladen wurde, da war ihr klar, sie hatte es geschafft. Bei dem Ständchen vor dem Jubelpaar kam das »Oh, wie schön ist Deine Welt« tief aus ihrem Herzen und sie wünschte sich, dass die Welt stehen bleiben könne. Was diese natürlich nicht tat. Denn die Welt dreht sich immer weiter. Nichts bleibt, wie es ist.
Und der kleine Peregrin? Er war schnell zum Mittelpunkt der Familie geworden. Um ihn drehte sich alles. Hatte er Hunger, genügte ein kleiner Schrei und schon durfte er wohlig und zufrieden an der Brust seiner Mutter saugen. Er musste nie über volle Windeln lamentieren; zu oft roch Anna-Luise an ihm, denn er sollte keinesfalls wund werden und Schmerzen ertragen müssen. Stets lag für ihn eine Windel bereit, deren Zipfel mit etwas Honig betupft war. Seine Mutter genoss es, wenn er darauf kaute und lustvoll stöhnte. Wenn ihm mitten in der Nacht nach Gesellschaft war, und das tat es immer öfter, krähte er in seiner Wiege und fand sich nur Sekunden später schon im Elternbett wieder. War ihm danach, schlief er dort gleich wieder ein, wenn nicht, verlangte er nach Unterhaltung und es war um die Nachtruhe der Eltern geschehen.
Als Anna-Luise bemerkte, dass das Kind umso schwerer zu beruhigen war, je später sie es ins Bett zu sich nahm, ging sie dazu über, ihn gar nicht mehr in die Wiege, sondern direkt ins Bett zu legen. »Ich frage mich, warum wir die teure Wiege haben anfertigen lassen«, sagte Hilarius und seine Stimme klang vorwurfsvoll. Irgendwann saß er abends alleine in der Stube, denn seine Frau war dazu übergangen, mit dem Kind gemeinsam schlafen zu gehen, damit sie es später nicht mehr wecken musste. »Du verwöhnst ihn, das kann nicht gutgehen«, mahnte er. Doch dann schaute sie ihn traurig an und meinte: »Er ist doch noch so klein und zerbrechlich. Lass ihn erst mal das Laufen und Reden lernen, dann wird sich schon alles fügen.« Hilarius war anderer Meinung, aber er wollte seine Frau nicht kränken. Zu froh war er, dass die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf verschwunden waren und sie manchmal sogar singend durchs Haus lief und ihn so an ihrer Freude über Peregrin teilhaben ließ. Und doch, er war auch besorgt. Es gab wohl kein Kind im gesamten Hunsrück, das so verzärtelt und dem jeder Wille getan wurde. Aber, wie gesagt, er wollte seine Frau nicht tadeln und entschied sich, die Kindererziehung fürs Erste noch in ihren Händen zu lassen. Später würde er sich einmischen müssen, denn als Pädagoge war ihm klar, dass Kinder klare Strukturen, wenn nicht gar eine harte Hand brauchen, um später im Leben zurechtzukommen.
Natürlich liebte er Peregrin sehr und hätte alles für ihn getan, aber er merkte doch, wie ihn der Kleine mit seinen fröhlich, aber bestimmt hinausgekrähten Befehlen, den Zuneigung einfordernden Blicken und seiner Raum fordernden Präsenz mehr und mehr irritierte. Es brachte ihn innerlich auf, wenn er sah, wie Mutter und Kind zunehmend eins wurden. Das mochte auch damit zu tun haben, dass er seit Monaten jede Zärtlichkeit im Ehebett vermisste. Wie sollte das auch gehen, der Kleine lag ja ständig zwischen ihnen und war, wenn sie es doch einmal probierten, sehr hellhörig und schon aufgewacht, bevor er seine Frau auch nur geküsst hatte. »Er ist ja so sensibel«, meinte diese schmunzelnd. »Und hat mit seiner Sensibilität unsere ganze Familie im Griff«, ergänzte Hilarius, sprach aber nicht mehr weiter, als er sah, dass seiner Frau Tränen in die Augen traten. ›Wer weiß, wofür es gut ist‹, dachte er. Schließlich hatte die alte Hebamme ja auch dringend von weiteren Schwangerschaften abgeraten. Doch es fiel ihm von Nacht zu Nacht schwerer.
Kurz spielte er sogar mit dem Gedanken, in die Stadt zu fahren. Er wusste, wo dort Frauen standen, bei denen man Liebe, genauer gesagt Lust, kaufen konnte. Doch erstens war das Gehalt eines Dorfschullehrers nicht groß und zweitens hätte er sich geniert und gar nicht gewusst, wie er die Damen hätte ansprechen sollen.
Die Schneiderin des Dorfes sang auch im Kirchenchor, den Hilarius mittlerweile dirigierte. Sie war Witwe und warf Hilarius bei jeder Gelegenheit vielsagende Blicke zu. Seine Frau zu betrügen, kam für ihn allerdings nicht infrage. Einen solchen Schritt hätte er sich nie verziehen. Als er sich bei dem Gedanken ertappte, dass der Kleine seine Rolle, also die des Vaters, in der Familie übernehmen würde, war ihm klar, dass sich etwas ändern musste. Er wusste nur nicht, was. Meistens findet das Leben selbst einen, wenn auch nicht immer bequemen Weg.
»Raus hier, aber schnell!« Peter Friesenhahn
Mein Name ist Georg von Trochwitz, ich bin 42 Jahre alt, war früher Journalist bei verschiedenen Zeitungen, seit einigen Jahren bin ich freiberuflicher Schriftsteller.
Bekannt geworden bin ich durch meine Krimis, die mit schwarzem Humor gespickt sind, und für meine Romane fuhr ich in die Länder, in denen die Handlung spielen sollte.
Authentisch musste es sein, ich fuhr zum Beispiel nach Venezuela, in den Hunsrück oder auch nach Norwegen. Hier, im hohen dunklen Norden schrieb ich den Roman »Mitternachtsmond.«
Das Buch hatte tolle Kritiken und gute Verkaufszahlen, aber das ist alles Schnee von gestern.
Im Moment nage ich am Bleistift und denke nach, denn ich will mal wieder einen Krimi schreiben.
Aber was ich auch denke, es führt zu nichts. Zu keiner Idee, zu keinem Plot. Lauter wirres Zeug schwirrt in meinem Kopf herum, ich kann nichts festhalten, nichts herauskristallisieren. Kann meine durcheinander strudelnden Gedanken nicht in Worte fassen.
Alte Geschichten ziehen an meinem geistigen Auge vorbei. Schon lange erledigt. Figuren, die ich früher erfunden habe, stellen sich kurz vor und verschwinden wieder im wirbelnden Kopfnebel.
Sie sollen bitte auch schnell verschwinden. Ich will sie nicht mehr sehen.
Neue, frische Figuren mögen freundlicherweise auftauchen, ein Eigenleben entwickeln.
Sie sollen streiten, sich lieben, sich töten, aber nichts dergleichen geschieht.
Ich komme mir vor wie ein Schüler, der gelähmt vor Angst schwitzend in der Schulbank sitzt und unfähig ist, den für die Versetzung wichtigen Deutschaufsatz anzufangen.
Schreibblockade nennt man das. Ein ungebetener Gast, der sich manchmal überraschend einstellt.
Man soll, so las ich in einem schlauen Buch, als frustrierter Schriftsteller dann den Ort wechseln oder spazieren gehen, um so den Geist zu befreien und die Kreativität zu steigern. Beides geht bei mir aus bestimmten Gründen nicht.
Berühmte Schriftsteller wie Jack London und Ernest Hemingway sollen Whiskey und andere hochprozentige Alkoholika getrunken haben, um schreiben zu können. Dostojewski soff Wodka, heißt es. Diese Getränke habe ich zur Zeit leider nicht zur Verfügung.
Früher lief das alles viel besser bei mir. Oft schlugen Blitze in meinen Geist und mit einer dadurch gezündeten Idee schrieb ich in einem Rutsch einen spannenden Krimi. In dreieinhalb Monaten war er fertig. Ich wusste ganz genau wer wen warum nicht leiden konnte, wer mit wem fremd ging, wer gierig nach Macht war und warum jemand von wem getötet wurde. Und vor allen Dingen hatte ich immer den Weg, die Spur im Kopf, die der Detektiv oder die Kommissare gehen mussten, um den Fall aufzuklären.
Meine Ideen sprudelten nur so aus mir heraus. Zum Beispiel diese:
Ich erfand für einen Krimi einen etwas verklemmten, unbeholfenen Polizisten, der durch einen Fall stolperte, in dem der Verbrecher sich über ihn, den plumpen Gesetzeshüter, lustig machte, ihn nach Strich und Faden verarschte und belog. Um der ganzen Sache den richtigen Kick zu geben, ließ ich den üblen Gauner noch mit der attraktiven Frau des Polizisten ins Bett gehen. Als ich diese Idee hatte, wurde mir richtig warm ums Herz. Dann verlieh ich dem Polizisten im Buch noch die Großherzigkeit, seiner Frau den Seitensprung zu verzeihen, um dann doch noch am Schluss dem Verbrecher seine Mordtat nachzuweisen und ihn zu verhaften. Die Leserschaft würde sich über diesen Schluss freuen.
Aber ich wollte noch ein überraschendes Ende. Ein Happyend kann schließlich jeder. Also ließ ich meine lebhafte Fantasie schweifen, dann hatte ich diese Idee, ich schrieb:
»Doch seine Großzügigkeit zahlte sich nicht aus. Als er nach Hause kam begann seine Frau einen üblen Streit mit ihm. Sie schrie, er blieb ruhig, sie fauchte ihn an, er blieb ruhig, sie wurde immer wütender und schlug ihn, er blieb ruhig, sie spuckte ihn an und dann nahm sie plötzlich seine Dienstpistole und tötete ihren Mann mit einem Schuss in den Kopf.«
Ein toller Schluss mit dem Schuss, nicht wahr? Nicht vorhersehbar auf 244 Seiten, plötzlich und unerwartet: Peng. Der Leser hat am Ende noch einmal Gänsehaut und empfiehlt das spannende Buch vielleicht weiter. Mir wäre das sehr recht, denn im Moment geht es mir wirtschaftlich und schriftstellerisch nicht so gut.
Mein Verleger meinte damals: »Georg, diesen brutalen Schluss lassen wir weg, Happyend ist besser.«
Also ließ ich den Schluss weg, doch das Buch verkaufte sich gar nicht gut.
Monatelanges Schreiben und nur ein paar Euro.
»Dann schreiben Sie eben einen Regionalkrimi, Georg«, meinte der Verleger, »so was geht immer.«
Ich schaute mich bei den Kollegen um. Jeder schrieb gerade einen Regionalkrimi:
»Tot in der Eifel«,
»Erschossen im Hunsrück«,
»Verhungert in Trier«,
»Das deutsche Eck wird rund«.
Eine Krimi-Inflation war in Gang gekommen. In diesen braven ruhigen Gegenden sollten Morde scheußlichster Art passiert sein? Unglaublich. Nicht realistisch. Alles Quatsch.
Auch das Buch »Mörderische Mosel« ist ein Beispiel dafür, dass die Autoren keine Ahnung von der kriminellen Wirklichkeit im Moseltal haben. Hier an der Mosel werden höchstens mal zwei oder auch fünfzig Winzer erwischt, die wieder einmal mit schwarz verkauftem Weißwein viel Geld eingenommen haben. Hier wird auch nicht gemordet, hier trinkt man sich höchstens tot.
Tatort Hunsrück: die Hunsrücker werden als räuberisches Bergvolk beschrieben, alle denken an Schinderhannes und seine martialischen Spießgesellen. Aber die Nachfahren dieser wilden Spezies sind brave Bauern und Verwaltungsangestellte, die höchstens samstags mal im Schützenverein ballern und ansonsten im katholischen Teil des Berglandes artig in ihren schicken Uniformen die Fronleichnamsprozession begleiten.
Und trotzdem, es boomt mit den Krimis um die Region des Erbeskopfes. Mal wird jemand vom Saar-Hunsrück-Steig gestoßen, mal findet man eine Leiche unter der schönen, hundert Meter hohen Hängeseilbrücke oder jemand verhungert, eingesperrt im höchsten Windrad des Hunsrücks.
An dem ganzen Regionalkram war Berndorf schuld. Ein kleines beschauliches Dorf in der Eifel, das einem Autor seinen Namen lieh. Hier wurde der Journalist Siggi Baumeister geboren, der ungewöhnliche und außergewöhnlich viele Kriminalfälle in der ruhigen Eifel löste.
So viel kriminelle Energie im vulkanischen Gebiet? Na ja, es brodelt, brubbelt und zischt immer noch in der Eifel. Vielleicht bricht nochmal ein Vulkan aus, das wäre dann ein Highlight für die Schreiber dort. Ich sehe schon die Buchtitel:
»Im Strom der tödlichen Lava« oder
»Im Vulkan der Liebe«,
»Er war hart wie Basalt«.
Alles Blödsinn, keine guten Titel.
Ein Autor aus der Eifel, den Namen will ich nicht nennen, schreibt sogar lustige Geschichten über Mord und Totschlag, in seinen Lesungen lachen sich die Zuhörer über seine schrägen Morde tot. Alles tolle Kollegen, diese einfallsreichen Autoren. Aber mir, wie schon gesagt, mir fällt im Moment nicht viel ein.
Als ich damals den Krimi »Das dunkle Haus im Schatten des Waldes« schrieb, war alles noch in Ordnung. Der Detektiv suchte in einem alten, heruntergekommenen Haus im Wald nach einem verschwundenen Mädchen. Er brach in das verlassene Haus ein und verlief sich in dunklen, endlos scheinenden Korridoren. Er hörte Geräusche, das Wimmern eines Kindes, den Schmerzensschrei einer Frau und fand ein verborgenes Zimmer, in dem in einem Versteck das Tagebuch des Mädchens lag. Im Tagebuch hatte das Mädchen nämlich bis zu ihrem Verschwinden alles aufgeschrieben.
Vom Besuch des unheimlichen Maskenmanns, der sie quälte und daran höllischen Spaß hatte.
Was sie wann und wie viel zu essen und zu trinken bekam. Sie schrieb auf, was sie hörte und was sie roch. Anhand dieser Eintragungen fand er Tage später im letzten Moment das Mädchen in einer Kiste in der tiefen Werkstattgrube der Scheune. Lebend, aber fast verdurstet. Der Spur des Maskenmanns folgte er dann noch wochenlang, und durch die Aufzeichnungen im Tagebuch gelang es ihm, den Verbrecher in letzter Minute und mit Hilfe meiner lebhaften Fantasie kurz vor dem Betreten des Ryanair-Fliegers nach Zagreb am Triwo-Flughafen Hahn zu stellen.
Das Buch war ein Renner im Verlag und auf meinem Konto.
Meine lebhafte Fantasie ist mir aber leider durch besondere Umstände abhanden gekommen.
Es schlagen keine Geistesblitze mehr ein, nur noch dunkle Wolken umwabern den Teil meines Gehirns, in dem normalerweise der Schreibvorgang stattfindet. Scheiß Schreibblockade!
Noch nicht einmal ein guter Anfang fällt mir ein, in meiner jetzigen Situation ist das ja auch erklärlich. Aber trotzdem: da ist eine unfertige Geschichte, die mir immer noch im Kopf herumspukt. Seit Monaten liegt sie bleischwer in meinem präfrontalen Kortex, ohne dass sich eine Weiterentwicklung zeigt. Ein Anfang ist zwar angedacht, er ist aber nicht wirklich originell.
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass während des Schreibens meine Fantasie auf Touren kommt, vielleicht ergibt sich ja doch noch was daraus. Ich erzähle mal, was ich bisher habe:
Ein Einbrecher dringt nachts in ein Haus ein, der Besitzer ertappt den Mann, es kommt zu einem Gerangel und der Besitzer schlägt den Eindringling tot.
Mit was lass ich ihn zuschlagen? Mit dem Golfschläger, der im Schirmständer steht oder gleich mit dem Schirmständer? Besser ist der Golfschläger. Allein das Wort Schläger weckt schon Assoziationen beim Leser. Schirmständer eher nicht, also schlägt er mit dem Golfschläger zu.
Der Bewohner des Hauses, ich nenne ihn Rainer, macht das Licht an, dreht den toten Mann um und erkennt entsetzt, dass er seinen eigenen Bruder Oliver erschlagen hat.
Eine Kain-und-Abel-Geschichte.
Aber weiter bin ich noch nicht gekommen. Mein Bleistift wird immer fransiger und nasser, mein Schreibpapier bleibt leer und weiß. Auf Papier zu schreiben hat aber auch sein Gutes, man muss die Sätze gut formuliert im Kopf haben, bevor man sie aufschreibt. Beim Computer kann man mit einem Klick alles löschen, neu formulieren, fabulieren, drauflos schreiben, wieder löschen und so weiter. Mit dem ganzen Geklicke verschwimmt aber oft alles im labyrinthischen Gedankenwirrwarr.
Zurück zum Tatort:
Entsetzen macht sich breit, beim Täter, aber auch bei der mittlerweile durch den Krach wach gewordenen Ehefrau. Sie reagiert entsetzt, als sie den toten Mann sieht und erkennt. Sie heult, schreit und lamentiert wie ein albanisches Klageweib.
Warum brüllt sie so? Hat sie vielleicht mit dem Bruder was gehabt? Ich weiß es noch nicht, wie gesagt, in meinem Kopf ist es noch sehr leer. Der Mann, der zugeschlagen hat, also Rainer, sitzt nun im Flur auf dem Boden, blass wie eine Leiche und aus der Leiche, die vor ihm liegt, sprudelt Blut.
Ja, das ist gut. Sprudelt. Oder quillt? Was ist besser, was klingt schauriger? Sprudelt oder quillt?
Ich überlege noch mal, strenge meinen Gehirnkasten an – und ich nehme ›strömt‹. Strömt klingt gewaltig. Beim Computer hätte ich für sprudelt bestimmt schnell einen anderen Begriff gefunden, durch Thesaurus, aber so ist es auch gut gelaufen. Nicht einmal fünf Minuten habe ich gebraucht, um das Wort strömt zu finden. Man merkt, wie anstrengend und zeitaufwendig so eine Schreibe ist.
Fünf Minuten für ein Wort. Zurück zur Leiche.
Während das Blut aus ihr herausströmt, will Rainer einen Arzt, den Rettungswagen und die Polizei rufen, aber seine Frau schüttelt weinend den Kopf: »Bitte keine Polizei! Und Arzt brauchen wir auch keinen mehr, der ist doch schon tot.«
Und sie fügt noch hinzu: »Oliver muss hier weg.«
Dann setzt sie sich schwer atmend in einen Stuhl im Flur.
Nein, das geht besser: Dann lässt sie sich schwer atmend in einen Sessel im Flur fallen.
Das klingt gut.
Ja, und damit sich der Leser einen Eindruck vom Flur machen kann, wird jetzt beschrieben, wie der aussieht, wie weitläufig, welche Kommode dort steht, welche Gegenstände auf dem Schränkchen, welche Leuchte an der Decke, welche besondere Tapete, welche Bilder an den Wänden … und natürlich wird der Schirmständer beschrieben, der im Urlaub vor vielen Jahren auf einem französischen Flohmarkt erstanden wurde. Ich könnte noch hinzufügen, dass der Golfschläger auf einem Wanderweg, der quer durch einen Golfplatz führte, von Rainer »gefunden« wurde, aber das führt jetzt zu weit und würde den Leser nur verwirren.
Der Teppich wird vielleicht noch wichtig werden und die Tür zum großen Garten mit dem wunderschönen Swimmingpool. Nein, andersrum ist besser: Die Tür zum wunderschönen Garten mit dem großen Swimmingpool.
Zurück in den Flur unseres Mörders: Die Leiche liegt, der Rainer sitzt und seine Frau – ab jetzt heißt sie Annika – nimmt den Golfschläger mit spitzen Fingern vom Boden, geht in die Küche und wischt das Blut ab, macht auch den Griff sauber, um Fingerabdrücke unkenntlich zu machen – Moment! Das ist Quatsch, denn wer sonst als Rainer nimmt den Golfschläger in die Hände?
Sonst keiner als Rainer.
Dann sagt sie zu Rainer und zeigt auf die Leiche: »Olli muss hier weg.«
Er blickt mit Tränen in den Augen zu ihr auf und sagt, nein besser – Moment, ich hab’s gleich – er sagt nicht, er schluchzt. Schluchzen ist besser. Also, Rainer schluchzt: »Ich bin fix und fertig! Wie konnte das passieren? Oliver, Olli, es tut mir so leid! Was machst du auch hier nachts um halb eins, ich versteh das nicht. Annika was machen wir bloß? Wir müssen doch was tun!«
Annika zuckt mit den Schultern.
»Ich sagte doch, der muss hier weg, aber ohne Polizei. Uns fällt schon noch was ein, Rainer. Lass uns überlegen.«
Und während die beiden jetzt überlegen, wie sie die Leiche des Bruders aus dem Haus schaffen könnten, eingerollt in einen Teppich vielleicht, wie man das so aus Krimis kennt, überlege ich, wie man das Ganze noch spannender, emotionaler machen könnte.
Dafür stehe ich auf und gehe auf und ab, auf und ab, immer wieder. Ein probates Mittel um Ideen zu bekommen. Und dann auf einmal funkt es oder auch nicht, aber dieses Mal funkt es schon beim zwölften mal »hin und her«. Ich mache aus Rainers Bruder Oliver seinen Zwillingsbruder. Das rührt den Leser bestimmt zu Tränen und lässt seine Haare auf den Unterarmen zu Berge stehen.
Zu Berge? Welche Berge? Das mit den Haaren und den Bergen lass ich weg.
Der Gedanke mit dem Zwillingsbruder ist gut.
Jetzt will man natürlich wissen, warum der Zwillingsbruder in das Haus eingestiegen ist.
Oder soll ich schreiben, eingebrochen? Dafür müsste am Anfang ja eine Scheibe, ein Fenster, eine Glastür zu Bruch gegangen sein. Sonst hieße das ja nicht eingebrochen. Also Bruch, Klirrrrr.
Ich blättere zurück. Eindringen, habe ich am Anfang geschrieben, das bleibt so, er dringt ein.
Aber warum ist er eingedrungen in das Haus seines Bruders?
Nach der soundsovielten Hin-und-Her-Geherei habe ich eine Idee:
Das Ehepaar Rainer und Annika haben schon länger getrennte Schlafzimmer, denn Rainer schnarcht gewaltig, er zersägt in einer Nacht fünf Kubikmeter bestes Hunsrücker Buchenholz und deshalb, und aus anderen ehelichen Gründen haben die beiden sich geeinigt, zwei Schlafzimmer zu benutzen.
Weil Oliver schon immer hinter Annika her und sie nicht abgeneigt war, hat sie öfter, nach telefonischer Absprache mit Oliver die Tür zum wunderschönen Garten einen Spalt weit offen gelassen. Aber wieso ist Rainer wach geworden? Oliver stieg doch unbemerkt ein, ging doch ganz leise auf grauen Schafwollsocken auf dem weichen Teppich im Flur. Vielleicht musste Rainer auch nur pinkeln und beim Toilettengang hat er dann den dunklen Schattenmann gesehen. Quatsch! Schattenmann ist Quatsch. Im Flur war es dunkel und wenn es dunkel ist, gibt es keinen Schatten. Also nochmal: Rainer geht im Dunkeln zur Toilette und trifft plötzlich im Flur auf einen Mann.
Er erschrickt, es kommt zum Gerangel und Rainer schlägt Oliver mit dem Golfschläger eins über die Rübe. Ganz einfach, so war es.
Aber was ist mit Annika los? Natürlich hat sie Angst, dass ihr Verhältnis mit Oliver durch die Vernehmung mit der Polizei bekannt wird. Sie hat auch Angst, Rainer zu verlieren, das Haus, den großen Swimmingpool im wunderschönen Garten.
Jetzt kommt mir die Idee, die Leiche von Oliver im Garten vergraben zu lassen. Aber Rainer fragt sich, warum soll Oliver verschwinden? Warum drängt seine Frau so darauf?
Ach, ich komme einfach nicht weiter mit der Geschichte. Ist alles nicht logisch aufgebaut, nicht spannend genug. Solche Untaten passieren tatsächlich jeden Tag, aber meine Version ist langweilig.
Es klingt banal, aber die meisten Morde sind wirklich Beziehungstaten, oft in der eigenen Familie. Familie kann furchtbar sein, ich rede aus eigener Erfahrung.
Eine Verwandte von mir aus Trier, Tante Käti, hat ihren Mann, also meinen Onkel Bernd, aus ihrer Wohnung im vierten Stock vom Balkon gestoßen. Absichtlich. Er fiel zum Entsetzen einiger Passanten genau vor den Eingang von H&M, was die Kauflust einiger Leute doch sehr beeinträchtigte. Nachdem Tante Käti sich vergewissert hatte, dass ihr Mann gut unten aufgeschlagen war, alarmierte sie die Polizei. Bei ihrer Festnahme sagte sie, er habe immer und immer mit ihr geschimpft, keine Pause gemacht. Von morgens bis abends habe er herum gemotzt, seit Jahren habe er sie gedemütigt.
»Und geraucht hat er! Die ganze Wohnung hat er voll gestunken mit seinem ekligen Zigarrenqualm! Es reicht jetzt!«, sagte sie. Da war Tante Käti zweiundachtzig und die beiden hätten in ein paar Tagen goldene Hochzeit gehabt.
Deshalb schreibe ich gerne über solche Familiengeschichten, da kann ich ein Wörtchen mitreden.
Ich kann keinen Wirtschaftskrimi schreiben mit Bitcoin und den üblen Machenschaften deutscher Banken. Auch liegt es mir nicht, undurchsichtige Firmengeflechte aufzudecken und dubiose Staranwälte zu beschreiben, die dann den stinkreichen Wirtschaftsbossen die heißen Kastanien aus dem Feuer holen und durch wahnsinnige hohe Anwaltskosten noch reicher werden.
Das ist nicht so mein Ding. Besser die liebe Nachbarschaft beobachten, den normalen Menschen auf die Finger gucken. Zum Beispiel dem cholerischen Bäcker, der seinen jungen Mitarbeiter schon zweimal gefeuert und dann wieder eingestellt hat. Bäcker sind halt schwer zu finden.
Dem mutigen Tankwart hinter die Theke schauen, der schon dreimal überfallen und ausgeraubt wurde und seit neuestem eine Pistole unter der Kasse versteckt hat. Wehe dem nächsten Räuber.
Auf die alte Tante Adelheid achten, die fast ihr gesamtes Geld an einen Enkeltrickbetrüger verloren hat. Obwohl sie gar keinen Enkel hat.
Das sind Ereignisse, die mich beschäftigen und die zu manch kurzweiliger Geschichte geworden sind, die ich manchmal sogar an den Herausgeber einer Anthologie verkaufen konnte, was mir geholfen hat, den nächsten Monat finanziell zu überstehen.
Und wichtig! Aus dem Fenster schauen, da sieht man manchmal bemerkenswerte Sachen, die ich mir sofort notiere.
Aus dem Fenster schauen? Na ja, da ist zur Zeit nicht viel zu sehen.
Zurück zu der armen, immer noch überlegenden, unter Schock stehenden Familie Brock.
So heißen sie, Brock. Leicht zu merken. Also, wir haben jetzt den getöteten Oliver Brock, seine Geliebte Annika Brock und Olivers Mörder, Rainer Brock, Ehemann von Annika und Olivers Zwillingsbruder.
Jetzt will der Leser natürlich näheres über das Aussehen und den Charakter der Mitwirkenden erfahren. Also denke ich mir was aus. Aber es muss passen! Oliver Brock, ein stattlicher Kerl, durchtrainiert, markante Nase, hervorstehendes Kinn und ganz kurze schwarze Haare, Dreitagebart. Da er nur eine kurze Rolle spielt, brauche ich seinen wahren Charakter nicht zu beschreiben.
Sein Bruder Rainer, natürlich ebenso stattlich, Nase und Kinn gleich markant, schwarze Haare, aber er ist ein Weichei, ein ganz normaler langweiliger Ehemann. Er geht ganz in seinem Job auf und hat keine Zeit für seine Frau.
Annika hat einen blonden Kurzhaarschnitt, sie ist lebenslustig und sehr kontaktfreudig.
So, das ist die Kurzfassung, mehr dazu, wenn es zur Sache geht. Zurück zu Olivers Mörder.
Schon wieder falsch. Rainer ist gar kein Mörder, er hat in Notwehr gehandelt, also ist er ein Totschläger. Für Totschlag gibt es, so viel ich weiß, weniger Strafe, und wenn dann noch Notwehr dazu kommt, wird es vielleicht sogar ein Freispruch.
Verdammt noch mal, so wird das kein spannender Krimi! Jetzt würde ich gerne recherchieren: Mord, Totschlag, Notwehr, Affekt, wie viel Jahre Gefängnis bekommt er? Aber zum Teufel, ich habe keinen Computer, und ohne so ein Ding gibt es keine gute Recherche. So langsam fehlt mir ein PC. Wenn ich wenigstens ein Handy hätte, dann könnte ich eine meiner Nichten anrufen und sie fragen. Sie hat Jura studiert und weiß solche rechtsrelevanten Sachen ganz bestimmt.
Vielleicht hat man es beim Lesen der letzten Seiten mitbekommen. Ich habe geschrieben: meine besondere Situation lässt es nicht zu, oder: im Moment geht es mir wirtschaftlich und schriftstellerisch nicht so gut, ich habe keinen Whiskey und keinen Wodka im Haus, und das wichtigste: ein Ortswechsel geht bei mir aus bestimmten Gründen nicht.
Bitte nicht erschrecken! Ich atme im Moment gesiebte Luft hinter schwedischen Gardinen ein und sitze schon seit geraumer Zeit im Knast, dort ist ein Ortswechsel höchstens von der Gefängniszelle auf den Hof möglich. Im Knast ist kein Computer erlaubt und ich muss deswegen alles, was mir einfällt, mit der Hand, in der ich Bleistift oder Kuli habe, aufschreiben. Und das nur bis 22 Uhr.
Dann ertönt die Stimme des wachhabenden AVDs aus dem Lautsprecher: »Bitte Fenster schließen, es beginnt die Nachtruhe.«
Und dann geht das Licht in der Zelle aus. Schluss mit Lustig.
Ich sitze übrigens unschuldig hier. Ich soll meinen Verleger umgebracht haben, sagt der Richter in seinem Urteil. Was aber nicht stimmt. Wirklich nicht.
Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich nun im Gefängnis, ein bedrückendes Gefühl.
Der Freiheit beraubt. Lähmendes Entsetzen als die Zellentür mit einem lauten Wumms zufiel und von außen abgeschlossen wurde. Luftnot und augenblicklich ein Angst einflößendes Gefühl der Enge. Der Blick durch das vergitterte Fenster, der Blick auf die Toilette, das Waschbecken, das Bett, die grau gestrichenen Wände und der Blick zurück auf die stabile Zellentür mit der Revisionsklappe. Der Blick auf den jungen Mann, der auf dem zweiten Bett sitzt und summt, den Kopf leicht dreht, dann aufhört zu summen, mich anstarrt und »Hallo« sagt.
Ich bekomme keinen Ton heraus, meine Stimme versagt. Ich räuspere mich und ein leises, krächzendes Hoooo kommt aus meiner Kehle.
Ich habe noch die Klamotten, die man mir eben mitgegeben hat, in der Hand. Der junge Mann sieht das und sagt: »Du bist links im Schrank.«
Er zeigt auf das abgeschabte Möbelstück. Dann dreht er den Kopf und summt weiter. Ich gehe die zwei Schritte, lege die Klamotten hinein und setze mich schwer atmend auf das Bett.
Mit jedem Atemzug rücken die Wände ein Stück näher. Luftnot, ein Schweißausbruch, meine Hände zittern. Ich lege mich aufs Bett, Herzklopfen, sogar im Ohr, und schaue an die graue Decke.
Presse die Augenlider zu. Zwinge mich zur Ruhe. Ich habe noch nie Angst verspürt, aber dieser Zustand der Enge jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Ich öffne die Augen und sehe mich um, so weit das eben auf vierzehn Quadratmetern geht. Ein klaustrophobisches Gefühl überfällt mich, ich fange an zu stöhnen und stoßweise die Luft aus meinem schweißnassen Körper zu pressen.
Der junge Mann summt weiter. Dann hört er plötzlich auf mit dem Gesumse. Erschrocken schaue ich ihn an, er dreht den Kopf zu mir und sagt mit ausdruckslosem Gesicht: »Das mit der Platzangst, das ist am Anfang immer so. Das legt sich nach ein paar Wochen.«
Dann summt er wieder. Ich bekomme Magenkrämpfe und Durchfall, muss diese Toilette benutzen, die im Raum mit einer Plastikverkleidung vor den Blicken des Mitgefangenen schützt.
Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene
Schuld – Tinnitus der Seele
Texte aus dem deutschen Strafvollzug 2024
Maximilian Pollux
Geleitwort
Mein Name ist Maximilian Pollux.
Das war nicht immer so. In meinem alten Leben trage ich andere Namen. In Tschechien Christian Gerber. In Spanien Manuel Hertz. Und in den Niederlanden Miguel List.
Das war alles vor meiner Verhaftung im Jahr 2005.
Vieles veränderte sich an diesem Tag in Amsterdam, als ein niederländisches Arrestatieteam meine zwei Jahre andauernde Flucht beendet.
Und Namen spielen für die nächsten 9 Jahre und 8 Monate eine untergeordnete Rolle. Aus mir wird die Nummer 16/07. Einer von vielen.
Als Insasse in Deutschlands unbequemstem Hochsicherheitsgefängnis sollte ich meine Vergangenheit der vielen Namen vergessen. Hier in Bayern, in der JVA Straubing ticken die Uhren anders. Nicht nur Namen, auch Jahre verlieren hier an Bedeutung. Und ich füge mich in diese Maschinerie. Muss mich fügen, um nicht aufgerieben zu werden, und tausche meine vielen Namen gegen eine Nummer.
Ich werde also der Gefangene 16/07.
Als Gefangener, der was auf sich hält, schreibt man viel: Anträge, Beschwerden und Briefe.
Viele Briefe.
Briefe aus Liebe, Briefe aus Wut. Briefe aus Verbundenheit. Briefe aus der Not, aus Langweile, Briefe voller Hoffnung, Frust oder Humor.
Die meisten Gefangenen schreiben.
Schreiben ist ein fester Teil des Lebens in Haft.
Eines Tages bringt mich ein Beamter zum Arzt, und wir kommen am schwarzen Brett vorbei. Zwischen den Aushängen, die uns Gefangene etwa darüber informieren, dass unsere Anträge auf ein Digitalradio abgelehnt wurden oder dass während der nächsten acht Wochen kein Außensport stattfindet, hängt ein Aushang, der meinen Blick einfängt: Die Ausschreibung für den »Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene«.
Ich hatte in der Vergangenheit schon wiederholt gehört, dass es so etwas gebe, aber ich hatte meine Teilnahme bis dahin nicht in Erwägung gezogen.
Warum sollte sich jemand dafür interessieren, was ich schreibe?
Diesmal ist meine Situation jedoch eine andere, denn ich sitze seit einigen Wochen in Absonderungshaft. Wie alles hat diese Maßnahme, mit der das Personal und andere Gefangene vor mir geschützt werden sollen, eine Nummer: 19/3.
Wie alle Nummern in einem Gefängnis sagt sie nichts Wesentliches aus.
Und gleichzeitig alles.
Drei Monate lang soll ich von meinen Mitgefangenen abgesondert werden. Ich darf nicht mehr mit den anderen in den Hof, und auch jetzt werde ich allein zum Arzt gebracht.
Unter dem ungeduldigen Blick des Begleitbeamten bleibe ich kurz stehen und überfliege den Text.
In großen Buchstaben steht dort das Thema der diesjährigen Ausschreibung – »Einsamkeit«.
Ich weiß nicht mehr, was dort sonst noch stand, aber im Grunde werden alle Gefangenen, die Lust haben mitzumachen, aufgefordert, einen Text zum Thema Einsamkeit einzusenden. Ob Gedicht, Fließtext oder Haiku ist egal.
Erst auf dem Rückweg vom Arzt frage ich den Beamten, ob ich mir kurz die Adresse abschreiben kann, an die man den Text schicken soll.
Das Thema holt mich ab. Ich sitze nämlich von meinen Mitgefangenen abgesondert in einer Einzelzelle. Wer, wenn nicht ich, müsste da abliefern können. Das krieg ich hin, denk ich mir, und noch am selben Abend beginne ich zu schreiben.
Ich schreibe von Hand. Eine Short Story. Nur wenige Seiten. Ohne Intro. Direkt aus meinem Hirn durch mein Herz über meine Finger aufs Papier. Am nächsten Morgen gebe ich die paar Seiten in die Post.
Als Pseudonym wähle ich den Namen Maximilian Pollux.
Es ist seit vielen Jahren das erste Mal, das ich mir ein Pseudonym zulege. Die Geschichte heißt »Der Fixstern«, und ich mag die drei X.
Zu sagen, ich hätte mir keine Hoffnung auf den Sieg gemacht, wäre untertrieben. Ich habe darauf gehofft.
Aber die Wochen vergehen. Ich verlasse die Absonderung, werde auf einen anderen Gang in ein anderes Haus verlegt. Ich lebe mich ein und werde wieder zur Nummer 16/07. Bis eines Tages überraschend ein Brief in meine Zelle flattert.
Die Jury teilt mit, dass »Der Fixstern« zu den diesjährigen Preisträgern gehört!
Und ich weiß noch, dass ich meine Freude herausgrinse. Ich trommle mir auf die Brust und fühle mich für einen Moment, als hätte ich einen Boxkampf gewonnen.
Im Preis inbegriffen ist die Veröffentlichung der Geschichte in einer Anthologie, also einer Sammlung von Texten verschiedener Autoren. Und Leute, das war der erste von mir geschriebene Text, der jemals gedruckt und in einem Buch veröffentlicht wurde; und das man kaufen konnte.
Es war die erste Bestätigung, dass das, was ich schrieb, von den Juroren für gut befunden wurde, dass meine Art zu erzählen verstanden wurde. Dass ich nicht für mich alleine schreibe. Dass ich in all den Jahren im Knast das Feedback erhielt, etwas gut gemacht zu haben!
Einige Zeit zuvor hatte ich mit der Arbeit an einem Roman begonnen, und die Wertschätzung, die der »Fixstern« erfuhr, motivierte mich weiterzuschreiben. Denn wie jeden Autor hätte mich die Frage »Wer soll das denn lesen?« beinahe gekillt.
Ich weiß das, und kann deshalb heute sagen, dass diese Auszeichnung und noch viel mehr, das gedruckte Exemplar in den Händen zu halten, der Grund dafür ist, warum ich immer noch schreibe: während der verbleibenden Haftjahre hatte ich zwei Manuskripte fertig gestellt. Einen Roman und ein Kinderbuch. Das war alles, was ich mitnahm, als ich nach neun Jahren traumatisiert, entwurzelt und ziellos entlassen wurde.
Und obwohl es nicht viel war, war es am Ende genug, denn inzwischen wurden beide Texte als Bücher veröffentlicht.
Heute bin ich von Beruf Autor und Podcaster, und es gibt nichts, was mich stolzer macht als das Angebot, die Schirmherrschaft über eben jenen Literaturpreis zu übernehmen, ohne den es meine Karriere so nicht gegeben hätte.
Meine Frau Catherina und ich haben 2019 mit dem »SichtWaisen e. V.« einen Jugendhilfeträger gegründet, und wir arbeiten seither mit Jugendlichen, die mit einem oder bereits beiden Beinen im Knast standen, und dabei haben auch wir viel gelernt.
Wenn ich Jugendliche davon abhalten will, kriminell zu sein, wirkt es tausend Mal präventiver, ihnen Hoffnung zu geben, indem wir sie positiv bestärken, anstatt sie zu bestrafen.
Was mich überhaupt nicht zum Besseren verändert hat, waren die vielen Male, die ich zur Strafe und zur Abschreckung in Absonderung saß. Aber dieses eine Mal, als ich ein Gewinner war, als ich von außen gesehen und wertgeschätzt wurde, hat mein ganzes Leben zum Positiven verändert.
Das ist es, was den Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene so wertvoll macht.
Ich danke allen Beteiligten des Trägerkreises und der Jury, vor allem Professor Helmut Koch, der mit seiner jahrzehntelangen Arbeit so viele Leben berührt und bewegt hat. Ich glaube seine Leistung wird man erst in hundert Jahren wirklich anerkennen können, so weit ist er seiner Zeit voraus.
Mein ganz besonderer Dank gilt Hubertus Becker. Meinem Mentor, meiner Inspiration und meinem Freund, ohne den ich heute nicht hier sitzen würde. Er war schon 2011 Mitglied der Jury, die meinen Text gekürt hat. 2017 haben Helmut Koch und er mir dann dabei geholfen zum Rhein-Mosel-Verlag zu finden, und 2024 hatten sie die Idee, mir die Schirmherrschaft anzubieten.
Außerdem danke ich den Gefangenen, die die Courage hatten, ihre Gedanken zu Papier zu bringen und bei der Jury einzureichen. Euer Mut, mehr zu sein als eine Nummer, erweckt diese wunderbare Idee zum Leben. Ich hoffe, dieses Buch heute in den Händen zu halten, fühlt sich für euch so gut an, wie damals für mich »Gemeinsam einsam«.
Und um es mit Hubis Worten zu sagen – Wer diese Texte liest, leistet Widerstand.
So gilt mein Dank an euch, die im Trägerkreis und bei der Jury Engagierten, an jeden einzelnen Leser und Unterstützer.
Ohne Leser wären wir Schreiber nichts! Und jetzt, viel Spaß beim Eintauchen in den Bauch des Monsters.
Michael Eisenkopf »Koblenz von Damals bis Morgen«
Das Glockenschiff
In der Zeit der Corona-Quarantäne, in der sich so viel Zeit für Erledigungen bot, die sonst ungetan geblieben wären, hatte ich mich der Neuordnung meiner Bibliothek gewidmet. In einer edel gebundenen Ausgabe von Schillers Glocke, einem Buch meiner schon vor Jahrzehnten verstorbenen Mutter, fand ich einen angegilbten Brief. Unzweifelhaft trug er die Handschrift meines Vaters.
»Wie schade, Marie«, beginnt der Text, »da hatte ich doch wirklich eine Karte für die Uraufführung eines Theaterstücks am Freitag nächster Woche in den Kammerspielen erstehen können. ›Draußen vor der Tür‹ von Wolfgang Borchert, es soll großartig sein! Aber jetzt werde ich sie Karl schenken, meinem Freund Karl, dem ich sehr viel verdanke.«
Ich blickte auf den Briefumschlag. Der Stempel auf der 24 Reichs-Pfennig-Marke war noch immer gut lesbar: Postamt 2, 2 Hamburg, 10. November 1947. Ein dreiviertel Jahrhundert ist das jetzt her. Es müssen die Tage gewesen sein, in denen mein Vater nach seiner Entlassung aus englischer Gefangenschaft zwei Monate lang in einer Notunterkunft aus Wellblech auf dem Hamburger Heiligengeistfeld hauste und nach Wegen suchte, Geld für die Heimkehr nach Koblenz zusammenzubekommen.
Karl, das musste Onkel Karl sein! Ein bäriger, muskelbepackter und grundgütiger Mensch, den ich später so nannte, weil meine richtigen drei Onkel allesamt den Krieg nicht überlebt hatten. Onkel Karl wohnte im Schwarzwald, arbeitete in einem Sägewerk und betrieb nebenbei mit seiner Frau eine Familienpension in Bad Wildbad, wo wir in den fünfziger Jahren einige Male Urlaub machten.
Mein Vater und er, beide froh, Krieg, Nazizeit und Gefangenschaft entronnen zu sein, wurden beide im fast völlig zerstörten Hamburg der gleichen Nissenhütte zugeteilt, die sie sich mit weiteren achtzehn Menschen teilen mussten. 800 Kalorien am Tag wiesen ihre Lebensmittelkarten aus und Onkel Karl hatte, findig wie er war, bald für meinen Vater und sich selbst Arbeit bei einem Kohlehändler besorgt. Das Schleppen der mehr als vierzig Kilo schweren Brikettträger bis in oberste Stockwerke war hart, verdoppelte aber ihre Nahrungsration auf die doppelte Kalorienzahl und brachte zudem noch Geld in die Reisekasse für die Rückkehr nach Hause.
»Gestern Abend«, schrieb mein Vater weiter, »war ich mit Karl in einem der wenigen noch existierenden Kinos, den Bahrenfelder Lichtspielen. Dort haben wir uns Helmut Käutners beeindruckenden, aber auch bedrückenden Film ›In jenen Tagen‹ angesehen, in dem er ein Auto seine Geschichte in Nazi- und Kriegszeit erzählen lässt. Musst Du Dir ansehen, Marie! Wie viele Kinos sind in Koblenz eigentlich schon wiederaufgebaut?« Ich ließ den Brief sinken. Welch eine völlig andere, eine zerstörte Welt war das damals, in die mich diese Zeilen mit-
nahmen.
»Noch immer macht es mich glücklich, im Dunkel eines Kinos sitzen zu können, ohne befürchten zu müssen, dass plötzlich Fliegeralarm ist, das Licht angeht und alle Besucher in den Keller oder einen Bunker flüchten müssen. Aber all das ist nicht so wichtig wie das Gespräch, das in der Sitzreihe hinter uns geführt wurde, als wir auf den Beginn des Films warteten! Fast bin ich geneigt zu sagen, dass ich mein Glück kaum fassen kann. Aber wie Du weißt, habe ich nie an Zufälle geglaubt. Ich bin davon überzeugt, dass der Herr unser Leben lenkt. Wie sonst soll ich mir erklären, dass ausgerechnet wir vor dem Paar sitzen, das mir dazu verholfen hat, dass ich bald zu Dir nach Hause kommen werde!«
Oft hatte ich mich insgeheim über den tiefen Glauben meiner Eltern amüsiert, aber es ließ sich nicht leugnen, dass er ihnen viel Kraft gegeben hatte.
»Ja, Marie, bald ist es so weit«, fuhr mein Vater fort, »ich komme nach über drei Jahren in der Fremde wieder heim. Noch kann ich meine Freude nur schwer in Worte bringen, aber in drei Wochen bin ich bei Dir! Und weißt Du, wie? Friedrich, der Mann im Kino hinter Karl und mir, arbeitet im Hafen und erzählte beiläufig seiner Frau, dass sie händeringend einen erfahrenen Binnenschiffer suchen. Da habe ich mich umgedreht und gesagt: Ich bin einer!«
Vaters Beruf hatte ihn lange davor bewahrt, eingezogen zu werden. Als Binnenschiffer verrichtete er eine kriegswichtige Arbeit, schließlich wurden auf Rhein und Mosel Waffen und Lebensmittel transportiert. Dann aber war 1942 in seiner Abwesenheit die MS Rheingau, auf der er Kapitän gewesen war, bei einem Bombenangriff im Kölner Hafen versenkt worden und er musste doch noch zur Marine.
»Der Mann sah mich ungläubig an«, las ich weiter, »dann erzählte er mir, dass im Hafen ein Binnenschiff, die MS Marienburg liege, eigentlich ein Elbkahn. Die soll – halt Dich fest – am 17. November die Leinen losmachen, um nach Koblenz abzulegen. Nach Koblenz! Und als wäre das nicht schon unfassbar genug an göttlicher Fügung, setzt die Ladung des Schiffes allem noch die Krone auf. Weißt Du noch, wie die Glocken von St. Castor nach unserer Trauung läuteten, als wir auf den Platz vor der Kirche traten, der sonnenüberflutet war? Das werde ich nie vergessen.
Was frage ich, natürlich erinnerst Du Dich noch, sonst hättest Du mir nicht im Feldpostbrief geschildert, wie es Dich innerlich zerriss mitzuerleben, wie die Glocken unserer Kirche aus dem Turm geholt wurden, um für den furchtbaren Krieg zu Kanonen eingeschmolzen zu werden.«
Fast glaubte ich, meine Mutter vor mir zu sehen, wie sie in der Wohnküche des kleinen, vom Krieg verschont gebliebenen Hauses in Neuendorf am Küchentisch gesessen haben musste, als sie diesen Brief las. Bilder aus meiner Kindheit stiegen in mir auf, Bilder von Geburtstagsfeiern, auf denen er immer wieder gebeten wurde, seine Geschichte vom Glockenschiff zu erzählen.
»Und jetzt das nächste Wunder: Die Glocken wurden am Rande des Hamburger Hafens gelagert, aber es kam Gott sei Dank nie dazu, dass sie vernichtet wurden. So vieles ist in diesem verfluchten (entschuldige meine derbe Ausdrucksweise) Krieg unwiederbringlich zerstört worden, der Herr aber hat seine Glocken beschützt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ich konnte auf der Marienburg anheuern. Dort wird es unter Deck warm sein, drei Mahlzeiten soll es täglich geben und am Ende sogar eine kleine Heuer. Wir werden insgesamt 287 Glocken aus dem Bistum Trier zur Koblenzer Moselwerft bringen, damit sie von dort in ihre Kirchen zurückgebracht werden können.«
Sein Brief strahlte ein derart großes Glücksgefühl aus, dass auch nach all diesen Jahren noch leuchtete.
»Karl wird mir die Abreise verzeihen, er ist zuversichtlich, nach weiteren sechs Wochen bei Kohlenhändler Franzen genug verdient zu haben, um ebenfalls nach Hause reisen zu können. Jetzt hoffe ich nur, Marie, nein, ich wünsche es mir sehr, dass Du in der Wäscherei einen freien Tag bekommst und mich am vierten Dezember, das ist ein Donnerstag, in Lützel in Empfang nehmen kannst.«
Ich faltete den Brief zusammen, legte ihn sorgsam zurück ins Buch und stellte es zurück ins Regal zu den anderen Schiller-Ausgaben.
Auch dieser Brief meines Vaters hatte geendet, wie ich es von jeder seiner Postkarten und Briefe kannte. Mit einem zuversichtlichen: Alles wird gut.
»Katharina oder Das verschlossene Herz« von Heidemarie Schumacher
1
Als Katharina Lorette Lovisa von Hirschbach-Mayenfeld das Dunkel der mütterlichen Kemenate erblickte, ging ein Gewitter über die Burg. Es donnerte ungeheuerlich und Blitz auf Blitz fuhr am nördlichen Himmel nieder.
Die Wächter auf den Wehrgängen zuckten zurück als seien Feinde im Ansturm, die Mägde, vor allem die jungen, sanken auf die Knie und beteten laut heulend zum heiligen Chrysostomus, dem Schutzpatron gegen Brand, Eiterbeulen und faules Stroh. Der Wind spielte den Eichen am Burgberg übel mit, so dass sie sich mit ihren Wurzeln ächzend in die Hänge krallten. Und kein Tropfen Regen fiel.
Die ersten Schreie des Kindes gingen unter in Getöse und Durcheinander. Nach einer Phase unheilvoller Ruhe hatten Blitze die Szene grell erleuchtet, und einer von ihnen war im Ostteil der Burg eingeschlagen. Mit ohrenbetäubendem Krach ging der Donner über den Wehrturm hinweg, hallte im Burghof wider und grollte noch lange nach.
An allen Ecken und Enden setzte lautes Wehklagen ein: Der himmlische Feuerzacken hatte das Heu in Brand gesetzt, von dem das Vieh im Winter fressen sollte. Knechte, Wächter und Mägde liefen durcheinander und schleppten in Bottichen, Krügen, ja im Nachtgeschirr und in Helmen das Wasser heran, um dem gierig lodernden Feind Herr zu werden. Einige Männer versuchten es auf natürlichem Wege, indem sie sich vom hölzernen Boden hinab in die Flammen entleerten.
So ging es die halbe Nacht. Dann erbarmte sich der Himmel und schickte schwere Regengüsse, und gegen Morgen endlich konnte man mit vereinter Hilfe, den Heiligen Florian und Laurentius sei Dank, dem Feuer ein Ende bereiten.
Natürlich waren in diesen Stunden die Wöchnerin und das Kind Katharina vergessen. Die Wehfrau wartete vergeblich auf heißes Wasser. Für die erste Waschung stand nur das Regenwasser zur Verfügung, das zwei Mägde eilig holten, bevor andere es zur Brandstelle schleppten. Tagsüber hatte es gefroren und sie hatten es unter einer dünnen Eisdecke aus dem Bottich im Hof geschöpft.
Unten im Dorf witzelte man später, wenn Katharinas Rotschopf am Burgberg aufleuchtete, der gewaltige Blitz sei ihr bei der Geburt in die Haare gefahren.
»Dat Jöngste vom Jraaf, ne jlöhnije Fuss«, das jüngste Grafenkind ein glühender Fuchs, hieß es bei den Bauern. Oben auf der Burg erzählten sich die Kammerfrauen am Feuer, dass dieses Fanal der ersten Stunden das Mädchen gefeit hatte gegen Unwetter aller Art, gegen eiskaltes Wasser und beißenden Rauch. Denn Katharina wurde ein kräftiges Kind, zäh, geduldig und mit einem starken Willen versehen.
Der Vater des Mädchens, Hubertus von Hirschbach, kehrte erst Tage später in sein steinern-luftiges Heim zurück. Während der Niederkünfte seiner Gemahlin hielt er sich gewöhnlich bei einem seiner Brüder auf den Nachbarburgen auf. Nur die Geburt seines ersten Kindes hatte der Graf miterlebt. Die Gräfin hatte sehr gelitten und war gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen. Radegunds spitze Schreie, die, wenn sie verstummten, nur Schlimmeres ankündigten, ein dumpfes Grunzen, als säße der Teufel auf ihr, dieser Wechsel von hohen Tönen und solchen, die der Graf nur von der Hirschbrunft kannte, verfolgten ihn seitdem. Von da an ging er jedes Mal, wenn sich Radegunds Bauch wieder rundete, auf Reisen.
Als er jetzt auf der Burg eintraf, inspizierte er, kaum dass er abgesessen und die Zügel einem Knecht zugeworfen hatte, als Erstes die Brandstelle. Die neugeborene Katharina war das Letzte, was er sehen wollte. Sein Wunsch nach einem Stammhalter sollte sich erst zwei Jahre später erfüllen. Bisher hatte ihm Radegund sechs Töchter geboren und nun noch Katharina Lorette.
Am frühen Morgen erschien die mächtige Nähramme, die seit Tagen mit ihrem jüngsten Sohn in der Burgküche hauste, um dort auf die Niederkunft der hohen Frau zu warten. An ihr hatten schon die Vettern der Nachbarburg gesogen und auch Katharinas Schwestern Birgitta und Mechtildis hatte sie mit ihrer Milch ins Leben verholfen. Bei Katharina schien es zunächst, als habe das Kind es sich anders überlegt. Der heftige Regen, der kurz nach ihrer Geburt einsetzte, hatte so steil über der Esse gestanden, dass er beißende Rauchschwaden ins Zimmer trieb und Säugling und Mutter um den Atem brachte.
Nach anfänglichem Schreien war Katharina immer mehr verstummt. Nach einer Weile zeigte sie kaum noch Lebenszeichen, und plötzlich schien sie nicht mehr zu atmen. Man fürchtete, der Rauch habe ihr den Garaus gemacht. Die riesige Amme blieb gelassen. Sie besah sich den Säugling, packte ihn entschlossen an den Beinen und hielt ihn mit dem Kopf nach unten. Der Kopf wurde erst blau, dann rot, dann wieder weiß. Als er weiße Farbe annahm, hob die Amme das Kind hoch und es öffnete seine Augen, Augen von einem seltsamen Blau, wie man es auf der Burg bisher noch nicht gesehen hatte. Die älteren Schwestern hatten allesamt braune Augen, haselnussbraun, wie der Burgherr. Die alte Kammerfrau dachte für einen Augenblick an die Farbe, die Kornblumen annehmen, ein paar Tage, nachdem man sie gepflückt hat. (Meeresblau, an einem Frühsommermorgen, konnte sie nicht denken, denn das Meer hatte sie noch nicht gesehen). Ihr Gedanke wurde von einem leisen Fiepen unterbrochen, das sich bald zu einem hohen Krähen steigerte.
»Es atmet wieder«, dachte die Kammerfrau erleichtert. Das Köpfchen des Kindes mit den erstaunlichen Augen war bedeckt mit rostrotem Flaum. Wie manche Laubblätter, wenn der Herbst sich neigt, dachte die alte Kammerfrau. Dann raffte sie ihre Röcke und lief die steinerne Wendeltreppe hinunter, so schnell ihr vorgeschrittenes Alter es erlaubte, um der Herrin die frohe Kunde zu bringen.
Die Mutter, Gräfin Radegund, war nach der Geburt in eine Ohnmacht gefallen und man hatte ihren mageren Körper in eines der besser durchlüfteten Turmzimmer getragen. Dort lag sie apathisch auf dem großen Spannbett und wünschte sich weit weg. Es war bereits ihre siebte Niederkunft und sie war verständlicherweise nicht mehr so neugierig auf den Säugling wie bei den älteren Kindern. Beim Eintreten der Alten wandte sie den Kopf nur leicht nach links und schaute die Kammerfrau fragend an. Als diese die Augen zu Boden senkte, wusste Radegund, dass sich der ersehnte Stammhalter noch immer nicht eingestellt hatte und ihr Gatte sie folglich weiter belästigen würde. Einen Moment lang meinte sie den Geruch von Gebrautem zu riechen, den der Graf verströmte, wenn er ihr nahe kam. Augenblicklich musste sie sich übergeben. Die Kammerfrau kam noch rechtzeitig hinzu, um der Herrin die verschränkten Hände als Speikübel hinzuhalten. Auf der Burg gab man nicht viel auf Unpässlichkeit und die Alte erzählte ihrer würgenden Herrin ungerührt, dass das Neugeborene nun doch zum Atmen gekommen sei.
Als die Gräfin von der Haarfarbe hörte, merkte sie ein wenig auf, erhob sich, auf ihre Ellbogen gestützt, matt von der Bettstatt, um gleich wieder zurückzusinken. Kraftlos schlug sie ein Kreuz über der Brust und sprach, die vom Rauch entzündeten Augen zur Decke gerichtet, das Kind komme nach ihrer Großtante Ludovisa. Sie hoffe, es werde nicht ebenfalls so fuchsig rot. Dann fiel sie in einen dreitägigen Schlaf.
Inzwischen hatte die Amme ihr grob gewebtes Gewand geöffnet und den Säugling an eine der großen Brüste gelegt, aus denen hell und klar die Milch tropfte. Das Neugeborene schlug sekundenlang die blauen Augen auf, drehte den Kopf in Richtung des duftenden Zapfens, trank auf der Stelle und außerordentlich gierig. Die Amme, der die beiden oberen Schneidezähne fehlten, lächelte breit. Dann schnalzte sie vernehmlich durch die Lücke ihres Gebisses, das die Kammerfrau für einen Augenblick an einen schadhaften Lattenzaun im Burggarten erinnerte. Dann – so ging die spätere Rede – soll die Amme gesagt haben: »Das ist ungewöhnlich. Sie ist schneller als die jungen Grafen. Man braucht es ihr gar nicht zu zeigen. Das sind Kinder, die neugierig werden und sich einmal nehmen, was sie wollen!«
Katharina konnte, als sie älter wurde, diese Geschichte, die ihr wechselweise von der Mutter, den älteren Schwestern und der alten Kammerfrau erzählt wurde, nicht oft genug hören. Als sie heranwuchs, entwickelte sie jedoch Zweifel an der Geschichte, vor allem daran, dass die Amme so gesprochen hatte, denn sie wusste, dass sie diese Rede gar nicht hätte führen können. Eine Frau aus dem Volk sprach fast nie in ganzen Sätzen und sie benutzte auch andere Worte. Anderlin jedenfalls, der Sohn der Amme, sprach nicht so.
Die Amme hatte seinerzeit ihren zweijährigen Sohn mit auf die Burg gebracht. Anderlins anhaltender Durst brachte Katharina als Kleinkind in den Genuss stets voller Brüste, und mit den Jahren wurde der Sohn der Amme ihr Gefährte bei aufschlussreichen Entdeckungen außerhalb der Burgmauern und Vermittler einer notdürftigen Aufklärung über den Unterschied der Geschlechter. Bis dahin saß die kleine Katharina Lorette Lovisa, solange sie trank, und sie trank bis ins dritte Lebensjahr, in der Burgküche auf der Amme rechtem Bein, das so breit wie ein gefällter Baumstamm war. Auf dem anderen saß Anderlin, ihr Milchbruder, während die Frau, die außer diesen Beinen auch bemerkenswert starke Arme ihr Eigen nannte, Bohnen oder Erbsen pellte, Rüben, Äpfel oder Birnen schälte oder Kohl für den Winter kleinschnitt. Die Kinder krochen dann zu ihren Füßen, die im Sommer nackt und im Winter mit grobem Sackleinen umwickelt waren, auf dem Boden herum.
Als Katharina mehr und mehr den Apfelschalen den Vorzug vor der Brust gab, versiegte der Brunnen und Anderlin und sie bekamen Ziegenmilch, von der kleinen Herde, die in einem Pferch im Burggarten lebte. Und als die Amme keine Kinder mehr bekam und ihre Milch für das jüngste Grafenkind – zur Freude des Burggrafen waren Katharina noch zwei Brüder gefolgt – nicht mehr floss, musste sie die Burg verlassen. Sie packte ihr Bündel, warf es sich über die Schulter und schritt wie ein Mann durchs Tor. Anderlin und Katharina begleiteten sie bis zur Einfahrt und sahen der hohen Gestalt nach, wie sie auf dem gewundenen Weg den Burgberg hinunter schritt. Langsam und würdevoll, wobei ihre großen Brüste bei jedem Schritt sacht unter dem groben Gewand schaukelten. Sie würde von nun an bei den Hintersassen des Grafen am Fuß des Burgbergs leben. Anderlins Vater, ein wandernder Knecht aus dem Rheintal, war schon lange tot. Die Amme kam bei einem Bauern unter. Er wies ihr einen Platz bei den Kühen an, die sie von nun an zu füttern und zu melken hatte. Im Frühjahr half sie beim Pflügen. Die Kinder sahen von oben, wenn sie zwischen den Zinnen hockten, ihre weißen Arme in der Sonne leuchten.
»Der Prälat« von Marcel Bauer
Seit Menschengedenken lebte die Familie Lohse in Kummersdorf, einem Weiler unweit von Schmalhausen in der Eifel. Seit dem frühen Tod des Konrad Lohse bewirtschafteten die beiden Söhne Oswald und Joseph gemeinsam den Hof. Im März 1942 wurde Joseph Lohse zur Wehrmacht eingezogen. Er kam in Russland zum Einsatz. Sein jüngerer Bruder Oswald, Vater von fünf Kindern, blieb bis in die letzten Kriegstage vom Wehrdienst verschont.
Die Großfamilie Lohse lebte von der Milchwirtschaft und der Viehzucht. Seit Ausbruch des Krieges war man jedoch dazu übergegangen, Rüben, Raps, Klee und vor allem Kartoffeln anzubauen.
Die Familie besaß zwölf Kühe und einige Kälber. Nachdem eines Nachts eine Kuh auf der Weide gestohlen und eine andere auf offenem Feld geschlachtet worden war, trieben die Lohses in der Furcht vor Viehdieben ihre Tiere nachts in die Stallungen.
Regelmäßig besuchten Veterinäre des Reichsernährungsamtes den Hof, um sicherzustellen, dass dort keine Schwarzschlachtungen vorgenommen wurden. Nachdem das Reichsministerium für Ernährung 1943 angeordnet hatte, bei allen Bauern die Mastschweine zu requirieren, um die Front mit frischem Fleisch zu versorgen und den Schwarzmarkt zu unterbinden, wurde es in der Küche der Lohses knapp. Zum Glück hatte die Großmutter vorgesorgt und große Mengen Schweinefleisch, als dieses noch vorrätig war, eingemacht. An hohen Festtagen opferte die Bäuerin schon einmal ein Kaninchen oder ein Huhn.
In den Kriegsjahren kamen im Landkreis Schleiden, zu dem Schmalhausen gehörte, wegen der Einberufung aller wehrtüchtigen Männer zweitausendachthundert »Fremdarbeiter« zum Einsatz. Als Betreiber eines »kriegswichtigen Betriebes« wurden den Lohses vom Arbeitsamt zwei ukrainische Ostarbeiterinnen zugeteilt.
Oswald Lohse hatte den Frauen in der Scheune eine Kammer hergerichtet, wo sie sich nach getaner Arbeit im Stall oder auf den Feldern zurückziehen konnten. Ansonsten wurden sie wie Familienmitglieder behandelt: Sie aßen mittags und abends am selben Tisch und besuchten mit ihren »Gastgebern« am Sonntag unbekümmert die Messe im Dorf, obwohl ihnen das böse Bemerkungen von Seiten anderer Kirchgänger einbrachte.
Die Familie besaß sowieso einen zweifelhaften Ruf, weil Konrad Lohse zur Zeit der Weimarer Republik Mitglied der Deutschen Zentrumspartei gewesen war und aus seinen christlichen Überzeugungen und seiner Abneigung gegen die Nazis nie einen Hehl gemacht hatte. Dass seine Familie ähnlich kritisch eingestellt war, zeigte sich, als man seiner Schwiegertochter nach der Geburt ihres sechsten Kindes das Mutterkreuz in Silber verleihen wollte, was diese ablehnte, obwohl damit handfeste finanzielle Vergünstigungen verbunden waren.
Joseph Lohse und seine Frau Margarete hatten zwei Töchter: Während Erika, das ältere der beiden Mädchen, lebenslustig, aufgeweckt und ehrgeizig war, war die jüngere Schwester eher still und zurückhaltend. Im Herbst 1942 erreichte die Familie die Nachricht, dass Joseph Lohse für »Führer, Volk und Vaterland« in Russland gefallen war.
Angesichts der Rückschläge an der Front bemühten sich die Nationalsozialisten, die Heimat auf den Kurs des totalen Krieges, den sie ausgerufen hatten, einzuschwören. Dazu gehörte eine verstärkte Indoktrination. Schon zu Beginn des Dritten Reiches waren der Religionsunterricht und die christlichen Kreuze aus den Schulen verbannt, das Singen religiöser Lieder vor Beginn des Unterrichts untersagt worden. Das Alte Testament und der Katechismus wurden vom Lehrplan gestrichen. Im Kampf gegen die sogenannte Priesterherrschaft wurde ab 1937 die Erteilung des Religionsunterrichts in den Schulen grundsätzlich verboten.
Von da an versammelte Arnold Huscheid, der Pfarrer von Schmalhausen, sonntags nach dem Hochamt eine kleine Gruppe Kinder um sich, um mit ihnen im Pfarrhaus den Katechismus durchzunehmen. Zu den wenigen, die die Courage aufbrachten, sich öffentlich zur katholischen Kirche zu bekennen und ihre Sprösslinge in die Sonntagsschule zu schicken, gehörten auch die Lohses.
Huscheid war ein Mann der alten Schule: die Kinder hatten die Glaubenssätze nicht zu hinterfragen, sondern anzunehmen. Die einzelnen Artikel mussten auswendig gelernt und fehlerlos heruntergeleiert werden. Wer seine Lektion nicht oder schlecht gelernt hatte, wurde zu saftigen Strafen verdonnert, die meist darin bestanden, seitenlang Glaubensartikel abzuschreiben.
Während Erika problemlos alle wichtigen Artikel des Glaubensbekenntnisses heruntersagen konnte, tat sich ihre jüngere Schwester beim Abfragen schwer. Dafür wurde sie wiederholt vom Pfarrer gemaßregelt. Einmal bekam sie sogar den Rohrstock zu spüren.
Bis zur vierten Klasse besuchten beide Mädchen die Grundschule in Schmalhausen, danach wechselten sie an die Oberschule in Schleiden. Während Erika Klassenbeste war und bei Mitschülern und Lehrern beliebt war, blieben die Schulleistungen ihrer Schwester mäßig. Nach der Mittleren Reife musste sie die Schule abbrechen, um der Mutter und der kinderreichen Schwägerin im Haushalt zu helfen.
Als Erika im Sommer 1942 ihr Abitur machte, stellte sich ihr die Frage, welchen Berufsweg sie einschlagen sollte. Sie verspürte wenig Lust – ähnlich wie die meisten Mädchen ihres Jahrgangs – irgendwelche Büroarbeit in einem Rüstungsbetrieb zu übernehmen. Als sie in der Tageszeitung, die ihre Mutter und ihr Onkel gemeinsam bezogen, eine Anzeige las, dass der Eifelbote für seine Zentralredaktion in Düren einen Journalisten mit Abitur suche – wobei ausdrücklich erwähnt wurde, dass auch weibliche Bewerbungen willkommen seien – bewarb sie sich, ohne ihre Mutter um Erlaubnis zu fragen.
Schon wenige Tage später erhielt Erika eine Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Die Mutter war darüber sehr erbost, weil sie meinte, für ein Mädchen aus einem guten katholischen Haus schicke es sich nicht, in einem Betrieb zu arbeiten, der damit befasst sei, NS-Lügen zu verbreiten. Erika erwiderte, in der Lokalredaktion des Eifelboten bleibe sie von der großen Politik verschont: ihre Aufgabe sei es, die örtlichen Vereine zu betreuen und Lokalnachrichten zu verfassen.
Das Vorstellungsgespräch endete mit einer Anstellung als Volontärin. Man hatte der Bewerberin zwar mitgeteilt, dass man es vorgezogen hätte, einen jungen Mann zu engagieren, aber wegen des Krieges sei das derzeit unmöglich.
Die Redaktion des Eifelboten bestand aus sieben älteren Männern. Neben Erika Lohse gab es noch eine weitere weibliche Journalistin: Lisbeth Grote, zu deren Hauptaufgaben das Kaffeekochen und die Gestaltung der Todesanzeigen auf den hinteren Seiten des Blattes gehörten.
Auf Empfehlung von Pfarrer Huscheid, der ihr ein vorteilhaftes Führungszeugnis ausgestellt hatte, bezog Erika Lohse ein Zimmer im Dürener Kolpinghaus, das über einige Gästezimmer verfügte.
In der Redaktion fühlte sie sich gut aufgehoben. Es gefiel ihr, mit erfahrenen Kollegen, von denen einige eine lange Erfahrung in der Publizistik besaßen, über die Weltlage zu philosophieren und sich deren Geschichten anzuhören, wie es gewesen war, als man noch Journalismus betreiben konnte, ohne von der Partei ständig beaufsichtigt und gemaßregelt zu werden.
Erika drängte ständig darauf, aus dem engen Raster, den man ihr auferlegt hatte, auszubrechen und »richtigen« Journalismus zu praktizieren, aber der Schriftleiter Dr. Mattar, der früher Lehrer an einem Gymnasium gewesen war, bevor er in den Ruhestand trat und in die Redaktion wechselte, wusste das zu verhindern. Er wolle keine unnötigen Scherereien mit dem Kreisleiter der NSDAP, lautete seine Erklärung, die er gebetsmühlenartig wiederholte.
Leseprobe »HUGO – Die wilden Jahre einer Biker- und Rennsportlegende«
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Leseprobe »Das Geheimnis der klingenden Messer«
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Leseprobe »Wer erschossen wird, ist selber schuld!«
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